· 8 years ago · Dec 15, 2016, 08:18 PM
1 Kapitel 3
2 Die Entwicklung der jüdischen Berufsstruktur und der sozialen
3 Schichtung im 19. Jahrhundert
4 3.1 Die Ausgangssituation der jüdischen gruppenspezifischen Berufsstruktur in den beiden Kreisen Rahden und Halle nach 1815
5 Die Tatsache, dass die überwiegende Zahl der im Erwerbsleben stehenden männlichen Juden im Untersuchungsgebiet nach 1815 weiterhin als Handels- und Kaufleute in der agrarisch geprägten Wirtschaftsverfassung tätig waren und eben nicht als Bauern, Handwerker oder gar als mit hoheitlichen Rechten ausgestattete Beamte, hatte seine geschichtlichen und rechtlichen Gründe. Erstens wurden nach den Bestimmungen des so genannten Edikt?es? betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischen Staate vom 11.3.1812 nur diejenigen Juden „für Einländer und preußische Staatsbürger“ erklärt, die schon zuvor mit Schutzbriefen und Konzessionen versehen worden waren. Zweitens hatten die Bestimmungen des Ediktes nach Beendigung der so genannten Befreiungskriege „in den neuen und wieder erworbenen Gebieten“ keine Geltung mehr, vielmehr ordnete das preußische Innenministerium an, die Juden ‚in eben der Lage ?zu? belassen, in welcher sie bei der Okkupation angetroffen waren.‘1 Diese Bestimmung wurde am 8.8.1830 per Kabinettsorder wiederholt.
6 Die Juden in den Gemeinden des Kreises Rahden/Lübbecke, die von 1807-1813 im Königreich Westfalen unter Jérôme Bonaparte am 15.11.1807 den christlichen Bürgern gleichgestellt worden waren, genossen zwar weiterhin das Staatsbürgerrecht, ohne jedoch politische Rechte ausüben zu dürfen.2
7 Das bedeutete z.B. für die jüdischen Bürger der Kreisstadt Lübbecke, dass sie nicht früher als nach der Einführung der Westfälischen Landgemeindeordnung für Kleinstädte mit 2.500 Einwohnern und mehr (1843) zu den Stadtverordnetenwahlen zugelassen wurden und unter bestimmten Qualifikationsvoraussetzungen selbst zu Stadtverordneten gewählt werden konnten.3 Und drittens schließlich wurde die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit für inländische jüdische Staatsbürger erst mit dem Gesetz über die Verhältnisse der Juden in Preußen vom 23.7.1847 erweitert, die relative Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, die das Edikt vom 11.3.1812 den Juden eröffnete, jedoch durch die konservative preußische Innenpolitik seit den 1820er Jahren immer mehr zurückgenommen. Maßgebend z.B. für die Zustimmung zur Niederlassung eines aus Kornik im Großherzogtum Posen stammenden Lehrers im Jahre 1839 in der Stadt Werther war nicht das Innenministerium, sondern die Ortsbehörde. Seit 1833 wurde es den bisher als Schutzjuden eingestuften Juden aus Posen unter bestimmten Bedingungen ermöglicht, in andere preußische
8 1 Zitiert nach Herzig, Arno: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973, S. 17 2 Vgl. Herzig (1973), S. 18; vgl. Zassenhaus, S. 50
9 3 Vgl. Beckmann, Volker: Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lübbecke 1830-1945. Lübbecke 1993, S. 19
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11 Provinzen zu reisen.4 Als sich die jüdische Gemeinde Werther weigerte, ihren vertraglich
12 angestellten Lehrer Baruch Alge Elson fest einzustellen und die Ortsbehörde vermutete, dass der Lehrer zu den schon am Ort niedergelassenen jüdischen Händlern stoßen würde, verweigerten sie dem Lehrer das Recht auf weiteren Aufenthalt, der über die Dauer des vereinbarten Vertrages hinausgegangen wäre.5
13 Auch die Gewerbefreiheit für Juden wurde vom preußischen Innenministerium in den 1820er Jahren eingeschränkt. So durften sie keine Apotheker, Feldmesser, Auktionatoren oder Scharfrichter werden und ebenfalls keine hoheitlichen oder ehrenamtlichen Funktionen wie die eines Bürgermeisters, eines Offiziers oder Geschworenen ausüben.6 Tatsächlich wurde im Kreis Halle i.W. erst Anfang der 1860er Jahre der erste jüdische Mitbürger von Werther als schöffenbar vom Amtsbürgermeister eingeschätzt, und jüdische Auktionatoren finden wir nicht früher als in den 1880er Jahren in Versmold und Lübbecke.7
14 Neben rechtlichen Beschränkungen der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit für Juden waren es auch soziale und mentale Hemnisse, die verhinderten, dass Juden in größerer Zahl ein Handwerk ergriffen. Vor Gründung des Vereins zur Beförderung von Handwerken unter den Juden im Jahre 1825 in Minden waren es gesellschaftliche, nichtjüdische Ursachen wie ein „Mangel an Bürgerlichkeit, der Druck, unter dem der Jude überhaupt früher lebte“, als auch jüdische Voraussetzungen wie die „Verschiedenheit der Religion“, „eine gewisse Arbeitsscheu“, Armut und Berufsdünkel, die zur Erklärung herangezogen wurden, warum Juden sich scheuten, ein Handwerk zu erlernen.8
15 Nachfolgend sollen die Berufe und wirtschaftlichen Funktionen der Juden in den einzelnen Gemeinden des Untersuchungsgebietes beschrieben und der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die jüdischen Berufsstrukturen schon im Vormärz in marktwirtschaftlicher Hinsicht wandelten und von der allgemeinen Berufsstruktur unterschieden.
16 3.2 Die Entwicklung der Berufsstruktur und der sozialen Schichtung in den jüdischen Gemeinden des Kreises Rahden/Lübbecke im 19. Jahrhundert
17 Während sich die nichtjüdische Erwerbsbevölkerung auf dem Land in erster Linie von Ackerbau und Viehzucht ernährte und die Heuerlinge im familienwirtschaftlichen, protoindustriellen Nebenerwerb Flachsgarn verspannen und Löwendleinen webten, überrascht es nicht, dass die 4 Vgl. Brammer, Annegret H.: Judenpolitik und Gesetzgebung in Preußen 1812-1847 mit einem Ausblick auf das Gleichberechtigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869. Berlin 1987, S. 119 5 Vgl. Beckmann, Volker: Juden in Werther (Westf.). Sozialgeschichte einer Minderheit im 19. und 20. Jahrhundert. Werther 1998, S. 55
18 6 Vgl. Determann, Andreas et al.: Deutsche Juden und ihr Beitrag zur deutschen Kultur. (Begleittext der gleichnamigen Ausstellung veranstaltet von der Volkshochschule Münster und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Münster 1985. Unpaginiert) Münster o.J.
19 7 Vgl. KAGt, LR1 31/6 (Geschworenen-Urlisten); Beckmann (1993), S. 66; StdtA Versmold, A Nr. 864 8 Vgl. Erster Bericht über den Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden vom 19.10.1826 von Dr. Heilbronn. Minden , S. 7
20 66
21 jüdischen Händler und Kaufleute, die sich vorwiegend in den Kleinstädten niedergelassen hatten, mit Leinentuchen und Meterware en gros und en detail handelten, indem sie die Leggen des Kreises besuchten und die Leinenware aufkauften, bevor sie sie wieder verkauften. Noch am 3.12.1867 waren 79,6% der Erwerbsbevölkerung des Kreises Lübbecke im ersten Sektor (Landwirtschaft, Viehzucht und Gartenbau) beschäftigt, 13,3% in der Industrie, 1,5% im Handel und im Bankgeschäft, 0,4% im Verkehr und 1,2% der Erwerbstätigen boten persönliche Dienstleistungen an.1
22 Die Unterschiede zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Berufsstruktur im Regierungsbezirk Minden verdeutlicht eine Statistik aus dem Jahre 1861, nach der nur 0,7% der jüdischen Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft als Eigentümer oder Pächter beschäftigt waren im Vergleich zu 72% der nichtjüdischen Erwerbsbevölkerung. Im Handwerk und in der Industrie waren 14,1% der Juden gegenüber 21,4% der Nichtjuden beschäftigt. Noch eklatanter fiel der Unterschied in der Erwerbstätigkeit im Handelssektor aus, wo 68,4% der Juden, aber nur 1,2% der Nichtjuden arbeiteten.2
23 3.2.1 Lübbecke
24 Auch auf der Ebene der einzelnen jüdischen Gemeinden lässt sich die Dominanz der Beschäftigung im Handelssektor nachweisen. So gab es in der Kreisstadt Lübbecke im Jahre 1824 unter den 13 jüdischen Erwerbstätigen nicht weniger als 8 Personen (61,5%), die als Kauf- oder Handelsleute aus ihren eigenen Ladengeschäften oder ambulant mit Ellenwaren, d.h. mit Tuchen als Meterware, darunter auch einer mit Galanteriewaren (Modewaren), handelten. Außerdem lebten und arbeiteten hier noch ein Pferdehändler, ein Schlachtergehilfe und zwei Personen, ein Mann und eine Frau, die von der jüdischen Gemeinde finanziell unterstützt wurden.1 Sechs der
25 dreizehn Erwerbstätigen (46,2%) besaßen ein ‚mutmaßliches Vermögen‘ von 5.000-10.000 Reichstalern (rtl), drei (23%) weitere Vermögen im Werte von 1.000-500 rtl, und die beiden unterstützungsbedürftigen Armen (15,4%) lebten ohne irgendein Vermögen von der Hand in den Mund. Acht jüdische Bürger besaßen Häuser, sechs darunter mit Gärten, während die restlichen fünf jüdischen Erwerbstätigen zur Miete wohnten. Im Jahre 1817 hatten in Lübbecke zwölf jüdische Familien - darunter sieben Hauseigentümer und fünf Mieter - gelebt.2
26 Eine Grund- und Gebäudesteuerauflistung aus dem Jahre 1832 zeigt, dass alle sieben verzeichneten jüdischen Bürger von Lübbecke Grundgüter und Gebäude besaßen. Abhängig vom 1 Vgl. Kammeier, Heinz-Ulrich: Deutsche Amerikaauswanderer aus dem Altkreis Lübbecke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Münster 1989, 2. Aufl., S. 36, Tabelle 4
27 2 Vgl. Preußische Statistik, Bd. V. Die Ergebnisse der Volkszählung und Volksbeschreibung nach den Aufnahmen vom 3. Dezember 1861 resp. Anfang 1862. Berlin 1864, S. 53-59
28 1 Vgl. Zassenhaus, Dieter: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde Lübbecke. Vom Spätmittelalter bis ins frühe 19. Jahrhundert. Lübbecke 1988, S. 80f
29 2 Vgl. ebd.; vgl. oben Tabelle 1
30 67
31 Reinertrag ihrer Grundgüter und Gebäude lässt sich folgende Vermögensschichtung aus ihren Grundsteuerzahlungen aufstellen:
32 Tabelle 27: Grundsteuerzahlungen jüdischer Bürger von Lübbecke für das Jahr 1832 3 Name Hausnummer Beruf Grundsteuerbetrag
33 rtl Sgr d
34 1. Bendix Boas 66 Tuchhändler 8 6 11
35 2. Joseph Mergentheimer 7 Tuchhändler 5 15 1
36 3. Enoch Rosenberg 22 Tuchhändler 3 11 9
37 4. Abraham Münstermeyer 205 Schlachter 3 10 9
38 5. Lazarus Mergentheimer 51 Tuchhändler 3 9 2
39 6. Abraham Hecht 54 Tuchhändler 2 1 1
40 7. Nathan Rosenberg 175 Tuchhändler 1 11 11
41 Eine Aufstellung aus dem Jahre 1835, die nach Grundvermögen und Gewerbeeinkommen differenziert, zeigt eine im wesentlichen unveränderte Berufsstruktur bestehend aus sieben Kaufleuten und einem Fleischer mit Grundvermögen sowie einem Goldschmied, einem Klempner und zwei ambulant tätigen Handelsleuten ohne Grundvermögen. Neben dem wohlhabendsten Kaufmann Bendix Boas mit einem Grundvermögen im Werte von 3.512 rtl und einem Gewerbeeinkommen von 1.750 rtl p.a. gehörte die Mehrheit der jüdischen Erwerbstätigen (66,7%) der Mittelschicht an mit einem Grundvermögen zwischen 992-3.019 rtl und einem Gewerbeeinkommen von 550-750 rtl. Die Unterschicht (33,3%) ohne Grundvermögen erwirtschaftete ein jährliches Gewerbeeinkommen von 75-250 rtl.4
42 Tabelle 28: Grundvermögen und Gewerbeeinkommen der jüdischen
43 Haushaltsvorstände von Lübbecke für 1835
44 Name Hausnummer
45 Beruf Grundvermögen
46 in rtl
47 Jährliches Gewerbeeinkommen
48 in rtl
49 1. Bendix Boas 66 Kaufmann 3.512 1.750
50 2. Levi Mergentheim 51 Kaufmann 1.322 750
51 3. Abraham Hecht 54 Kaufmann 992 750
52 4. Nathan Rosenberg 175 Kaufmann 1.753 650
53 5. Enoch Rosenberg 22 Kaufmann 1.188 550
54 6. Daniel B. Weinberg 42 Kaufmann 1.003 550
55 7. Joseph Mergenheim 7 Kaufmann 3.019 550
56 8. Abraham
57 Münstermeyer
58 205 Fleischer 1.507 550
59 9. Aron Bendix Boas 84 Goldarbeiter --- 250
60 10. Meyer
61 Schildesheim
62 197 Klempner --- 175
63 11. Heinemann Meyer 178 Handelsmann --- 125
64 12. Moses Weiß 81 Handelsmann --- 75
65 Quelle: StdtA Lübbecke, B 2.8
66 3 Vgl. StdtA Lübbecke, B 74.2a. Ein Reichstaler (rtl) = 30 Silbergroschen (Sgr); 1 Silbergroschen = 12 Pfennige (d). Ab 1821 galt im ganzen Gebiet der preußischen Provinz Westfalen diese Berechnungseinteilung des preußischen Talers bzw. des Reichtalers.
67 4 Vgl. StdtA Lübbecke, B 2.8
68 68
69 Auch sieben Jahre später - im Mai 1842 - hatte sich die Berufsstruktur der jüdischen Mitbürger von Lübbecke kaum verändert. Fabrikanten und Ausübende so genannter freier Berufe waren noch nicht vertreten. 6 von 13 Berufstätigen (46,2%) arbeiteten als Manufakturwarenkaufleute, daneben gab es einen Handelsmann, außerdem einen Goldschmied, einen Fleischer und einen Klempner mit Hausbesitz. Bei der Vermögensschichtung kann eine breitere Mittelschicht von 5 Kaufleuten, einem Goldschmied und einem Fleischer mit einem jährlichen Gewerbeeinkommen von 400-700 rtl und einem Hausbesitz im geschätzten Wert von 1.170-2.600 rtl von einer schmaleren Mittelschicht, die aus einem Klempner und einem Kaufmann bestand, deren Gewerbeeinkommen 200 bzw. 300 rtl betrug und deren Hausbesitz auf 700 bzw. 786 rtl geschätzt wurde, unterschieden werden. Der unteren Schicht der Einkommensbezieher ohne Hausbesitz müssen zwei Handelsleute, ein Lehrer im Ruhestand und einer im aktiven Dienst zugeordnet werden. Ihre jährlichen Einkommen beliefen sich auf etwa 100-300 rtl.
70 Tabelle 29: Vermögensverhältnisse der jüdischen Haushaltsvorstände von Lübbecke im Mai 1842
71 Name Hausnummer Beruf/
72 Familienstand
73 Wert der
74 Häuser
75 in rtl
76 Gewerbe-einkommen pro
77 Jahr in rtl
78 1. Joseph
79 Mergentheim
80 7 Kaufmann 2.600 600
81 2. Moses N.
82 Rosenberg
83 14 Kaufmann 2.550 ?
84 3. Levi Mergentheim 51 Kaufmann 1.170 700
85 4. Enoch Rosenberg 22 Kaufmann 1.200 600
86 5. Rosette Boas 59 Witwe 1.630 ---
87 6. Aron Boas 84 Goldschmied 1.350 400
88 7. Abraham
89 Münstermeyer
90 205 Fleischer 1.200 600
91 8. Meyer
92 Schildesheim
93 45 Klempner 700 200
94 9. Levi Rosenbaum 60 Kaufmann 700 300
95 10. Heinemann Meyer 178 Handelsmann --- 300
96 11. Benjamin Wolf 45 Lehrer --- 200
97 12. Moses Weiß 81 Handelsmann --- 100
98 13. Jeremias Sachs 198 ehem. Lehrer --- 100
99 Quelle: StdtA Lübbecke, B 2.8
100 Während im Jahre 1856 von 598 Familien in der Stadt Lübbecke 4,2% dieser Familien ihre Einkommen im Landbau erzielten, gab es nicht eine einzige jüdische Familie, die in diesem Sektor beschäftigt war. 39,9% aller Familien erwirtschafteten ihre Einkommen aus selbständiger und unselbständiger Arbeit im Sektor Handwerk und Industrie, während nach der Einwohnerliste vom 18.12.1855 sich zwei jüdische Familien von insgesamt 19 (10,5%) von einem Handwerk ernährten (eine Lohgerberin und ein Posamentier). Während 9,3% aller Familien in Lübbecke Einkommen im
101 69
102 Sektor Handel und Verkehr erzielten, waren es 16 (84,2%) jüdische Familien, deren Ernährer als Kauf- und Handelsleute meist in eigenen Läden oder auch ambulant Einkommen erwirtschafteten.5 Außerdem gab es in der jüdischen Gemeinde einen Lehrer und Kultusbeamten, und im Jahr 1856 konnte sich in der Nachbargemeinde Gehlenbeck ein jüdischer Arzt niederlassen, der spätestens seit der Reichsgründung seine Praxis nach Lübbecke verlegen durfte.6
103 Der Fortschritt im Verbürgerlichungsprozess der jüdischen Geschäftsleute von Lübbecke in wirtschaftlicher Hinsicht kann sowohl im Verhältnis zur Gesamtheit der Steuerzahler der Kreisstadt als auch im binnenstrukturellen Vergleich an Hand der Steuerzahlungen für das Jahr 1882 nachgewiesen werden.
104 Nach dem Dreiklassensteuersystem fielen in die erste Abteilung fünf jüdische Geschäftsleute, und zwar zwei Kleiderfabrikanten, ein Textilgroßhändler, der Inhaber eines Textilkaufhauses und ein Manufakturist mit eigenem Geschäftsbetrieb. Diese fünf Geschäftsleute trugen nicht weniger als 17,65% aller Steuerbeiträge der ersten Abteilung bei, in absoluten Zahlen 2.283 von 12.935 Mark. Die Dominanz der jüdischen Steuerzahler in der ersten Abteilung wird deutlich, wenn ihre Steuerleistungen mit denen der zweiten und dritten Abteilung verglichen werden. Der Anteil der sechs jüdischen Steuerzahler der zweiten Abteilung betrug 10,9%, 1.410 Mark von insgesamt 12.896 Mark. Diese jüdischen Geschäftsleute erwirtschafteten ihre Einkommen als Manufakturisten mit eigenen Ladengeschäften, als Arzt, Schlachter und Kornhändler. In die dritte Steuerabteilung fielen wieder fünf jüdische Steuerzahler, die lediglich 2,4%, 301 Mark von insgesamt 12.391 Mark, beitrugen. Das wirtschaftliche Schlusslicht bildete der jüdische Lehrer und Kultusbeamte der Gemeinde, der 24 Mark Klassensteuer für das Jahr 1882 entrichtete, während das wohlhabendste Mitglied der jüdischen Gemeinde, der Kleiderfabrikant Nathan Ruben, insgesamt 530,16 Mark an Klassen-, Gewerbe-, Grund- und Deficitsteuer (städtische Haushaltssteuer) zahlen musste.7
105 Die jüdischen Steuerzahler der ersten Abteilung zahlten also mehr als die jüdischen Steuerzahler der zweiten und dritten Abteilung zusammen. Trotz großer Depression (1873-1895) hatten sich die jüdischen Geschäftsleute von Lübbecke so intensiv am Aufbau der Kleiderindustrie und an der Modernisierung des Handels beteiligt, dass sie besonders in der ersten Steuerabteilung überproportionale Steuerleistungen erwirtschaften konnten, die teilweise in Form der lokalen Haushaltssteuer direkt in den städtischen Haushalt flossen. Auch im Vergleich zur Gesamtheit der Steuerzahler ist der Beitrag der jüdischen erstaunlich hoch, wenn man bedenkt, dass die kleine jüdische Minderheit mit 80 Personen im Jahre 1880 ca. 2,8% aller Einwohner der Stadt Lübbecke ausmachte.8
106 Die überproportional hohe Steuerleistung der jüdischen Geschäftsleute lässt sich auch schon für das Jahr 1876 konstatieren, als sie insgesamt 26,2% aller für Lübbecke erhobenen
107 5 Vgl. Hüffmann, Helmut: 1200 Jahre Lübbecke. Hüllhorst 1975, S. 57
108 6 Vgl. StdtA Lübbecke, B 84.25 V
109 7 Vgl. StdtA Lübbecke, B 4.4
110 8 Vgl. Gemeindestatistik NRW, Heft 3c (1964), S. 402-411; Neumann (1884), S 47
111 70
112 Steuern zahlten, obwohl der Anteil der Juden an der Stadtbevölkerung unter 4% lag. Auch im Steuerjahr 1878 zahlten die jüdischen Geschäftsleute schon 17,1% aller Steuerbeiträge der ersten Klasse und 7,4% der zweiten Klasse, d.h. die relative Steuerleistung der jüdischen Geschäftsleute der zweiten Klasse erhöhte sich bis 1882 um 3,5%.9
113 Ohne den jüdischen Beitrag zur lokalen Industrialisierung und Modernisierung im einzelnen vorwegzunehmen, können an dieser Stelle schon diejenigen jüdischen Firmen aufgezählt werden, die im Jahre 1900 in Lübbecke in Produktion gegangen waren oder sich am regionalen und überregionalen Handel beteiligten:
114 1.) die Hauptniederlassung der Konfektionsfabrik Nathan Ruben,
115 2.) die Leinen- und Baumwollgroßhandlung, Kleider- und Wäschefabrik Abraham Hecht;
116 3.) ein kleiner Konfektionsbetrieb mit der Firma Nathan Rosenberg,
117 4.) das Modewaren- und Konfektionsgeschäft Markus Löwenstein,
118 5.) die „Tischzeug-Leinen und Wäsche-Fabrik“ Joseph Mergentheim, deren Spezialität darin
119 bestand, ganze Brautaustattungen anfertigen zu lassen;
120 6.) die Manufakturwarengeschäfte Leeser Mergentheim und
121 7.) Moses Bendix Weinberg,
122 8.) der Schlachtereibetrieb Gebrüder Mansbach,
123 9.) die Viehhandlung Nathan Hurwitz und
124 10.) die Kornhandlung Heinemann Spiegel.10
125 Tabelle 30: Steuerbeiträge der jüdischen Bürger von Lübbecke für 1876 in Talern und Pfennigen
126 Summe der Steuerbeiträge aller jüdischen Bürger 270,23
127 Summe der Steuerbeiträge aller Bürger 1.030,84
128 in % aller Steuerbeiträge 26,2
129% 9 Vgl. StdtA Lübbecke, B 4.4
130 10 Vgl. Beckmann, Volker: Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lübbecke 1830-1945. Lübbecke 1993, S. 77
131 71
132 Tabelle 30: Steuerbeiträge der jüdischen Bürger von Lübbecke für 1876 in Talern und Pfennigen (Forts.)
133 I. Abteilung
134 Firma Grundsteuer
135 Klassensteuer Gewerbesteuer Deficitsteuer Summe
136 1. Samuel Hecht
137 Textilgroßhandel
138 Hausnr. 285
139 3,95 13,50 3,00 23,83 44,28
140 2. Moses E.
141 Rosenberg
142 Manufakturwaren
143 Hausnr. 24
144 2,69 12,00 3,00 20,69 38,38
145 3. Markus
146 Löwenstein
147 Manufakturwaren
148 Hausnr. 36
149 2,25 10,50 3,00 18,38 31,13
150 4. Nathan Ruben
151 Kaufmann
152 Hausnr. 290
153 1,23 9,00 3,50 15,98 29,71
154 II. Abteilung
155 1. Moses N.
156 Rosenberg
157 Manufakturwaren
158 Hausnr. 14
159 2,06 7,50 3,00 14,43 26,99
160 2. Nathan Steinberg
161 Manufakturwaren
162 Hausnr. 5
163 1,63 6,00 3,00 12,13 22,76
164 3. Moses B.
165 Weinberg
166 Manufakturwaren
167 Hausnr. 40
168 0, 86 5,00 2,50 9,61 17, 97
169 4. Dr. med.
170 Samuel Leeser
171 Arzt
172 Hausnr. 109
173 --- 7,50 --- 9,38 16,88
174 III. Abteilung
175 1. Heinemann
176 Spiegel
177 Kornhandel
178 Hausnr. 214
179 0,70 2,50 2,00 5,83 11,03
180 2. Nathan
181 Hurwitz
182 Schlachter
183 Hausnr. 299
184 0,45 2,00 2,50 5,45 10, 40
185 3. Koppel
186 Meyer
187 Handelsmann
188 Hausnr. 84
189 0,77 1,50 1,25 3,81 7,33
190 4. Enoch
191 Rosenberg
192 Rentner
193 Hausnr. 24
194 --- 3,00 --- 3,75 6,75
195 5. Daniel B.
196 Weinberg
197 Manufakturwaren
198 Hausnr. 46
199 1,35 0,75 1,00 3,29 6,39
200 Quelle: StdtA Lübbecke, B 4.4
201 72
202 Tabelle 31: Steuerbeiträge der jüdischen Bürger von Lübbecke für 1878 in Mark und Pfennigen
203 I. Abteilung
204 Firma Klassensteuer Gewerbesteuer Gebäudesteuer Grundsteuer Summe
205 1. Moses E.
206 Rosenberg
207 Manufakturwaren
208 144 36 32,26 248,26 460,52
209 2. Samuel Hecht
210 Textilgroßhandel
211 126 30 47,38 234,88 438,26
212 3. Markus
213 Löwenstein
214 Textilkaufhaus
215 126,44 36 26,89 220,39 409,72
216 4. Nathan Ruben
217 Kleiderfabrikant
218 126 42 17,94 217,44 403,38
219 5. Moses N.
220 Rosenberg
221 Manufakturwaren
222 90 36 24,66 173,16 323,82
223 Summe 2.035,70
224 Summe aller Steuerbeiträge der I. Abteilung 11.892,68
225 in % aller Steuerbeiträge der I. Abteilung 17,1
226% II. Abteilung
227 1.Nathan Steinberg
228 Manufakturwaren
229 72 36 19,58 145,58 273,16
230 2.Moses B.
231 Weinberg
232 Manufakturwaren
233 72 30 10,38 130,38 242,76
234 3. Dr. med.
235 Samuel Leeser
236 Arzt
237 90 --- --- 112,50 202,50
238 4.Heinemann
239 Spiegel
240 Kornhandel
241 36 24 8,40 77,40 145,80
242 Summe 864,22
243 Summe aller Steuerbeiträge der II. Abteilung 11.646,90
244 in % aller Steuerbeiträge der II. Abteilung 7,4
245% III. Abteilung
246 1.Nathan Hurwitz
247 Schlachter
248 30 24 5,40 63,90 123,30
249 2.Koppel Meyer
250 Handelsmann
251 18 15 9,13 46,63 88,76
252 3.Enoch Rosenberg
253 Rentner
254 36 --- --- 45,00 81,00
255 4.Daniel B.
256 Weinberg
257 Manufakturwaren
258 9 6 16,22 33,47 64,69
259 Summe 357,75
260 Quelle: StdtA Lübbecke, B 4.4
261 73
262 Tabelle 32: Steuerbeiträge der jüdischen Bürger von Lübbecke für 1882 in Mark und Pfennigen
263 I. Abteilung
264 Firma Klassensteuer Gewerbesteuer Grundsteuer Deficitsteuer Summe
265 1.Nathan Ruben
266 Kleiderfabrikant
267 144 48 55,08 283,08 530,16
268 2. Markus Löwenstein
269 Textilkaufhaus
270 162 42 28,50 269,50 502,00
271 3.Samuel Hecht
272 Textilgroß-handel
273 108 30 54,96 242,46 435,42
274 4. Moses E.
275 Rosenberg
276 Manufaktur-waren
277 144 30 24,12 234,12 432,24
278 5. Julius Ruben
279 Kleiderfabrikant
280 126 50 50,00 157,50 383,50
281 Summe 2.283,32
282 Summe aller Steuerbeiträge der I. Abteilung 12.935,92
283 in % aller Steuerbeiträge der I. Abteilung 17,65
284% II. Abteilung
285 1. Moses N.
286 Rosenberg
287 Manufaktur-waren
288 90 30 31,44 173,94 325,38
289 2. Moses B.
290 Weinberg
291 Manufaktur-waren
292 90 36 12,84 161,34 300,18
293 3. Nathan Steinberg
294 Manufaktur-waren
295 72 36 21,96 147,96 277,92
296 4. Dr. med. Samuel
297 Leeser
298 Arzt
299 90 --- --- 112,50 202,50
300 5.Nathan Hurwitz
301 Schlachter
302 36 30 7,56 82,56 156,12
303 6. Heinemann
304 Spiegel
305 Kornhandel
306 36 24 9,60 78,60 148,20
307 Summe 1.410,30
308 Summe aller Steuerbeiträge der II. Abteilung 12.896,20
309 in % aller Steuerbeiträge der II. Abteilung 10,9
310% III. Abteilung
311 1. Enoch
312 Rosenberg
313 Rentner
314 42 --- 12,96 65,46 120,42
315 2. Koppel Meyer
316 Handels-mann
317 18 15 7,68 45,18 85,86
318 3. Daniel B.
319 Weinberg
320 Manufaktur-waren
321 6 --- 16,20 23,70 45,90
322 4. Meyer Meyer
323 Handelsmann
324 6 --- 6,00 13,50 25,50
325 5. Adolf Neuhof
326 Lehrer
327 24 --- --- --- 24,00
328 Summe 301,68
329 Summe aller Steuerbeiträge der III. Abteilung 12.391,51
330 in % aller Steuerbeiträge der III. Abteilung 2,4
331% Quelle: StdtA Lübbecke, B 4.4
332 74
333 3.2.2 Preußisch Oldendorf
334 Im Juni 1817 wurden neben nichtjüdischen Bürgern auch einige jüdische Einwohner der Kleinstadt Preußisch Oldendorf aufgefordert, rückständige Bürgergelder für die Zeit 1807-1816 nachzuzahlen:
335 1.) der Kaufmann Levi Abraham Löwenstein, Hausnummer 11, 3 Reichsthaler (rthl),
336 2.) der Schlachter und Handelsmann Neustäter, Hausnummer 15, 6 rthl,
337 3.) der Handelsmann Sabel Heidelberg, Hausnummer 31, 6 rthl,
338 4.) der Handelsmann Lafendel, Hausnummer 34, 6 rthl,
339 5.) der Kaufmann Rintels, Hausnummer 52, 6 rthl,
340 6.) der Handelsmann und Schlachter Ehrlig, Hausnummer 61, 6 rthl.1
341 Das bedeutete, dass wenigstens diese sechs jüdischen Geschäftsleute der Stadt Preußisch Oldendorf als qualifiziert genug eingeschätzt worden waren, um den für Juden gesetzlich eingeführten Bürgerstatus während der Zeit des Königreichs Westfalen (1808-13) zugeschrieben zu bekommen.
342 Kaufmann Levi Abraham Löwenstein war im Jahre 1813 Besitzer eines Wohnhauses und einer Scheune in der Größe eines 1/12 rheinländischen Morgens. Außerdem besaß er folgende Grundstücke: einen Garten am Hause (1/8 Morgen), ein Stück Saatland am Schröttinghauser Berge (2 ¼ Morgen), einen Grasteil im Larer Bruche (3/4 Morgen), einen Grasteil auf der Masch (2 Morgen), einen Heideteil auf der Masch (2 ¾ Morgen), Rodung auf der Niedern Heide (1/2 Morgen), Bergteile auf der Egge (1 Morgen), Bergteile auf dem Brümmel (3/4 Morgen), Bergteile auf der kleinen Heide (1/4 Morgen), Bergteile in der Forskuhle (1/8 Morgen), Bergteile im Brande (1/12 Morgen). Insgesamt besaß er also Grundbesitz in der Gesamtgröße von mehr als 10 ½ Morgen, wofür er eine jährliche Grundsteuer in Höhe von 1 Reichsthaler (rthl), 22 Silbergroschen (Sgr) und 7 Pfennigen (d) oder monatlich 7 Sgr und 9 d zahlen musste. Levi A. Löwenstein handelte in den 1820er und 1830er Jahren als Kaufmann mit Woll- und Baumwollwaren, die er von der Leipziger Herbstmesse bezog.2
343 Zur selben Zeit besaß der Kaufmann Jacob Levi Cahen (Hausnummer 44) ebenfalls ein Wohnhaus, eine Scheune in der Größe eines 1/32 rheinländischen Morgens sowie folgende Grundstücke: einen Garten am Hause (1/32 Morgen), einen Grasteil auf der Masch (2 Morgen), einen Heideteil auf der Masch (2 ¼ Morgen) und Rodung auf der Niedern Heide (1/2 Morgen). Insgesamt besaß Kaufmann Jacob L. Cahen im Jahre 1813 somit Grundstücke in der Gesamtgröße von ca. 5 Morgen, wofür er eine jährliche Grundsteuer in Höhe von 1 rthl 12 Sgr 3 ½ d zahlen musste oder monatlich 5 Sgr 52 ¼ d.3
344 1 Vgl. StdtA Preußisch Oldendorf, A 10.13
345 2 Vgl. StdtA Preußisch Oldendorf, A 52.14. Ein rheinländischer Morgen entsprach vor 1816 102,132 Are, seit 1816 25,532 Are. Siehe Verdenhalven, Fritz: Alte Meß- und Währungssysteme aus dem deutschen Sprachgebiet. Was Familien- und Lokalgeschichtsforscher suchen. Neustadt/Aisch 1998, 2. Aufl., S. 39. Vgl. Hillebrand, Stefanie: Jüdische Geschichte in Levern und Umgebung 1800-1938. Espelkamp 1996, S. 148, Abbildung 17 3 Vgl. StdtA Preußisch Oldendorf, A 52.14
346 75
347 Philip Meyer Weinberg (Hausnr. 51) besaß ebenfalls ein Wohnhaus, einen Garten am Hause (1/8 Morgen), einen Grasteil in der Masch (2 1/6 Morgen) und einen Heideteil in der Masch (2 ¾ Morgen), insgesamt ca. 5 Morgen, wofür er jährlich 1 rthl 6 Sgr 9 d oder monatlich 4 Sgr 68 d Grundsteuer zu zahlen hatte.4
348 Tabelle 33: Grundsteuerzahlungen jüdischer Bürger der Stadt Preußisch Oldendorf für 1833
349 Name Hausnummer Beruf Grundsteuer
350 rthl Sgr d
351 1.Heinemann
352 Cahn
353 23 Kaufmann 4 16 3
354 2. Bernhard Cahn 45 Kaufmann 5 24 9
355 3. Judenschaft 17b Synagoge, Schule --- 15 8
356 4. Levi Abraham
357 Löwenstein
358 11 Kaufmann 12 15 3
359 5. Michael Rintels 52 Handelsmann 5 9 3
360 Quelle: StdtA Preußisch Oldendorf, A 52.14; Besserer (2014)
361 Eine indirekte Möglichkeit, die Vermögensschichtung der jüdischen Gemeinde von Preußisch Oldendorf nachzuweisen, bietet die Verteilung des Lehrergehaltes in Gesamthöhe von 33 rthl, 12 Sgr, 6d auf neun Haushaltsvorstände für das erste Quartal 1848, die unabhängig von der Zahl der Kinder bei jedem Haushalt vorgenommen wurde. Kaufmann Levi A. Löwenstein, der ein Schulkind hatte, zahlte nicht nur das vereinbarte Schulgeld pro Kopf in Höhe von 10 Sgr, sondern den zweitgrößten Anteil am Gehalt des Lehrers in Höhe von 7 rthl, 21 Sgr und 3 d (= 2.775 d) oder 23% der Gesamtsumme. Vermutlich wurde die Verteilung des Lehrergehaltes aufgrund der Vermögensverhältnisse der einzelnen Schulinteressenten vorgenommen. Allerdings muss gesehen werden, dass der jüdische Lehrer nicht nur die Kinder unterrichtete, sondern in erster Linie von der ganzen Gemeinde (hebr. Kehilla) eingestellt wurde, um die synagogalen Funktionen zu erfüllen, d.h. seine geistlichen Dienste widmeten sich allen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Diese Verteilung des im Anstellungsvertrag vereinbarten Gehaltes für die geistlichen und erzieherischen Dienste des jüdischen Lehrers muss als ein gerechteres Verfahren beurteilt werden, als wenn allein die Zahl der Schulkinder als Verteilungsmaßstab berücksichtigt worden wäre.
362 4 Vgl. ebd.
363 76
364 Tabelle 34: Verteilung des Lehrergehaltes auf die Haushaltsvorstände der jüdischen Gemeinde von Preußisch Oldendorf (1. Quartal 1848)
365 Name Bürgerstätte Nr. Beruf Rthl Sgr d
366 1. Levi A. Löwenstein 11 Kaufmann 7 21 3
367 2. Bernhard & Phillip
368 Cahen
369 45 Kaufleute 10 2 6
370 3. Dr. med. Immanuel
371 Herzberg
372 38 Arzt 2 11 9
373 4. Wolf Löwenstein 44 Kaufmann 3 18 9
374 5. Heinemann Cahen 23 Färber 2 5 --
375 6. Samuel Neustädter 34a Schlachter 1 13 3
376 7. Marcus Rhee 85 Färber 1 -- --
377 8. David Löwenstein 53 Lohgerber 2 -- --
378 9. Michael Rintels 52 Handelsmann 3 -- --
379 Summe 33 12 6
380 Quellen: Stiftung „Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum“, Archiv (CJA), 1, 75 A, Pr. 3, Nr. 1; Hausnummern nach Pracht (1998) und Besserer (2014)
381 Pastor Hartmann erinnerte sich an die jüdischen Mitbürger von Preußisch Oldendorf, die in der Spiegelstraße wohnten, und an ihr Erwerbsleben in den 1860er Jahren wie folgt:
382 „?...? Auf Junge-Blasen folgten drei Häuser, die Juden gehörten: David Löwenstein (Hausnummer 53, Lederhandlung und Lohgerberei in Engershausen), Ehrlichs (Nr. 76), die einen Laden mit Geschirr hatten, der in einem kleinen Erkerschaufenster jahraus, jahrein dieselben Tassen und Teller präsentierte. Außerdem war Simon Ehrlich auch Schlachter. Aber er begnügte sich nicht mit diesem Doppelgeschäft: ausser Geldgeschäften betrieb er noch ein Lumpen- und Alteisengeschäft, das sich zum Kummer meiner Mutter uns gegenüber zur Seite des Hauseinganges sehr wenig schön breit machte. Die Lumpen sortierte im neuen Hinterhause der alte Böcker. Er schien uns Kindern ganz die Farbe seiner veredelnden Tätigkeit angenommen zu haben, im Anzug wie im Gesicht. Das dritte dieser Häuser war ein Wollwarengeschäft von Wolf Löwenstein (meist ‚Wülfken‘ genannt). Wolf Löwenstein (Nr. 44) war unser nächster Nachbar. Wir hörten seinen werbenden Ruf, wenn die Leute aus den umliegenden Dörfern zur ‚Stadt‘ kamen: ‚Kummt herin, kummt herin, wollt ihr nich ein bischen handeln?‘ Sehr genau passte Frau Rosalie sonntags auf die Betglocke zum Schluss des Gottesdienstes in der Kirche auf. Sofort wurden die ‚Jalousien‘ des Ladens geöffnet, um das Geschäft mit den Kirchgängern zu machen. Wolfs hatten übrigens hinter dem Hause im Garten, der an den Werfelschen stiess, zwei Birnbäume mit überaus verlockenden Früchten: eine rotgelbe Sommerbirne und eine ‚Königsbirne‘. Wie waren wir entzückt, wenn einige davon in Werfels Garten fielen oder sie vom Brennhaus erreichbar waren! ?...?“
383 5
384 Außerdem lebten und arbeiteten um 1850 in Preußisch Oldendorf der Färbermeister Leffmann Marcus Rhee bei Nr. 85, der 1858 nach Levern verzog; die Witwe Rosalie Cahen mit ihren Kindern im Haus Nr. 58; der Handelsmann Michael Rintels im Haus 52; der Buchbinder Heinemann Heidelberg im Haus Nr. 34a.6
385 Im Januar 1848 bewarben sich Heinemann Heidelberg und der
386 Färber Emanuel Schutz aus dem nahegelegenen Holzhausen um die Mitgliedschaft in der nach dem Gesetz vom 23.7.1847 zu bildenden Synagogengemeinde und wurden vom Vorsteher Michael Rintels am 16.5.1848 eingeladen, um ihren Aufnahmeantrag zu beraten.7 Dieser wurde
387 offensichtlich positiv entschieden, denn die Namen von Emanuel Schutz und Heinemann Heidelberg wurden unter das Statut für die Synagogengemeinde Preußisch Oldendorf vom 14.3.1857 gezeichnet. Das Handzeichen von Heinemann Heidelberg (*1821) attestierte Wilhelm
388 5 Hartmann: Erinnerungen an die Bürger von Preußisch Oldendorf seit Ende der 1850er Jahre. Maschinenmanuskript verwahrt im StdtA Preußisch Oldendorf, S. 2. Ich danke Herrn Bolte für eine Kopie dieses Textes. 6 Vgl. Pracht, Elfi: Artikel „Preußisch Oldendorf“, in: Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-W estfalen. Teil III. Regierungsbezirk Detmold. Köln 1988, S. 418
389 7 Vgl. Stiftung „Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum“, Archiv (CJA) 1 (Bestände des früheren Gesamtarchivs der deutschen Juden), 75 A Pr. 3, Nr. 1
390 77
391 Cahen in lateinischer Schrift, da der Buchbinder vermutlich ausschließlich gewohnt war, hebräisch zu schreiben.8
392 In Preußisch Oldendorf lebten um 1850 außerdem noch der jüdische Lehrer Samuel Sachs (Hausnr. 176), der Kaufmann Jacob Löwenstein (Hausnr. 4), der Kaufmann Bernhard Cahen (Hausnr. 45) und Levy Neustädter mit großer Familie im Haus Nr. 44a.9
393 Dr. med. Immanuel Herzberg, ein „streitbarer Arzt und zeitweiliger Zechenaktionär“, praktizierte in Preußisch Oldendorf und Umgegend von ca. 1842-1850, bevor er Ende 1858 über England nach Amerika auswanderte.10 Im Januar 1850 ließ er eine kleine Schrift mit dem Titel „Mein Rendezvous mit der Cholera in Frotheim“ bei L. Hagspihl in Lübbecke erscheinen, in der er seine Methoden zur Behandlung von Cholerakranken in dem Dorf Frotheim in der Gemeinde Gehlenbeck der Öffentlichkeit bekannt machte und in einem Vorwort konservativ gesinnte Zeitgenossen kritisierte. In einem Inserat für seine Schrift machte er seine Kritik an verharmlosenden Ärzten und zurückhaltenden Geistlichen wie folgt explizit:
394 „Das Schriftchen, das in zusammengedrängter Kürze eine Masse von Wahrheiten bietet, castigeit in pikanter Weise die Herren Ärzte, welche die ganze Krankheit vom Frotheimer Terrain rein wegläugnen, sowie die Beamten und Geistlichen, welche in süßem Pflichtgefühl nichts zu thun wußten, als sich retiré zu halten, resp. Krankenlisten sich zu erbitten.“11 Im Gegensatz zu der deutsch-sozialen, antisemitischen Propaganda eines Dr. med. Adolf König, der auf einer Wahlveranstaltung in Levern im September 1892 mit Anspielung auf die Choleraepidemie in Hamburg pauschal behauptete, dass jüdische Ärzte zu feige seien, Cholerakranke zu behandeln, dokumentierte Dr. med. Herzberg schon 42 Jahre früher, wie unsinnig antisemitische Beleidigungen waren, die die beruflichen Fähigkeiten von Juden in Zweifel zogen, wenn die Anschuldigungen mit dem wirklichen Verhalten von Juden verglichen wurden.12 Auch in den Erinnerungen von Pastor Hartmann, dessen Eltern in der Spiegelstraße eine Apotheke leiteten, erscheinen die Mitglieder der jüdischen Minderheit nicht als normale Mitbürger, sondern eher als religiöse Exoten:
395 "[...] Da muss ich noch eine Reihe Mitbürger jüdischen Namens und mosaischen Glaubens nennen, denn sie hatten etwas geheimnisvoll Interessantes, eben weil sie wie Fremdlinge unter uns wohnten. Es gab eine ganze Menge, ausser den auf der Spiegelstrasse wohnenden noch die beiden Kahns: ‚Obenkahns‘ bei der Kirche und der ‚blaue‘ Kahn (er war Blaufärber) am Anfang der Berliner Strasse am Bache. Bei der Kirche im Mietshause wohnten Neustädters oder Schimmels und der alte Schmul, Gesicht, Bart und
396 8 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 300
397 9 Vgl. Pracht (1998), S. 148
398 10 Begleittext zur jüdischen Gemeinde Preußisch Oldendorf in der Ausstellung „Zugänge zum Judentum. Jüdische Diaspora in Minden-Ravensberg“ (8.9.-10.11.1996) im Historischen Museum Bielefeld und Mitteilungen von Dr. Monika Minninger. Dr. med. Immanuel Herzberg war um 1854 Mitbesitzer und Repräsentant des Steinkohlenbergwerks „Amalia“ im Harlinghauser Berg. Vgl. Besserer, Dieter: Jüdisches Leben in der Stadt Preußisch Oldendorf. Preußisch Oldendorf 2014, S. 194f.
399 11 Das Inserat befindet sich in dem Exemplar der Schrift, das im Stadtarchiv/Landesgeschichtlichen Bibliothek Bielefeld verwahrt wird. Herzberg, Immanuel: Mein Rendez-vous mit der Cholera in Frotheim. Lübbecke 1850. Das Vorwort lautet wie folgt: „Wurmt Euch das Schriftchen, so verbrennt es, benutzt es aber ja nicht als Löschpapier. Winzig dünn jedes Blatt, würde es Eure kolossalen Fehler dennoch überall durchscheinen lassen, um so stärker, je mehr Ihr sie in Eurer Vornehmthuerei vor den Augen der Welt bemäntelt wähnt. Bemänteln auch ich? Zu früh gab der Lehrer dem Knaben den revolutionären Jesaias, den Stürmer Jeremias in die Hand, um später gar noch Euren conservativen Mantelträger spielen zu können.“
400 12 Vgl. Mindener Zeitung Nr. 245 vom 19.10.1892: „[...] König behauptete, in Hamburg seien die jüdischen Ärzte vor der Cholera entflohen, was nach eingegangenen Erkundigungen natürlich unwahr ist. [...]“
401 78
402 Anzug gleich grau. Bei Janzten war ‚Belchen Silberschmidt‘ eingemietet. Nahe bei ihr wohnte dann noch Jude Stein, der - wohl als einziger Jude aus Oldendorf - den Krieg von 1866 mitgemacht hatte. Die zahlreichen Juden Oldendorfs hatten sich eine Synagoge erbaut in einem Garten. Im Hause an der Strasse war die Judenschule, die Herr ?Wolf? Katzenstein [seit November 1859 bis Ende 1866, Verf.] betreute, der Rabbiner[sic]."13
403 In den Jugenderinnerungen des späteren Pastors erschien die jüdische Minderheit von 40-50 Personen, die in den 1860er Jahren zwischen 5-6% der Stadtbevölkerung von ca. 850 Einwohnern ausmachte, als zahlreiche, religiös unterscheidbare Minderheit.14
404 In der kleinen Ackerbürgerstadt, in der viele Bürger bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Kühe und Pferde hielten und landwirtschaftlichem Nebenerwerb nachgingen, waren der Sommermarkt und der Herbstmarkt besondere soziale Ereignisse, da auf diesen Märkten ein intensiver Austausch von Waren, die die Landbevölkerung in die Stadt importierte, um sie an die Ackerbürger zu verkaufen, stattfand. Der Sommermarkt in Preußisch Oldendorf spielte sich als Viehmarkt in der Spiegelstraße ab, wo auf der einen Seite die Kühe, auf der anderen Seite die Pferde und auf den Seitenwegen die Schweine aufgetrieben wurden. Marktschreier, „wahre Jakobs", priesen lautstark ihre Ware an, und Viehhändler schlossen ihre Verkäufe mit Handschlägen ab. Es waren auch jüdische Viehhändler aus anderen Orten des Kreises Lübbecke am Kauf- und Verkauf von Vieh beteiligt. Quellenmäßig belegt ist es, dass sogar jüdische und nichtjüdische Viehhändler und Schlachter aus Werther und Halle i.W. den Herbstmarkt am 26.10.1835 in Preußisch Oldendorf aufsuchten, um dort Kühe zu kaufen und zu verkaufen.15
405 Ein anderer Ort, der jüdische und nichtjüdische Händler interessierte, war die örtliche Legge in der Kuhstraße. „Der Zweck der Legge bestand darin, das richtige Maß des Leinens in Länge und Breite zu beglaubigen, die Qualität zu bescheinigen sowie den Verkauf des Leinens zu vermitteln."16 Jeden Montag brachte die protoindustriell und familienwirtschaftlich arbeitende Landbevölkerung ihr Löwendleinen in den Leggensaal, wo das Leinen „vom Polizeidiener Boknecht vermessen und im kleinen Hinterzimmer verkauft" wurde.17 Überwacht vom Legge-Inspektor, einem ehemaligen Unteroffizier, der die Verarbeitung und den Verkauf kontrollierte, wurde das Löwendleinen an Leinenhändler verkauft, die aus Bünde, Levern und Lübbecke kamen. Aus Lübbecke fuhren die Brüder Samuel oder Levi Hecht mit ihrem Planwagen nach Preußisch Oldendorf. Diese Brüder waren seit 1.1.1861 eingetragene Gesellschafter der Firma Abraham Hecht in Lübbecke, die dort am Osterwall 285 eine Leinenhandlung führten. Eine Zweigniederlassung dieser Leinenhandlung wurde in Köln von ihrem Bruder Moses Hecht geleitet.18 Vermutlich besuchten die Brüder Hecht neben den Leggen in Preußisch Oldendorf und
406 13 Vgl. Erinnerungen von Pastor Hartmann, S. 12; vgl. CAHJP, Preußisch-Oldendorf S/319/2 (Contracte für die Judenschaft 1798-1889)
407 14 Vgl. Gemeindestatistik NRW, Heft 3c (1964); Pracht (1998), S. 415
408 15 Vgl. StdtA Werther, A 232
409 16 Kammeier (1989), S. 79
410 17 Erinnerungen, S. 3
411 18 Vgl. Beckmann (1994), S. 28f, Anmerkung 6
412 79
413 in Lübbecke, die dort seit dem 5.1.1844 im Haus 38 eingerichtet worden war und im Jahre 1855 von dem Leggemeister und Färber Georg Vogeler geleitet wurde, auch diejenigen in Wehdem, Levern und Rahden, um Leinen einzukaufen, in ihrem Lager in Lübbecke zu stapeln, bevor sie die Ware weiterverkauften. Die relative Bedeutung der einzelnen Leggen im Kreis Lübbecke kann an ihren Umsätzen gemessen werden: im Jahre 1872 zahlte die Legge in Lübbecke 57.065 Taler 3 Sgr aus, die Legge in Wehdem 31.551 Taler, die Legge in Preußisch Oldendorf ca. 22.962 Taler, die Legge in Levern 12.713 Taler und diejenige in Rahden 8.324 Taler.19 Mit der zunehmenden Mechanisierung der Leinenherstellung in fabrikmäßig betriebenen Webereien musste die Bedeutung der Leggen zurückgehen. Das belegen auch die Umsatzzahlen aller Leggen des Kreises Lübbecke. Noch im Jahre 1868 wurden dort 1.672.245 Ellen im geschätzten Wert von 166.965 Talern im Vergleich zu 132.615 Talern vier Jahre später umgesetzt.20 Nur der Umsatz der Legge in Rahden erhöhte sich von 4.678 rthl (1865) auf 8.324 rthl (1872), da an diesem Ort einfaches Löwendleinen und Packleinen in relativ kleinen Mengen angeboten wurde.21 Erst mit dem Entwicklungssprung vom Großhandel mit Leinen und Baumwollwaren zur konfektionsartigen Verarbeitung von Kleidern und Wäschestücken im Jahre 1905 wird die Firma A. Hecht auch einen Teil des in der Region fabrikmäßig hergestellten Leinens selbst verarbeitet haben.22 3.2.3 Levern
414 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwirtschafteten die Juden von Levern ihre Einkommen in der Hauptsache als Hausierer, Klein-, Kram-, Garn- und Ellenwarenhändler, auch als Viehhändler und Schlachter. Sie handelten mit Lotterielosen, Altwaren und Leinen. Nach Hillebrand war seit 1825, d.h. also nach der Abschiebepolitik der Bezirksregierung, die sich gegen jüdisches Dienstpersonal und die Verbreitung des Hausierhandels richtete, eine Änderung des beruflichen Verhaltens der Juden in Levern konstatierbar. Nach dem Zuzug der Familie Hurwitz aus Rahden im Jahre 1830 waren es gerade die Mitglieder und Nachfahren dieser Familie, die sich dem Viehhandel widmeten.1 Einer von ihnen, Moses Hurwitz, kaufte seit den 1880er Jahren in Kommission Vieh „ im gesamten Umland auf" und ließ es mit der Köln-Mindener Eisenbahn zu den Märkten und Fleischfabriken in das Ruhrgebiet verfrachten. Das war offensichtlich möglich, da die Strecke Osnabrück-Bielefeld seit 1886 von dem „Haller Wilhelm" bedient wurde. Zudem war die Bahnstrecke Herford - Bünde - Kirchlengern - Lübbecke - Rahden - Sulingen - Bassum seit 1901 befahrbar. „Um 1900 [zog] Moses Hurwitz ins Ruhrgebiet nach Essen, wo er als Haupt(vieh)lieferant des 'Krupp'schen Konsums' zu großem Reichtum gelangt[e]."2 19 Vgl. Kammeier (1989), S. 79; Hüffmann (1975), S. 62; StdtA Lübbecke, B 84.25 V 20 Vgl. Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern, Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen. Göttingen 1984, S. 482, Anhang 23
415 21 Vgl. Rothert, a.a.O., S. 91
416 22 Vgl. Beckmann (1993), S. 77
417 1 Vgl. Hillebrand, Stefanie: Jüdische Geschichte in Levern und Umgebung 1800-1938. Espelkamp 1996, S. 20-23; 42f 2 Ebd., S. 43
418 80
419 Die wohlhabendste jüdische Familie in Levern waren Löwensteins. Bernhard Löwenstein zog im Jahre 1843 mit seiner ersten Frau von Preußisch Oldendorf nach Levern und widmete sich zuerst dem Landhandel, speziell dem Verkauf von Garn und Leinen. Schon vor der Jahrhundertwende erwarb Bernhard Löwenstein in Levern mehrere Häuser und zwei Höfe in Nachbardörfern. Als Vorsteher der relativ spät gegründeten Synagogengemeinde Levern (1897/98) und Hauptsteuerzahler übernahm er die Kosten zum Ankauf des jüdischen Friedhofs (1860), des Synagogengrundstücks und des Baues der Synagoge (1872).
420 Im Jahr 1902 gründeten ein Sohn und ein Enkel Bernhard Löwensteins, Alex und Carl, in Levern eine Fleischwarenfabrik, die bis Ende der 1920er Jahre in Betrieb war. Ein anderer Sohn Alex Löwensteins, Leopold (*12.1.1878 Levern, gef. 25.5.1915 Lorettohöhe/Frankreich), legte in Münster am Paulinum sein Abitur ab, studierte in Berlin Rechtswissenschaften und war als Gerichtsreferendar, Rechtsanwalt und Magistratsrat tätig.3
421 Tabelle 35: Berufliche Tätigkeiten der Juden in Levern im 19. und 20. Jahrhundert 4
422 Name Erwerbstätigkeiten Zeit
423 1. Selig Sonnenstein Hausier-, Kuhhandel, Schlachten 1814ff
424 2. Mathias Varnhagen Tagelöhner, Trödler, Handelsmann,
425 Schlachter
426 1822ff
427 3. Meyer Schildesheim Hausier-, Lotteriehandel, Schlachten ca. 1810-1824 4. Bernhard Frank Ellenwarenhändler ca. 1810-1824
428 5. Isaac Eichmann Schlachter, Schächter 1819-1863
429 6. Philipp Hurwitz Handelsmann, Schlachter 1830-1861
430 7. Bernhard Löwenstein Landhandel, Geldgeschäfte 1843-1907
431 8. Alex und Carl Löwenstein Fleischwarenfabrikanten 1902-Ende der 1920er Jahre 9. Leffmann Marcus Rhee Färbermeister 1858-1896
432 10. Dr. med. Arnold Levy Arzt; An- und Verkauf von Möbeln 1897-1910
433 Mangels Steuerlisten soll versucht werden, aufgrund des Hausbesitzes der jüdischen Bürger von Levern die Kontinuität ihres familiären Immobilienbesitzes nachzuweisen.
434 Tabelle 36: Jüdischer Hausbesitz in Levern im 19./20. Jahrhundert 5
435 Familienname Hausnummer im Besitz von/bis
436 1. Löwenstein 95 1845-1920
437 Löwenstein 124 („Löwenburg“) 1848-1938
438 Löwenstein 214 (Fleischwarenfabrik) 1902-1935
439 2. Rhee 86 1860-1930
440 3. Eichmann 127 1820-1920
441 4. Hurwitz (Jacob, Isidor, Erich) 128 1850-1937
442 5. Hurwitz (Simon, Ferdinand,
443 Artur)
444 153 1860-1937
445 6. Hurwitz (Philipp, Herz,
446 Moses)
447 43 1845-1900
448 7. Boas 171 1860-1915
449 3 Vgl. Möllenhoff, Gisela; Schlautmann-Overmeyer, Rita: Jüdische Familien in Münster 1918-1945. Teil 1: Biographisches Lexikon. Münster 1995, S. 279
450 4 Vgl. Hillebrand (1996), S. 15-49
451 5 Vgl. Hillebrand (1996), S. 152
452 81
453 Während jungverheiratete und nichtverheiratete Juden in Levern zur Miete wohnten - dies galt auch für den Arzt Dr. med. Arnold Levy - dokumentiert obige Aufstellung, dass nicht weniger als sieben Familien in Levern Immobilien erwarben und jahrzehntelang im Besitz hielten. Aus der Aufstellung geht nicht hervor, dass viele Juden, besonders die Viehhändler, in Levern auch Ackerund Weideland besaßen und dieses entweder verpachteten oder zur Viehmast oder als Sammelstelle von Vieh nutzten.6 Während Bernhard Löwenstein am Ende des Jahrhunderts als Millionär und Eigentümer „eines der schönsten Stiftshäuser" bezeichnet wurde, lag das durchschnittliche jährliche Einkommen eines jüdischen Lehrers, der in Levern offenbar ohne Hausbesitz blieb und gewöhnlich auf der unteren Stufe der jüdischen Einkommenskala zu finden war, im Jahre 1898 unter 2.000 Mark.7
454 Neben Kauf- und Handelsleuten und einigen Mitgliedern der so genannten freien Berufe arbeiteten in Levern in den 1840er bis 1860er Jahren auch einige jüdische Handwerker. Dabei handelte es sich um Buchbinder, Färber und Goldschmiede. Alle drei Handwerke waren traditionelle jüdische Berufe, von denen die des Buchbinders und des Färbers nicht zunftgebunden waren und sie somit für Juden auch schon vor den Stein-Hardenbergschen Reformen ausgeübt werden konnten. Die Berufe des Lohgerbers und Färbers waren in einer Region, in der die meisten Erwerbstätigen von der Landwirtschaft und der protoindustriellen Leinenproduktion lebten, nicht selten zu finden. Der Beruf des Buchbinders geht auf die Zeit der Erfindung des Buchdrucks zurück, während der Beruf des jüdischen Thorarollenschreibers (hebr. sofer) noch viel älter war, da die Thorarollen von Zeit zu Zeit neu geschrieben werden mussten oder als Geschenk für einzelne Familienmitglieder oder Gemeinden zu bestimmten Anlässen angefertigt wurden. Während Heinemann Heidelberg der jüdischen Gemeinde von Preußisch Oldendorf am 28.4.1848 den Erhalt eines Rechnungsbetrags für seine Bindearbeiten zweier Bücher in Höhe von 1 rthl 20 Sgr in Oldendorf quittierte, fungierte Bendix Cramer in Werther von 1817 bis in die 1830er Jahre als Lehrer, Kultusbeamter, Thorarollenschreiber und Lotterieunterkollekteur.8
455 Ein jüdischer Goldschmied gestaltete jüdischen Schmuck und Kultgeräte wie Ringe, Ketten, Menorot, Mesusot, Kidduschbecher, Leuchter, Sederteller, Bessomimbüchsen, Thorakronen und -schilde usw. In kleinen jüdischen Gemeinden musste er vermutlich auch auf die Wünsche der nichtjüdischen Kundschaft eingehen, um genügend Einkommen zu erwirtschaften. 6 Vgl. ebd., S. 42
456 7 Vgl. ebd., S. 25; Lazarus, Max: Erinnerungen, S. 120
457 8 Vgl. Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Archiv (CJA) 1, 75 A, Pr 3, Nr. 1; vgl. StdtA Werther, A 74; StA Dt, P 2 Nr. 123
458 82
459 Tabelle 37: Jüdische Handwerker in Levern seit 18139
460 Name Beruf im Beruf aktiv von/bis
461 1. Nathan Hurwitz Buchbinder ca. 1845-1849
462 2. Ascher Eichmann Färbermeister ca. 1840-1865
463 3. Simon Eichmann Buchbinder ca. 1847-1889
464 4. Aron Eichmann Färber ca. 1852-1858
465 5. Aron Bendix Boas Goldschmied 1842-1847
466 6. Feibes (Ferdinand)
467 Boas
468 Goldschmied (?) ca. 1852-1896
469 7. Julius Boas Buchbinder bis 1856
470 8. Leffmann Rhee Färbermeister ca. 1858-1896
471 9. Bernhard Frank Zimmermann (?) 1813-1824
472 10. Heinemann
473 Heidelberg
474 Buchbindermeister ca. 1845-1847
475 Quelle: Hillebrand (1996)
476 Jüdische Handwerker blieben aber auch in der jüdischen Gemeinde Levern immer in der Minderheit und machten - wenn man die Schlachter abzieht - nie mehr als 10% der Erwerbstätigen aus. Nachdem sich die jüdische Minderheit in Levern mit den drei Familien Sauer in Wehdem als Synagogengemeinde zusammengeschlossen hatte (1898), zeigte die Berufsstruktur der 12 Mitglieder immer noch die Dominanz der Kaufleute (16,7%) und Viehhändler (50%) und der so genannten freien Berufe (ein Arzt, ein Lehrer, zwei Rentiers), die 33,3% ausmachten.10 3.2.4 Wehdem
477 Im Kirchspiel Wehdem im Nordwesten des Kreises Lübbecke existierte am Ende des 19. Jahrhunderts außer den Viehhandlungen Moses, Abraham und Simon Sauer (Häuser Nr. 29 und Nr. 84) die Gemischtwarenhandlung Philipp Coblenzer. Schon für das Jahr 1827 berichtete die Chronik von dem Kirchspiel Wehdem (1819-1879), dass „der Israelit Coblenzer [...] das am Kirchhofe angekaufte Haus [Nr: 184] verbessert“ habe. Im gleichen Jahr erwarb Coblenzer das Wohnhaus des Kolonen Thiesing am Kirchhof (Nr. 123).1 Kaufmann Coblenzer schien keine schlechten Geschäfte zu machen, denn die Chronik berichtete für 1830, daß er sein Wohnhaus Nr. 184 „um 150 Rthlr. verbessert" habe.2 Innerhalb der Gemeinde Wehdem war Kaufmann Coblenzer so geachtet, dass ein Mitglied dieser Familie zum Gemeindeverordneten nach der Reichsgründung gewählt wurde und in dieser Eigenschaft die Chronik für das Jahr 1874 am 8.9.1876 als einer von insgesamt zwanzig Gemeindeverordneten attestierte. Auch die Gemeindechroniken von 1875, 1876, 1877 und 1879 wurden von ihm und seinen Amtskollegen mit ihren Unterschriften beglaubigt.3
478 9 Vgl. Hillebrand (1996), S. 41
479 10 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 820
480 1 Vgl. Wiegel, Bert: Chronik vom Kirchspiel Wehdem 1819-1879. Espelkamp 1994, S. 57 2 Vgl. ebd., S. 77
481 3 Vgl. ebd., S. 269, 272, 276, 280, 289
482 83
483 Wirtschaftshistorisch ist das Anschreibbuch (1896-99) der Gemischtwarenhandlung mit der Firma Philipp Coblenzer aus Wehdem in mehrerer Hinsicht von Interesse, da es etwas a) über die Zahl der Kundenkontakte, b) über die Wohnorte und soziale Herkunft ihrer Kunden, c) über die verkauften und von der Firma angekauften Waren und d) über die durchschnittlich angeschriebenen Summen und die Verrechnungsweise der kaufmännischen Tätigkeit dieser Firma aussagt.4
484 Für die vier Monate September bis Dezember 1896 hält das Anschreibbuch 262 Kundeneinträge fest, durchschnittlich pro Monat 65,5 Einträge. Der jüdische Kundenanteil betrug lediglich 9 Personen (3,4%). Die angeschriebenen Summen beliefen sich pro Monat durchschnittlich auf 12,83 Mark. Bei den jüdischen Kunden handelte es sich um A.[braham], Moses und einer Frau S. [imon] Sauer sowie B. und G.[eorg] Coblenzer aus Wehdem. Auch eine Witwe S. Oppenheimer aus Lemförde gehörte im November 1896 zu den Kunden der Firma Philipp Coblenzer. Gastwirt Louis Stein aus Preußisch Oldendorf ließ 9½ Pfund Butter zu 7,60 Mark im Dezember 1896 anschreiben. In den folgenden Jahren besuchten auch H. Coblenzer aus Seesen und I. Coblenzer aus Dielingen die Gemischtwarenhandlung Philipp Coblenzer. Der überwiegend nichtjüdische Kundenstamm kam aus den Gemeinden der Ämter Dielingen (Wehdem, Arrenkamp, Oppendorf, Oppenwehe, Westrup, Mesenkamp), Levern (Destel, Mehnen, Twiehausen) und Rahden (Varl). Angesichts der Geldknappheit seiner ländlichen Kundschaft war die Firma Philipp Coblenzer nicht nur so kulant, Kaufsummen anzuschreiben, d.h. also, ihren Kunden Kredit und Zahlungsaufschub zu gewähren, sondern sie verrechnete ihre Verkäufe auch mit Agrarprodukten wie Äpfel, Eier, Butter, Lupinen, mit protoindustriell hergestelltem Leinen und mit Dienstleistungen wie Fuhrlohn. Der Kaufmann akzeptierte diese materiellen Gegenwerte als Ersatzzahlungsmittel und bemühte sich zweifellos, sie nach Möglichkeit bald wieder mit Gewinn zu verkaufen.
485 Die Höhe der angeschriebenen Summen und die Zahl der Kundeneinträge variierten jedoch von Monat zu Monat. Im Jahr 1897 wurde die höchste angeschriebene Summe 2.083 Mark bei gleichzeitiger Höchstzahl der Kundeneinträge von 88 für März festgehalten, während im Dezember desselben Jahres die niedrigste monatlich angeschriebene Summe 450 Mark betrug und der Februar 1897 die wenigsten Kundeneinträge (38) aufwies. Offensichtlich war die Kundschaft im Frühjahr besonders kauflustig und kurz vor Weihnachten am wenigsten bereit, anschreiben zu lassen. Im Jahre 1898 gab es im Juni die zahlreichsten Anschreibeinträge (101), im Dezember wieder die wenigsten (46). Die höchste angeschriebene monatliche Summe betrug 1.666 Mark im April 1898, die niedrigste 245 Mark im Dezember. Die Kauf- und Anschreiblust im Frühjahr lässt sich auch für März 1899 nachweisen, als im Vergleich zu den ersten acht Monaten 1899 die häufigsten Anschreibungen (62) mit der höchsten Anschreibsumme (1.233 Mark) belegbar sind.
486 4 Ich danke Dr. Bert Wiegel, Rahden, für meine Einsichtnahme in eine Kopie des Anschreibbuches der Gemischtwarenhandlung mit der Firma Ph. Coblenzer in Wehdem (1896-1899).
487 84
488 Tabelle 38: Zahl der Kundeneinträge und Anschreibsummen im Anschreibbuch der Gemischtwarenhandlung Philipp Coblenzer in Wehdem
489 (September 1896 - August 1899)
490 Jahr Kundeneinträge Summe ( in Mark)
491 1896 (Sept.-Ende Dez.) 262 2.201,23
492 1897 842 10.476,94
493 1898 (ohne Juli) 736 8.690,06
494 1899 (Jan.-Ende Aug.) 394 5.129,06
495 Quelle: Anschreibbuch der Gemischtwarenhandlung Philipp Coblenzer in Wehdem (September 1896-August 1899). Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Dr. Bert Wiegel, Rahden.
496 Die Angewohnheit, anschreiben zu lassen, deutete einerseits auf die Geldknappheit der ländlichen Kundschaft hin, andererseits auf die Kulanz des jüdischen Gemischtwarenhändlers. Dass dieses Entgegenkommen auch bei nichtjüdischen Geschäftsleuten zu finden war, belegt das erste Hauptbuch des Schuhmachermeisters Heinrich Christoph Lütkemeier (1839-52) in Werther im Kreis Halle i.W., welches zeigt, dass auch er seiner jüdischen Kundschaft Zahlungsaufschub gewährte oder auch Agrarprodukte, Taschenuhren und Textilien als Gegenwerte für seine Dienstleistungen akzeptierte.5
497 Das vielfältige Verkaufssortiment, das die Gemischtwarenhandlung Philipp Coblenzer seinen Kunden anbot, läßt sich gruppenmäßig gliedern in a) rohe und verarbeitete Agrarprodukte, Obst, Lebensmittel, Genußmittel, Gewürze etc. ; b) Textilien; c) Haushaltswaren, Haushaltsmaschinen, Schreibwaren, Spielzeug, Schmuck etc.
498 Zur Gruppe a) gehörten Waren wie Mehl, Petroleum, Salz, Mais, Butter, Eier, Raffinade, Zucker, Kandis, Leinsaat, Steckrübensaat, Klee, Apfelsinen, Pflaumen, Pektin, Lupinen, Blumen, Kaffee, Reis, Pfeffer, Hafer, Zwetschen, Zichorien, Wein, Hafergrütze, Essigsprit, Korinten und westfälischer Schinken.
499 Zur zweiten Gruppe zählten folgende Waren: Tuche, Segeltuche, Leinen, Kattune, Kleider, Knabenmützen, Anzüge, Meterware (Cheviot, Battist, Cachmir, Orleans, Flanell), Bettzeug, Bauzelte, Wachstücher, Korsetts, Taillenstäbe, Schweißblätter, Unterhemden, Jacken, Westen, Hosen, Oberhemden, Kinderkleidung (Schürzen, Jäckchen), Bänder (Kriegerverein), Garn, Futter, Knöpfe, Schnur, Wolldecken, Schafdecken, Überzieher, Hüte, Halstücher, Inlette, Spitze, Seide, Strümpfe, Kleiderstoffe, Schürzen, Schaltücher, Schirme, Taschentücher etc. Drittens verkaufte Coblenzer folgende Haushaltswaren: Öfen, Kamine, Lampen, Teelöffel, Waagen, Aufsatzhefte, Pergamentpapier; Reib-, Hub-, Hack- und Nähmaschinen, Zentrifugen; Bestecke, Geschirr; Kinderwagen, Puppen, Kugeln, Lichter; Gesangbücher; Haarfeilen, Kämme, Mandelseife, Wichse, Papier, Perlen, Draht etc.
500 5 Ich danke Paul Lütgemeyer, Werther, für meine Einsichtnahme in das erste Hauptbuch (1839-52) seines Urgroßvaters Heinrich Christoph Lütkemeier.
501 85
502 Das Sortiment der Firma Philipp Coblenzer war so breit, dass sie die Bedürfnisse der Landbevölkerung befriedigen konnte, ohne dass ihre Kunden die Geschäfte in den nächsten kleinen Landstädten wie Preußisch Oldendorf, Levern oder Lübbecke aufzusuchen brauchten. Ein Adressbuch aus dem Jahre 1908 fasste die Geschäftstätigkeiten der Firma Philipp Coblenzer mit den Begriffen 1. „Butter-, Eier- und Schmalzhandel en gros", 2. „Rohproduktenhandel", 3. „Schinken-", 4. „Manufaktur- und Modewarenhandlung" und 5. „Spezerei- und Gemischtwarenhandlung" zusammen.6 Außerdem beschäftigte die Firma Ph. Coblenzer spätestens seit 1900 in ihrer Dampfziegelei in Niedermehnen 15-20 Arbeiter.7 3.2.5 Großendorf, Kleinendorf (Rahden)
503 Im Unterschied zur jüdischen Berufsstruktur in Lübbecke gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großendorf und Kleinendorf nur zwei jüdische Kaufleute mit kaufmännischen Rechten, die vermutlich in eigenen Ladengeschäften Waren verkauften. Im Jahre 1841 handelte Joseph Goldschmidt (Nr. 64) mit Leinen und Manufakturwaren und wurde mit einem Gewerbesteuersatz von 1 rthl eingeschätzt. Ab Mai 1841 begann Minna Vogel (Nr. 130) einen Kleinhandel mit Kolonialwaren und wurde mit einem monatlichen Gewerbesteuersatz in Höhe von 5 Sgr veranlagt. Insgesamt wurden sieben Kaufleute mit kaufmännischen Rechten mit 7 rthl 15 Sgr Gewerbesteuer veranlagt.1
504 Die meisten männlichen Juden von Großendorf arbeiteten im Jahre 1841 als Kleinhändler, Pferdehändler und Hausierer. Der 65jährige Levy Frank (bei Haus Nr. 23) erwarb in diesem Jahr einen Gewerbeschein zum Lumpensammeln im Austausch gegen Nadelkram. Hermann und Salomon Goldschmidt (Nr. 41) suchten die Bauern der Umgegend auf, um Bestellungen auf Handelssachen aufzunehmen. Die acht jüdischen Händler ohne kaufmännische Rechte von insgesamt 74 in dieser Kategorie zur Gewerbesteuer veranlagten (10,8%) mussten 62 Sgr von 362 Sgr (17,1%) zahlen. Unter diesen gab es nur eine Frau. Sie handelte mit Hüten. Interessant ist, dass im Fleischergewerbe ausschließlich jüdische Metzger für dieses Jahr aufgelistet waren. In diesem Gewerbe hatten die Juden in Großendorf und Kleinendorf eine Monopolstellung. 6 Vgl. Adreßbuch aller Länder der Erde der Kaufleute, Fabrikanten, Gewerbetreibenden, Gutsbesitzer etc. Bd. 7a: Westfalen, Lippe-Detmold und Pyrmont. Nürnberg 1908, 13. Ausgabe, S. 388 7 Vgl. StADt, M 2 Lübbecke Nr. 2045
505 1 Vgl. StdtA Rahden, A 759
506 86
507 Tabelle 39: Jüdische Händler in Großendorf ohne kaufmännische Rechte im Jahre 1841
508 Name Hausnummer Gewerbe Gewerbesteuer pro Monat
509 Sgr d
510 1. Salomon
511 Goldschmidt
512 4 Kleinhandel 15 --
513 2. Herz Goldstein 32 Kleinhandel 5 --
514 3. Theodor Haas 35 Kleinhandel 5 --
515 4. Samuel
516 Samson
517 49 Kleinhandel 2 6
518 5. Blümchen
519 Schildesheim
520 bei 57 Handel mit Putzwaren
521 (ab November)
522 5 --
523 6. Simon Vogel 130 Pferdehandel 10 --
524 7. Wolf Rosenberg 139 Kleinhandel 15 --
525 8. Bernhard
526 Rosenberg
527 139 Pferdehandel im Hause 5 --
528 Quelle: StdtA Rahden, A Nr. 759
529 Tabelle 40: Jüdische Fleischer in Großendorf und Kleinendorf im Jahre 1841
530 Name Hausnummer Gewerbe Gewerbesteuer pro Monat in Sgr
531 1. Nias
532 Hammerschlag
533 28 Fleischer 15
534 2. Herz Goldstein 32 Fleischer 10
535 3. Moses Stein 37 Fleischer 15
536 4. Jacob Ginsberg 39 Fleischer 15
537 5. Ephraim
538 Goldberg
539 bei 45 Fleischer 10
540 6. Ruben Hahn bei 56 Fleischer 20
541 7. Bernhard Frank 98 Fleischer 15
542 8. Simon Vogel 130 Fleischer 15
543 9. Wolf
544 Rosenberg
545 139 Fleischer 15
546 Quelle: StdtA Rahden, A Nr. 759
547 Als man Anfang der 1850er Jahre den Bau einer neuen Synagoge für die jüdische Gemeinde Rahden plante, wurde eine detaillierte Übersicht der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Gemeindemitglieder aufgestellt, um sie entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten an den Baukosten zu beteiligen.2 Unter den 18 Beitragspflichtigen waren 2 Kaufleute (11,1%), 5 Kleinhändler (27,8%), 2 Pferdehändler (11,1%), 1 Färber und Kleinhändler (5,5%), 1 Handelsmann und Hausierer, 2 Fleischer (11,1%), 3 Fleischer und Kleinhändler (16,7%), eine Witwe ohne Gewerbe, die von ihren Zinsen lebte, und eine Person, die aus Armenmitteln unterstützt wurde. 2 Vgl. StdtA Rahden, A 415
548 87
549 Das wohlhabendste Mitglied, ein Kaufmann, besaß ein Haus, ein Gut in der Größe von 42½ Morgen [106.250 m² ? 10,62 ha] mit einem durchschnittlichen jährlichen Ertrag von 96 Talern, das allerdings auch mit hypothekarischen Schulden in Höhe von 1.090 rthl belastet war. Seine gutsherrlichen Lasten betrugen 22 rthl, 10 Sgr, 10 d jährlich. Sein Manufakturwarengeschäft erzielte einen jährlichen Umsatz von 3.000 Talern, außerdem hatte er ein Vermögen von 8.000 Talern und ein durchschnittliches jährliches Erwerbseinkommen von 700 Talern.
550 Am unteren Ende der Vermögensaufstellung steht ein Fleischer und Kleinhändler (Höcker) ohne Grundbesitz, der ein Vermögen von 100 Talern hatte und ein Durchschnittseinkommen von ebenfalls 100 Talern jährlich erzielte. Er wurde mit dem niedrigsten Klassensteuersatz (2 Taler) und Kommunalsteuersatz (5 Sgr) veranlagt. Allerdings musste dieser Fleischer und Höcker einen relativ hohen Gewerbesteuersatz (10 Taler) zahlen, wenn man bedenkt, dass die wohlhabenden Kaufleute, die ein viel höheres Einkommen erzielten, nur 16 bzw. 14 Taler Gewerbesteuer entrichteten.
551 Tabelle 41: Einkommens- und Vermögensaufstellung der Mitglieder der jüdischen Gemeinde Rahden um 1851 (in rthl/Sgr/d)
552 Name Haus
553 -nr.
554 Gewerbe Umsatz
555 (jährlich)
556 in rth
557 Vermögen
558 in rthl
559 Einkommen
560 in rthl
561 Gewerbesteuer
562 in
563 rthl
564 Grundsteuer
565 in
566 rthl/Sgr/d
567 Klassensteuer
568 in
569 rthl
570 Kommunalsteuer
571 rthl/Sgr/d
572 1. Simon
573 Rosenberg
574 139 Kaufmann 3.000 8.000 700 14 11/20/5 20 3/9/7
575 2. Joseph
576 Goldschmidt
577 64 Kaufmann 2.500 4.000 450 16 4/17/2 12 1/11/9
578 3. Samuel
579 Goldschmidt
580 bei
581 90
582 Höcker 600 1.500 200 2 --- 5 0/12/6
583 4. Philipp
584 Löwenstein
585 130 Pferdehändler,
586 Höcker
587 500 1.000 200 4 0/1678 4 0/10/0
588 5. Samuel
589 Goldstein
590 bei
591 61
592 Pferdehändler
593 600 800 200 2 --- 4 0/10/0
594 6. Leffmann
595 Goldschmidt
596 bei
597 30
598 Färber,
599 Höcker
600 500 800 180 2 --- 3 0/7/6
601 7. Samuel
602 Frank
603 bei
604 45
605 Höcker 800 500 250 2 --- 4 0/10/0
606 8. Simon
607 Goldstein
608 bei
609 90
610 Hausierer,
611 Handelsmann
612 500 800 150 12 --- 2 0/5/0
613 9. Isaak
614 Frank
615 191 Höcker 300 400 180 2 0/21/11 2 0/6/10
616 10.
617 Goldschmidt
618 , Witwe
619 87 --- Bezieht
620 Zinsen
621 2.500 --- --- 0/13/0 12 1/1/1
622 11. Hirsch
623 Vogel
624 bei
625 56
626 Fleischer,
627 Höcker
628 400 300 150 10 --- 4 0/20/0
629 12. Joseph
630 Goldstein
631 bei
632 87
633 Höcker 300 300 180 2 --- 2 0/5/0
634 13.
635 Bernhard
636 Frank
637 bei
638 30
639 Fleischer 300 180 150 8 --- 3 0/7/6
640 14. Jacob
641 Ginsberg
642 bei
643 30
644 Fleischer 200 100 100 6 --- 2 0/10/0
645 15. Ephraim
646 Goldberg
647 bei
648 32
649 Fleischer 200 100 100 4 --- 2 0/5/0
650 16. Nias
651 Hammerschlag
652 bei
653 145
654 Höcker 200 100 100 2 --- 2 0/5/0
655 17. Levi
656 Hammerbei
657 28
658 Fleischer,
659 Höcker
660 --- 100 100 10 --- 2 0/5/0
661 88
662 schlag
663 18. Meyer
664 Frank
665 bei
666 144
667 --- --- --- --- frei ___ frei ---
668 Quelle: StdtA Rahden, A Nr. 415
669 Inwieweit hatte sich die Berufsstruktur der erwerbstätigen Juden in Großendorf und Kleinendorf bis zum Jahre 1868 gewandelt?
670 Erstens war die Zahl der Kaufleute mit kaufmännischen Rechten von zwei auf vier angewachsen. Drei handelten ausschließlich mit Manufakturwaren und Leinen (Simon Rosenberg, Nr. 139; Samuel Goldschmidt, Nr. 189; Joseph Goldschmidt, Nr. 64), und ein Kaufmann handelte mit Manufaktur-, Kolonial- und Materialwaren (Samuel Frank, Nr. 71).
671 Diese vier jüdischen Kaufleute zahlten von insgesamt 16 zur Gewerbesteuer in der Klasse A II veranlagten (25%) 42 rthl von insgesamt 158 rthl p.a. (26,6%).3
672 Zweitens war die Zahl der Kleinhändler von 5 auf 6 angestiegen. Neu hinzugekommen war Baruch Rosenbaum (Nr. 142), der mit Manufaktur- und Kolonialwaren handelte. Sofern die Gewerbesteuerlisten dies explizit machen, handelten die anderen Kleinhändler mit Lumpen, Tongeschirr und Porzellan, Manufaktur-, Kolonial- und Materialwaren. Die sechs jüdischen von insgesamt 36 (16,7%) veranlagten Kaufleute ohne kaufmännische Rechte (Klasse B) zahlten 11 von 73 rthl (15,1%) für das Jahr 1868.
673 Drittens war die Zahl der jüdischen Fleischer von 8 auf 6 zurückgegangen. Sie zahlten von insgesamt 8 veranlagten (75%) 22 von 30 rthl Gewerbesteuer für 1868 (73,3%).
674 Als einziger jüdischer Handwerker arbeitete Leffmann Goldschmidt als Färber, der aus seinem offenen Ladengeschäft selbstgefärbtes Nesselzeug zum Kauf anbot. Als einer von 12 veranlagten Handwerkern (8,3%) zahlte er 6 (12,5%) von 48 rthl p.a. Gewerbesteuer.
675 Drei jüdische Hausierer, zwei von ihnen auch Kleinhändler, betätigten sich im traditionellen Landhandel. Jakob Ginsberg handelte umherziehend mit Vieh, Häuten, Wolle und Erzeugnissen der Landwirtschaft. Auch Samuel Goldstein suchte die Bauern auf und handelte mit Vieh, Fellen, Pferden und landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Indem diese jüdischen Vieh- und Agrarproduktenhändler den Bauern Häute, Federn, Knochen, Eier, Milch, Butter, Garn, Leinen, Vieh etc. abkauften, verschafften sie ihnen Geldmittel, die sie so dringend für ihre Anschaffungen brauchten.
676 Neben den Manufakturwarengeschäften S. Frank Nachf. und David Jakobsohn und dem Weiß- und Wollwarengeschäft Geschwister Vogel waren die von Juden geleiteten Viehhandelsgeschäfte bis vor und nach dem Ersten Weltkrieg das dominierende Element der jüdischen Berufsstruktur der Gemeindemitglieder in Rahden. Ein Adressbuch aus dem Jahre 1908 nennt allein acht von Juden geführte Viehhandelsgeschäfte.4 Daneben existierte auch eine Rahdener Viehverwertungsgenossenschaft e.G.m.b.H., und in den 1920er Jahren soll es nach den Worten
677 3 Vgl. StdtA Rahden, A 765
678 89
679 des Viehhändlers Richard Haas, einem Sohn von Hermann und Emma Haas, nicht weniger als ca. 20 Viehgeschäfte in Rahden gegeben haben.5
680 Walter Hoffmann beschrieb die Entwicklung und Wirtschaftsweise des Viehhandelsgeschäfts seines Großvaters, Dagobert Haas und dessen Bruder Hermann Haas, wie folgt:
681 „Im Jahre 1934 gab es etwa 60 Juden in Rahden bei einer Bevölkerung von 3.000. Der Vorsitzende der Gemeinde war der Kaufmann Daniel Oppenheim, 2. Vorsitzender Rudolf Vogel. Im Raum der Synagoge war auch die Volksschule, der Lehrer war zuletzt Max Rhein. Die Schule soll immer sehr gut gewesen sein, so daß in früheren Jahren auch christliche Kinder in dieser Schule unterrichtet wurden, wie z.B. Kaufmann Lübking, der ein Kolonialwarengeschäft gegenüber der Köchlingschen Apotheke führte. Auch mein Großvater ging in Rahden in die jüdische Schule.
682 Die Juden im Ort waren kleine gewerbetreibende Unternehmer, ein Metzger und eine große Anzahl Viehhändler. Dies war eine Folge der Berufsbeschränkungen, der die Juden schon im Mittelalter unterlagen. Der Besitz und die Bearbeitung des Bodens war Juden untersagt, ebenso das Handwerk. Das Resultat war Handel, meistens Hausierer mit Altwaren. Das Metzgerhandwerk kam dadurch zustande, daß Juden die jüdischen Speisegesetze meistens streng befolgten. Um diese einzuhalten, mußten die Tiere besonders geschlachtet werden. Dieses unterlag dem Schochet, der ein Jude sein mußte und besonders dazu ausgebildet war. Das Vieh mußten die Juden daher selbst kaufen. Daraus wurden dann später Viehhändler.
683 Mein Großvater mütterlicherseits war Dagobert Haas ?d.i. David, *6.9.1861 in Rahden, verschleppt ins KZ Theresienstadt, danach nach Auschwitz oder Treblinka; Ehefrau: Sophie, geb. Bendit, *15.6.1871, gest. 23.9.1941 KZ Theresienstadt?. Dagobert fing an zu arbeiten, indem er Vieh für die Bauern der Umgebung schlachtete. Später gründete er dann mit seinem Bruder Hermann ?*28.12.1858, gest. 8.5.1931; Ehefrau: Emma, geb. Gottschalk, *25.3.1865, gest. 28.2.1934? einen Viehhandel. Erst wohnten beide in Kleinendorf, hatten beide dort Häuser sowie ein Grundstück, auf dem heute Amtsgebäude stehen gegenüber der Stadtverwaltung. Dagobert und Familie wohnten auf der Langen Straße etwa gegenüber dem Bierverleger Remann. Hermann und Familie wohnten, wo heute das Amtsgericht steht. Hermanns Haus brannte später ab, wahrscheinlich Brandstiftung. In dieser Zeit machte ein Brandstifter Rahden unsicher. Im Jahre 1906 bauten die Gebrüder Haas ein Zweifamilienhaus an der Bahnhofstraße 393 in Rahden, mit Stall für etwa 30-40 Kopf Großvieh, Remise und Heuboden. Anliegend größeres Weideland für das Vieh und angrenzenden Garten für Obst und Gemüse. Ein weiterer Garten lag auf dem Grundstück des heutigen Amtsgerichts. Diese Gärten ermöglichten eine Selbstversorgung der Familien. Das Geschäft entwickelte sich zu einem der größten in Westfalen. Das Geheimnis des Erfolges: es wurde immer mit Barem gezahlt und per Handschlag, der das Geschäft besiegelte. Handschlag bedeutete mehr als notarielle Verträge. Später wurden etliche Viehaufkäufer eingestellt. Aus denen wurden dann später alle erfolgreiche Viehhändler. Dagobert und Hermann waren die ganze Woche unterwegs, um Vieh zu kaufen, unterstützt durch zwei Aufkäufer sowie einem Viehpfleger. Jeden Montag fuhren die Gebrüder Haas immer mit dem ersten Zug, der Rahden verließ. Der Schwerpunkt des Tätigkeitsbereiches der Gebrüder Haas lag in der Provinz Hannover in der Gegend um Schwaförden und Sudwalde, 30-40 km nördlich von Rahden. Dort wurde später eine Weide in der Größe von 30 Morgen [ca. 7,6 ha] erworben, die an drei Straßen lag. Im Frühjahr wurde auf diese Weide Vieh gebracht, das dann im Herbst als Schlachtvieh verkauft wurde.
684 Freitags kamen die Gebrüder Haas dann nach Rahden zurück, und das Vieh wurde auch Freitags mit der Bahn nach Rahden geliefert. Gewöhnlich handelte es sich um 40-50 Stück Großvieh. Am Samstag kamen dann die Kunden, Großmetzger aus dem Raum Bielefeld und Bünde. Einer von ihnen ist noch heute im Geschäft und unterhält eine der größten Fleischfabriken in der Bundesrepublik. Gewöhnlich wurde das Vieh Samstags verkauft. Der Verkauf ging recht lebhaft zu und wurde durch Handschlag besiegelt. Verkaufszahlen wurden zwischen beiden Kontrahenten in hebräisch geführt. Den älteren christlichen Viehhändlern ist dies noch geläufig. Nur geht heute alles anders und über die Banken. Was nicht verkauft wurde, ging auf die Viehmärkte nach Dortmund und Essen. In Essen war Herr Louis Weidenbaum aus Rahden der Kommissionär und in Dortmund Hermanns Sohn Richard. Die Firma Haas war Erzeuger eigener landwirtschaftlicher Produkte für Vieh und Hausgebrauch, teils auf eigenem oder gepachtetem Boden. Eine besondere Freude war es immer für meinen lieben Großvater Dagobert, wenn er des Sonntags auf die Felder radelte und seinen Roggen usw. beschaute. Alles wurde getan, um eine gute Ernte herbeizuführen. Er war immer für den Betrieb da. Wenn es die Zeit erlaubte, überwachte er die Fütterung und Pflege seiner Kühe. Er war rüstig und voller Energie selbst im hohen Alter, wo andere im Lehnstuhl sitzen.
685 Natürlich hatte die Fa. Haas auch ihre Neider, und mein Großvater bekam etliche Male die Polizei ins Haus geschickt, da er unter Verdacht stand (nach Anzeige) Sonntags Geschäfte zu machen. Der Grund war, daß er des Sonntags gern zu den Bauern ging, um mit diesen zu schmusen oder zu küern, wie es auf Platt heißt.
686 Dagobert war die Seele des Geschäftes. Dies hatte er von seiner Mutter Dina [geb. Goldstein, *20.5.1827, gest. 11.10.1912], die sich bis zu ihrem Tod immer für das Geschäft interessierte."6
687 4 Vgl. Adressbuch aller Länder der Erde der Kaufleute, Fabrikanten, Gewerbetreibenden, Gutsbesitzer etc. Bd. 7a: Westfalen, Lippe-Detmold und Pyrmont. Nürnberg 1908, 13. Ausgabe, S. 388 5 Vgl. StADt, D 23 Nr. 55
688 6 Brief von Walter Hoffmann vom 16.2.1996 an Verfasser; Brief von demselben an Bürgermeister Spönemann verwahrt im StdtA Rahden.
689 90
690 3.3 Die Entwicklung der Berufsstruktur und der sozialen Schichtung in den jüdischen Gemeinden des Kreises Halle i.W. im 19. Jahrhundert
691 Bei der Verteilung des Gehaltes für den Oberrabbiner Moses Liebmann Friedheim (1757-1826), der in Bielefeld residierte und neben der Gemeinde in Bielefeld auch diejenigen des Kreises Halle i.W. betreute, in Höhe von 40 rthl 18 ggr (978 ggr) für das Jahr 1818, betrug der Anteil der jüdischen Gemeinde Halle i.W. 15% (147 ggr). Die Beitragspflichtigen in Versmold und einer in Steinhagen zahlten zusammen 11,4% (112 ggr), auf die Gemeinde Werther entfiel nicht weniger als 41,3 % (404 ggr), und der Anteil der Beitragspflichtigen in Borgholzhausen machte 32,2% (315 ggr) aus.1
692 Unter den neun Juden in Halle i.W. wurden vier als arm eingeschätzt. Zwei Juden waren Altwarenhändler (Trödler), einer arbeitete als Packenträger, einer als Kleinhändler und einer als Kaufmann. In Steinhagen arbeitete ein Jude als Hausierer, in Versmold wurden zwei Juden als arm eingeschätzt und einer als Altwarenhändler mit steuerfreiem Freipatent. Unter den acht Juden in Werther waren zwei Arme, ein Schlachter, ein Altwarenhändler, ein Viehhändler und drei Einzelhandelskaufleute mit eigenen Ladengeschäften.
693 64 Jahre später (1882) während der großen Depression (1873-95), nachdem sich eine jüdische Familie in Werther mit der Gründung einer Zigarrenfabrik (1877) zunächst mit einer Filiale in Theenhausen am Industrialisierungsprozess beteiligt hatte, verteilten sich die 57 jüdischen Haupterwerbstätigen im Kreis Halle i.W. auf die Berufsklassen Textilindustrie 5,25% (3 Beschäftigte), Nahrungs- und Genußmittelindustrie 14% (8), Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe 5,3% (3) und Waren- und Produktenhandel 66,7% (38). Außerdem gab es noch einen Rentier und 4 Dienstboten. Demgegenüber waren die 11.282 Haupterwerbstätigen der allgemeinen Bevölkerung des Kreises Halle i.W. zu 31,4% in der Landwirtschaft, 3,8% in der Textilindustrie, 0,15% in der Papier- und Lederindustrie, 3,4% in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, 3,2% im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe, 2,0% im Waren- und Produktenhandel, 0,35% im Beherbergungs- und Schankgewerbe, 0,3% in der Verwaltungs- und Rechtspflege, 0,8% in der Religionspflege- und Erziehung, 0,2% in der Gesundheits- und Krankenpflege und 0,08% als Musiker, Schriftsteller Schausteller beschäftigt. Auf die Kategorie „ohne Beruf" entfielen in der allgemeinen Bevölkerung 1,5%, als Dienstboten arbeiteten 9,2%.2
694 Im Folgenden soll dargestellt werden, inwieweit sich der Verbürgerlichungsprozess in wirtschaftlicher Hinsicht bei gleichzeitiger Abwanderung und Auswanderung in den einzelnen jüdischen Gemeinden ausformte.
695 1 Vgl. StdtA Werther, A 73; 1 Taler = 24 gute Groschen (ggr) ; 1 ggr = 12 Pfennige (d) (1763-1821) 2 Vgl. Preußische Statistik, Bd. LXXVI (3. Teil). Die Ergebnisse der Berufszählung vom 5.6.1882 im preußischen Staate. Berlin 1885, S. 356f
696 91
697 3.3.1 Halle i.W.
698 Im Jahre 1816 lebten in der Kreisstadt Halle i.W. 43 Juden mit Staatsbürgerrecht unter 1.055 Nichtjuden (4%), darunter 1.001 Einwohner evangelischer, 11 römisch-katholischer Konfessionalität.
699 Von den Juden lebten 2 (4,6%) selbständig von wissenschaftlichen oder künstlerischen Arbeiten, 24 (55,8%) waren haupterwerbstätig im Handel beschäftigt und einer (2,3%) arbeitete als Handwerker. Die Zahl der Nebenerwerbstätigen betrug unter den Juden also höchstens 16 (37,2%). Es gab unter den Juden keine Beamte oder Landwirte.
700 Im Vergleich zur Berufsstruktur der Juden lebten unter den Nichtjuden 22 als Beamte (16 Oberoffizianten, 6 Unteroffizianten) (2,1%) in der Kreisstadt mit eigenem Amtsgericht; 122 Nichtjuden (11,6%) gingen landwirtschaftlichem Erwerb nach als Eigentümer, Erbpächter oder Erbzinsleute, von denen 12 Land in der Größe von 15-300 Morgen (3,75-75 ha) und 110 Land unter 15 Morgen bewirtschafteten. Unter den 128 Bürgern (Beisassen) lebten 7 von Renten, wissenschaftlicher Arbeit und im Großhandel (5,5%), 102 im Handwerk, Einzelhandel und als Gastwirte (79,7%). Unter den männlichen Erwerbstätigen arbeiteten in der Kreisstadt 106 als Tagelöhner, 43 als Gesellen und Lehrlinge im Handwerk und im Einzelhandel, und 17 Knechte und Jungen waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Unter den erwerbstätigen Frauen gab es zwei, die Eigentümerinnen von Land in der Größe von 15-300 Morgen waren, vier besaßen Land unter 15 Morgen. Drei Frauen als Beisassen arbeiteten selbständig als Handwerkerinnen oder im Detailhandel, 7 weitere weibliche Beisassen als Handarbeiterinnen. In der Landwirtschaft arbeiteten 4 Wirtschafterinnen, weitere 12 als Gehilfinnen bei wissenschaftlicher und künstlerischer Betätigung, bei Handwerkern und im Einzelhandel. 54 Mägde arbeiteten in der Landwirtschaft.1
701 Der Verbürgerlichungsprozess der Juden in Halle i.W. lässt sich exemplarisch am besten an der Familiengeschichte und Wirtschaftsweise der Familie Stern darstellen. Der Vater des Kaufmanns Philipp Stern (*1789, gest. 9.3.1874), der Handelsmann und Schlachter Raphael Abraham (Anschel Levi), hatte um 1730 das Haus Nr. 6 am Kirchhof für 526 rthl vom Amtmann Schultzen gekauft und darüber eine Konzession aus Berlin vom 7.8.1770 erhalten.2
702 Philipp Stern soll im Jahre 1814 in Halle i.W. eine Rohproduktenhandlung gegründet haben. Seit dem 17.11.1818 war er mit Julie Windmüller (*1789 in Rheda, gest. 13.6.1854) verheiratet. Mit ihr hatte er sechs Kinder, nämlich 1. Raphael (*31.10.1819, gest. 23.12.1844), 2. Abraham (*16.7.1821), 3. Herz (* 12.5.1823), 4. Lene (* 13.5.1825), 5. Berta (*10.4.1828), 6. Meyer (*28.2.1831).3
703 Im Jahre 1828 erwarb Kaufmann Philipp Stern die Besitzung Nr. 11 (heute: Lange Str. 20, 20a) mit Wohnhaus, Lagerschuppen und Pferdestall.4
704 1 Vgl. StADt, M 2 Halle Nr. 7
705 2 Vgl. StdtA Halle, A 611
706 3 Vgl. Windmueller Horowitz, Inge et alii: Windmueller Family Chronicle. Richmond 1981. 2. Aufl., S. 93; StADt, P 2 Nr. 67
707 4 Vgl. Vortrag „175 Jahre Juden in Halle in Westfalen“, gehalten am 28.2.1996 von Dr. Uwe Heckert, S. 4; 100 Jahre Haller Kreisblatt. Unsere Heimat im Spiegel der Geschichte. (1982), Artikel: „Die Haller Juden“, S. 55
708 92
709 In einer Anzeige vom 23. Dezember 1818 bot Kaufmann Philipp Stern Kerzen zu 1 rthl pro 4 Pfund aus seiner „kürzlich etablirten Talglichter-Fabrik" und feine gesüßte und ungesüßte Schokolade für 12 gute Groschen pro Pfund an.5 Im Jahre 1840 suchte Philipp Stern um eine Konzession mit kaufmännischen Rechten nach, um seinen Handel, d.h. Ein- und Verkauf mit wollenen und baumwollenen Ellenwaren auch auf das Ausland ausdehnen zu können. Seinen Handel mit Bettfedern, Töpferwaren und Altkleidern beabsichtigte Stern weiterhin nur im Inlande zu betreiben.6 Der Landrat August zur Hellen befürwortete das Gesuch gegenüber der Bezirksregierung am 25.2.1840 mit den Worten:
710 „Die Stadt Halle ist im Grenzbezirke belegen und zählt 1364 Seelen. Der Bittsteller Philipp Stern hat schon längere Jahre sein Handelsgeschäft - so viel hier bekannt untadelhaft - betrieben und befindet sich in guten Vermögensverhältnissen und steht von ihm zu erwarten, daß derselbe sich ferner als solider Kaufmann und guter Bürger bewähren wird, so daß in dieser Hinsicht dessen Concessionirung unbedenklich erscheint."7
711 Am 8.8.1843 bestätigte Kaufmann Philipp Stern mit seiner Unterschrift, die Ministerial-Konzession, die es ihm erlaubte, „mit wollenen und baumwollenen Stuhl- und Kolonial-Waren" zu handeln, vom Bürgermeister Sprenger gegen eine Gebührenerstattung in Höhe von 43 Sgr empfangen zu haben. Diese Konzession berechtigte ihn nicht nur zum Import von Stoffen und Tuchen aus dem Ausland, d.h. nicht zum Deutschen Zollverein gehörigen Gebiete wie z.B. aus dem Königreich Hannover oder der Hansestadt Hamburg, sondern auch dazu, Genuss- und Lebensmittel wie Tee, Kaffee, Kakao, Reis und Gewürze importieren und aus seinem Ladengeschäft ins nichtpreußische Ausland versenden zu dürfen.
712 Laut Eintragung vom 3.4.1862 des Firmenregisters des Amtsgerichtes Halle i.W. ging die Firma Philipp Stern auf seinen Sohn, den Kaufmann Herz Stern über.8 In den Jahren 1869/71 unterhielt Herz Stern in Halle i.W. (Hausnr. 11) ein Handelsgewerbe mit kaufmännischen Rechten. Er war als Auswanderungsagent tätig und erzielte zudem Einkommen aus dem Verkauf von Lebensversicherungen und Getränken.9 Das Sortiment der Handelsgeschäftes erweiterte sich insofern, als die Firma Ph. Stern mittels Inserate vom 26.4.1882 im „Haller Kreisblatt“ „neueste Tapetenmuster", Knochenmehl, Saat- und Futterhafer anbot.
713 Mit Eintragung vom 23.12.1888 wurde die Firma Ph. Stern in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt und ging „durch Vertrag vom 12.12.1888 unter Übernahme sämtlicher Activa und Passiva auf die Kaufleute Victor und Robert Stern zu Halle i.W." über.10 Victor (*12.8.1861) und
714 Robert (*3.2.1864) waren Söhne aus der zweiten Ehe von Herz Stern mit Bertha, geb. Dalberg. Herz Sterns einzige Tochter aus seiner ersten Ehe mit Amalie Bendix, Gella Amalie (*11.7.1856),
715 5 Vgl. StdtA Bielefeld, Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg, Dezember 1818 6 Vgl. KAGt, H4 H LR1 084/06
716 7 Vgl. ebd.
717 8 Vgl. StADt, D 23 Halle Nr. 290
718 9 Vgl. Meise, Heinrich: Die Stadt Halle in Westfalen. Halle i.W. 1968, S. 172 10 Vgl. StADt, D 23 Halle Nr. 290
719 93
720 wurde am 30.7.1942 von Dortmund mit Transport Nr. X/1-590 ins KZ und Durchgangslager Theresienstadt verschleppt und gilt seit dieser Zeit als verschollen.11
721 Robert Stern war Inhaber der Lumpensortieranstalt in Halle i.W. an der Langestraße 20, in der vor dem Ersten Weltkrieg unter hundert und nach dem Ersten Weltkrieg über hundert Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt waren. Spätestens seit 1904 verlegte Robert Stern seinen Wohnsitz und sein Geschäftskontor nach Bielefeld. Auf die Arbeitsbedingungen und Beschäftigtenzahlen dieses expandierenden Betriebes soll in einem separaten Kapitel ausführlicher eingegangen werden. Über die Berufsstruktur aller zur Repräsentantenwahl berechtigten Gemeindemitglieder des Synagogenbezirks Halle i.W. gibt folgende Aufstellung vom 31.9.1853 Auskunft:
722 Tabelle 42: Berufe und Wohnorte der Mitglieder des Synagogenbezirks Halle i.W. im Jahre 1853
723 Name Beruf Alter Wohnort
724 1. Philipp Stern Kaufmann 65 Jahre Halle i.W.
725 2. David
726 Rosenbaum
727 Buchbinder 60 Jahre Halle i.W.
728 3. Feidel Stern Viehhändler 57 Jahre Halle i.W.
729 4. Selig Weinberg Buchbinder 53 Jahre Halle i.W.
730 5. Simon Goldstein Handelsmann 39 Jahre Halle i.W.
731 6. Bendix
732 Goldschmidt
733 Handelsmann 41 Jahre Halle i.W.
734 7. Nachmann
735 Bergfeld
736 Handelsmann 56 Jahre Brockhagen
737 8. Salomon
738 Wissbrunn
739 Handelsmann 44 Jahre Brockhagen
740 9. Meier Rose Handelsmann 68 Jahre Steinhagen
741 10. Herz Wissbrunn Kaufmann 34 Jahre Steinhagen
742 11. Heinemann
743 Wissbrunn
744 Kaufmann 30 Jahre Steinhagen
745 12. Salomon
746 Kirschbaum
747 Handelsmann 62 Jahre Hörste
748 Quelle: StdtA Halle, A Nr. 611
749 Bis auf die beiden Buchbinder erzielten alle männlichen Juden des Synagogenbezirks Halle i.W. ihre Einkommen aus ambulanten oder stehenden Handelsgeschäften.
750 Feidel Stern wurde in dem Geburtsregister mit Laufzeit von 1822-47 allerdings als Uhrmacher bezeichnet, arbeitete also als Handwerker, was nicht ausschloss, dass er auch mit neuen oder alten Uhren Handel trieb.12
751 Bei der Anzeige der Geburt seines Sohnes Alexander (*3.9.1848)
752 wurde sein Beruf mit Pferdehändler angegeben, eine Tätigkeit, die offensichtlich lukrativer war, als Uhren zu reparieren.13
753 In den Jahren 1869/71 unterhielt Feidel Stern in Halle i.W. (Hausnr. 104) ein Gewerbe ohne kaufmännische Rechte, in dem er u.a. mit Kolonialwaren handelte.14 11 StADt, P 2 Nr. 186, 187
754 12 Vgl. StADt, P 2 Nr. 123
755 13 Vgl. StADt, P 2 Nr. 186
756 14 Vgl. Meise, S. 173
757 94
758 Während Simon Goldsteins Beruf im Sommer 1846 noch mit Putzmacher angegeben wurde 15 , er u.a. also Damen- und Kinderhüte anfertigte und verkaufte, unterhielt er in den Jahren 1869/71 in Halle i.W. (Hausnr. 28) ein Handelsgewerbe mit kaufmännischen Rechten. Er handelte mit Öfen, Fellen und Altwaren.16 Später im Jahrhundert führte er offensichtlich weiterhin als Kaufmann mit eigenem Ladengeschäft eine Eisenwarenhandlung in Halle i.W. an der Langestraße 28, wo er im Dezember 1882 „Patent Schrauben-Schlittschuhe", das Paar zu 1,75 Mark, eine weitere Sorte Schlittschuhe namens „Halifax“ zu 3,50 M das Paar sowie Dezimal- und Tafelwaagen, verzinnte und lackierte Eimer, Bügeleisen und Feuergeräte zu billigen Preisen empfahl.17 Laut Eintragung vom 17.6.1901 wurde die Bielefelder Zweigniederlassung der Firma S. Goldstein in Halle i.W. zur Hauptniederlassung erhoben und Max Goldstein als persönlich haftender Gesellschafter ins Handelsregister eingetragen. Der Sitz der Firma wurde nach Bielefeld verlegt.18
759 Bendix Goldschmidt (Hausnr. 8) betrieb in den Jahren 1869/71 einen Handel ohne kaufmännische Rechte mit Vieh und Altwaren.19
760 Wie Kaufmann Philipp Stern im Jahre 1840 suchte auch der Handelsmann Nachmann Bergfeld aus der Gemeinde Brockhagen am 14.10.1842 um eine „Ministerielle Conzession zum Handel mit kaufmännischen Rechten“ beim Haller Bürgermeister Sprenger nach, um „Ellen- und Manufactur-Waaren sowohl aus dem Auslande zu beziehen, als auch davon Versendungen außerhalb des Ladens vorzunehmen.“20 In einem Gutachten vom 23.7.1842 befürwortete der Vorsteher von Brockhagen, Broel, das Gesuch des Handelsmannes, indem er Bergfelds Geschäftstätigkeit in seinem eigenen Laden mit lobenden Worten von der ambulanten Erwerbstätigkeit von Hausierern abhob:
761 „Schon seit einer längeren Reihe von Jahren, wohl circa 25 Jahren, hat der hiesige israelitische Handelsmann Bergfeld in hiesiger Gemeinde domicilirt und sich seit mehreren Jahren als Grundeigenthümer angekauft. Das Geschäft, was er treibt, besteht in einem Handel mit Elle- und mehrartigen Manufacturwaaren. Der p. Bergfeld hat in der Führung dieses seines Geschäfts nicht nur stets einen guten, unbescholtenen Namen bewahrt, sondern durch das von ihm geführte Geschäft auch in mehr als einer Rücksicht der Gemeinde genützt, besonders insofern, daß er stets mit zuverlässiger Waare die Käufer bedient, sie immer preiswertig abläßt und auf diese Weise den anderweitig verderblichen Hausirern Abbruch thut.
762 Da er nun stets ein rechtlicher und rechtschaffener Mann gewesen ist, seine Familie eine sehr große Kinderzahl hat, er deshalb und aus dem Grunde, weil er seine beiden bereits herangewachsenen Söhne nicht anders beschäftigen und versorgen kann, sein Geschäft zu erweitern genöthigt ist, so wäre zu wünschen, wenn dem p. Bergfeld die kaufmännischen Rechte verliehen würden, zumal da er die kaufmännischen Kenntnisse besitzt und jene Rechte bereits früher geholt hat."21
763 Nachdem auch der Landrat und das Hauptzollamt in Telgte das Gesuch befürwortet hatten, wurde die Konzession dem Kaufmann Nachmann Bergfeld am 18.1.1843 zugestellt. Das Hauptzollamt setzte voraus, dass Bergfeld über seine Geschäftstätigkeiten ordentlich Buch führte, so dass sie revidiert werden konnten, und seine Waren in angemeldeten Räumen aufbewahrte. Außerdem
764 15 Vgl. StADt, P 2 Nr. 123
765 16 Vgl. Meise, S. 172
766 17 Vgl. Haller Kreisblatt Nr. 86 vom 16.12.1882; Nr. 87 vom 20.12.1882
767 18 Vgl. StADt, D 23 Halle Nr. 281, Bd. 1, Firmennr. 44
768 19 Vgl. Meise, S. 173
769 20 Vgl. KAGt, H 4 H LR 1 084/11
770 21 KAGt, H 4 H LR 1 084/11
771 95
772 durfte er bei Warenversendungen nur Legitimationsscheine bei der Steuerstelle in Halle i.W. anfordern.
773 Eine von den Synagogenvorständen Bendix Goldschmidt und Feidel Stern am 22.5.1861 aufgestellte Klassensteuerliste erlaubt eine Schichtung der erwerbstätigen Mitglieder der Synagogengemeinde Halle i.W. aufgrund ihrer damaligen Einkommen. Danach erzielten die Kaufleute Stern aus Halle i.W. und Heinemann Wissbrunn, Inhaber eines Textilgeschäftes in der Gemeinde Steinhagen, die höchsten Einkommen (42,1%). Sie bildeten die Oberschicht der Steuerzahler im Jahre 1861. Die Kaufleute Nachmann Bergfeld und David Wissbrunn und der Handelsmann Simon Goldstein erwirtschafteten 31,6% der Gesamtsumme der monatlichen Klassensteuern in Höhe von 4 rthl 22 Sgr 6d (1.710d). Diese drei Gewerbetreibenden können also als die Mittelschicht der Steuerzahler bezeichnet werden. Auf die restlichen sieben Erwerbstätigen entfielen somit 26,3% der Steuersumme. Die niedrigsten Steuern zahlten von diesen Erwerbstätigen der Buchbinder Levi Rose aus Halle i.W. (1,75%) und der „Handelsmann mit allerhand Sachen", Meier Rose, aus Steinhagen.22
774 Noch höhere Klassensteuersätze als die Kaufleute Stern und Wissbrunn mussten der Rechtsanwalt Emil Friedlaender und der Kreisarzt Dr. med. Abraham Strauß entrichten, nachdem sie sich in den Jahren 1861 bzw. 1864 in der Kreisstadt niedergelassen hatten. So zahlte Strauß 24 rthl und Friedlaender 20 rthl im Vergleich zu Kaufmann Simon Goldstein, der 16 rthl Klassensteuer für das Jahr 1867 abführen musste.23
775 Nach seiner Tätigkeit als Gerichtsassessor ab 11.7.1857 bei den Kreisgerichten Dortmund und Hamm wurde Emil Friedlaender am 1.11.1861 zum Rechtsanwalt und Notar in Bielefeld ernannt und angewiesen, seinen Wohnsitz in Halle i.W. zu nehmen. Im August 1870 wurde es ihm gestattet, seinen Wohnsitz nach Bielefeld zu verlegen. In Halle i.W. soll Friedlaender längere Zeit als Stadtverordneter tätig gewesen sein.24
776 Tabelle 43: Monatliche Klassensteuerzahlungen der erwerbstätigen Mitglieder der Synagogengemeinde Halle i.W. im Jahre 186125
777 Name Wohnort, Hausnr. Gewerbe/
778 Familienstand
779 Monatliche Klassensteuer
780 Rthl Sgr d
781 1. Philipp Stern Halle i.W., Nr. 11 Kaufmann 1 -- --
782 2. Simon Goldstein Halle i.W., Nr. 28 Kaufmann -- 15 --
783 3. Feidel Stern Halle i.W., Nr. 31 Handelsmann -- 7 6
784 4. Levi Rose Halle i.W., Nr. 31 Buchbinder -- 2 6
785 5. Bendix
786 Goldschmidt
787 Halle i.W., Nr. 48 Handelsmann -- 5 --
788 6. Levi Kirschbaum Hörste, Nr. 76 Handelsmann -- 7 6
789 7. Salomon
790 Wissbrunn
791 Brockhagen, Nr. 5 Handelsmann -- 5 --
792 22 Vgl. StADt, P 2 Nr. 123
793 23 Vgl. KAGt, LR 1 59/6
794 24 Vgl. StdtA Bielefeld, Westermannsammlung, Bd. 52, S. 87
795 25 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 306; 1 Reichsthaler (rthl) = 30 Silbergroschen (Sgr); 1 Sgr = 12 Pfennige (d)
796 96
797 8. Nachmann
798 Bergfeld
799 Brockhagen, Nr. 124 Kaufmann -- 15 --
800 9. Meier Rose Steinhagen, Nr. 44 Handelsmann -- 2 6
801 10. Heinemann
802 Wissbrunn
803 Steinhagen, Nr. 147 Kaufmann 1 -- --
804 11. David Wissbrunn Steinhagen, Nr. 147 Kaufmann -- 15 --
805 12. Wissbrunn Steinhagen, Nr. 147 Witwe -- 7 6
806 Summe 4 22 6
807 = 1.710 d
808 Quelle: StADt, M 1 I L Nr. 306
809 Minninger schrieb über ihn:
810 „[...] 1861, nach dem innenpolitischen Kurswechsel der sog. Neuen Ära, konnte erstmals in Bielefeld mit Emil Friedlaender aus Brilon ein jüdischer Rechtsanwalt seine Zulassung erhalten. Die Bielefelder Juristengesellschaft und damit auch der Anwaltsverein gehen auf den Juden Friedlaender als Gründer und langjährigen Vorsitzenden zurück und bezeugen damit seine Integration.[...]"26
811 Nachdem der Kreisarzt des Kreises Halle i.W., Sanitätsrat Dr. med. Gieseler, am 28.8.1863 gestorben war und der Kreisphysikus Dr. med. Beckhaus/Bielefeld interimistisch mit dem Amt betraut worden war, andererseits der praktische Arzt Fischer/Spenge seine Bewerbung um die Physikatsstelle des Kreises Halle i.W. wieder zurückgezogen hatte, wurde mit Schreiben vom 20.5.1864 der praktische Arzt Dr. med. Abraham Strauß aus Brilon von der Bezirksregierung in Minden aufgefordert, die „Geschäfte als Kreisphysikus" aufzunehmen. Zuvor sollte er sich beim Landrat Clemens August Graf von Korff-Schmising vorstellen, sich von ihm vereidigen lassen und dann die Physikatsregistratur übernehmen.
812 Am 1.6.1864 wurde Abraham Strauß in Halle i.W. vom Kreissekretär Carl Klostermann, der den dienstlich verhinderten Landrat vertrat, vereidigt. Der Amtseid, den Dr. med. Abraham Strauß ableistete, lautete wie folgt:
813 „Ich Abraham Strauß schwöre bei Adonai, dem Gotte Israels, einen leiblichen Eid, daß, nachdem ich zum Kreis Physikus des Kreises Halle i.W. ernannt worden bin, Seiner Königlichen Majestät von Preußen, meinem Allergnädigsten Herrn, treu und gehorsam sein und alle mir vermöge meines Berufs obliegenden Pflichten nach den darüber bestehenden oder noch ergehenden Verordnungen auch sonst nach meinem besten Wissen und Gewissen genau zu erfüllen und endlich die Verfassung gewissenhaft beachten will. Dies schwöre ich, so wahr mir Gott helfe, und wenn ich meinen Eid übertrete, so mögen mich der mir geschehenen Verwarnung gemäß alle nach göttlichen und menschlichen Gesetzen über solche Untreue und Entheiligung des göttlichen Namens verhängte Strafen treffen.“27
814 Strauß verpflichtete sich, unentgeltlich königliche Beamte auf Anordnung der Staatsbehörden ärztlich zu untersuchen und Atteste über ihren Gesundheitszustand auszustellen. Der Kreisarzt hatte die ärztliche Oberaufsicht über die Schulen, Krankenhäuser und Gefängnisse sowie über das Impf-, Apotheken- und Hebammenwesen in seinem Zuständigkeitsbezirk. Strauß erhielt ein Jahresgehalt von 200 rthl (1875: 900 M) aus seinem Hauptamte und 12 rthl für seine Behandlung von Strafgefangenen. Zum Vergleich: der Kreischirurg und der Kreistierarzt erhielten ein Jahreseinkommen aus ihren Hauptämtern von je 100 rthl für 1864. Als Armenarzt erhielt der
815 26 Minninger, Monika: Die Verdrängung jüdischer Juristen im Landgerichtsbezirk Bielefeld, in: Herzig, Arno.; Determann, Andreas; Teppe, Karl (Hg.): Verdrängung und Vernichtung der Juden in Westfalen. Münster 1994, S. 17 27 KAGt, L R 1 59/6
816 97
817 Kreischirurg zusätzlich 50 rthl p.a., und der Kreistierarzt verbesserte sein jährliches Einkommen um 90 rthl, da zu seinen Pflichten auch die Überwachung der Viehmärkte im Kreis gehörte.28
818 Innerhalb der jüdischen Synagogengemeinde wurde Dr. med. Abraham Strauß am 15.2.1866 mit 5 von 9 Stimmen zum stellvertretenden Vorstandsmitglied gewählt. Zu Vorstehern wurden der Handelsmann Bendix Goldschmidt, Rechtsanwalt Friedlaender und Kaufmann Simon Goldstein gewählt. Am 19.8.1872 wurde Strauß mit Kaufmann Feidel Stern und Handelsmann Markus Wissbrunn zum Vorsteher und am 31.5.1875 mit Kaufmann Herz Stern und Pferdehändler Raphael Stern erneut zum Vorstandsmitglied der Synagogengemeinde Halle i.W. gewählt.29
819 Im Mai 1876 wurde Abraham Strauß vom Minister der geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in den Stadtkreis Barmen versetzt. Sein Nachfolger als Physikus des Kreises Halle i.W. wurde Dr. med. Theodor Hermann Kranefuß.30
820 Bei Einführung der revidierten Städteordnung im Jahre 1835 zählte die Kreisstadt Halle i.W. 1.339 Einwohner und 237 Familienvorstände. Von diesen hatten 114 (48,1%) das aktive Stimmrecht - unter ihnen nur ein jüdischer Bürger (Kaufmann Philipp Stern) - und 39 (16,4%) das passive Wahlrecht.31
821 Die Urwählerlisten der stimmberechtigten Gemeindewähler in Halle i.W. von 1882, 1884, 1893 und 1899 zeigen zweierlei. Erstens war die Zahl der jüdischen steuerzahlenden Bürger der Kreisstadt auf 3-5 zurückgegangen. Zweitens verdeutlichen die Listen, dass die jüdischen Bürger proportional mehr Steuern zahlten, als ihr Anteil an allen stimmberechtigten Bürgern ausmachte. Für 1882 zahlten die jüdischen Kaufleute Herz Stern und Simon Goldstein und die Pferdehändler Raphael und Alexander Stern (4 von 145) - also ca. 2,8% aller Stimmberechtigten - ca. 4% der gesamten Steuersumme. Für 1884 betrug der Anteil der drei jüdischen Steuerzahler, der Kaufleute Max Goldstein, Herz und Raphael Stern (3 von 138, ca. 2,2%) wiederum ca. 4% der Gesamtsteuersumme.32 Im Jahr 1893 machte der Anteil der drei jüdischen Steuerzahler, der Kaufleute Robert Stern und Max Goldstein und des Handelsmanns Raphael Stern (3 von 210) ca. 1,4% aus. Sie zahlten aber 2,2% der Gesamtsteuersumme.33 1899 machte der Anteil der fünf jüdischen Steuerzahler, der Kaufleute Robert Stern und Max Goldstein, des Pferdehändlers Raphael Stern, des Viehhändlers Josef Sachs und der Rentnerin Bertha Stern (5 von 353) wiederum ca. 1,4% aus, sie zahlten aber 3,6% der Gesamtsteuersumme.34
822 28 Vgl. KAGt, L R 1 59/4. Der in Borgholzhausen wohnende und seit 17.4.1838 als Kreischirurg und Wundarzt praktizierende Carl Theodor Halbach erzielte allerdings für das Jahr 1864 aus seiner privaten Praxis als Wundarzt ein viel höheres Einkommen (600 rthl).
823 29 Vgl. StdtA Halle, A 611
824 30 Vgl. KAGt, L R 1 59/6
825 31 Vgl. StdtA Halle, A 119
826 32 Vgl. StdtA Halle, A 133
827 33 Vgl. StdtA Halle, A 134
828 34 Vgl. StdtA Halle, A 135
829 98
830 Diese Daten widerlegen die stereotypen Vorwürfe antisemitischer Politiker der 1880er und 1890er Jahre, dass die Juden Ausbeuter gewesen seien. Auch die Steuerleistungen der jüdischen Bürger von Werther machen deutlich, dass diese Unterstellungen der Wahrheit entbehrten und für die jüdischen Bürger als Affront aufgefasst werden mussten.
831 Tabelle 44: Steuerleistungen jüdischer Bürger von Halle i.W. in Mark (1882-1899)35 Name/Beruf 1882 1884 1893 1899
832 1. Herz Stern
833 Kaufmann
834 316 429 --- ---
835 2. Raphael
836 Stern
837 Pferdehändler
838 95 83 67 76
839 3. Alexander
840 Stern
841 Pferdehändler
842 32 --- --- ---
843 4. Robert Stern
844 Kaufmann
845 --- --- 396 1.013
846 5. Simon (Max)
847 Goldstein
848 Kaufmann
849 295 318 180 313
850 6. Josef Sachs
851 Viehhändler
852 --- --- --- 43
853 Quellen: StdtA Halle, A 133, 134, 135
854 Im Mai 1900 umfasste die Synagogengemeinde Halle i.W. acht Mitglieder, von denen sechs in der Kreisstadt selbst und zwei in der Gemeinde Brockhagen ihren Wohnsitz hatten. Darunter waren zwei Kaufleute, vier Viehhändler, ein Schlachter und ein Lehrer. Nach dem Fortzug der Gemeindemitglieder Friedlaender und Strauß gab es keine Beamten mehr am Ort, auch Handwerker fehlten.36
855 3.3.2 Werther
856 Zu den 15 jüdischen Gemeindemitgliedern von Werther, die für das Jahr 1824 zum Gehalt des Oberrabbiners Moses L. Friedheim in Bielefeld beitragen sollten, gehörten drei Männer, die als so arm eingeschätzt wurden, dass sie keinen Beitrag leisten mussten. Zu dieser steuerlichen Unterschicht gehörten ein Schlachter und Makler, ein Pferdehändler und ein Handelsmann. Die drei am niedrigsten eingeschätzten Zensiten müssen ebenso zur Unterschicht gezählt werden. Diese waren 1. ein Schreibfedernmacher und Militärinvalide, der vermutlich im antifranzösischen Befreiungskrieg teilgenommen hatte; 2. ein Handelsmann und 3. ein Altwarenhändler (Trödler). Auch die beiden nächsthöher eingeschätzten Steuerzahler gehörten noch zur steuerlichen Unterschicht der jüdischen Erwerbstätigen von Werther. Bei ihnen handelte es sich um einen
857 35 Vgl. StdtA Halle, A 133, 134, 135. Die einzelnen Steuerleistungen verstehen sich als die Summe der für das jeweilige Jahr gezahlten Klassen-, Grund-, Gebäude-, Gewerbe- und Gemeindesteuern. 36 Vgl. StdtA Halle, B 496
858 99
859 ehemaligen Lehrer und Zehngeboteschreiber (hebr. sofer), der auch mit Altwaren handelte und als Lotterieunterkollekteur fungierte, und einen weiteren Altwarenhändler. Diese acht Zensiten (53%) konnten also nicht mehr als 6,9% (28 Sgr von 407 Sgr) des Anteils am Gehalt des Rabbiners, der auf die Gemeindemitglieder von Werther fiel, aufbringen.
860 Zur steuerlichen Mittelschicht gehörten fünf Zensiten, die zusammen 40,3% des Rabbinergehaltsanteils aufbrachten. (164 Sgr von 407 Sgr). Es waren ein Schlachter, ein Pferdehändler, ein Einzelwarenhändler, ein Viehhändler und eine Person, die Kommissionsgeschäfte betrieb. Da sie alle neben einem Familien- auch einen Vermögensklassenbeitrag entrichten mussten, kann man schlussfolgern, dass sie alle Grund- und Hauseigentümer bzw. Ladenbesitzer waren. Die Oberschicht der Vermögenden innerhalb der jüdischen Gemeinde, zwei weitere Einzelhändler mit eigenen Ladengeschäften, trugen nicht weniger als 52,8% zu dem Rabbinergehaltsanteil bei (215 Sgr von 407 Sgr).1
861 Tatsächlich waren die meisten jüdischen Gewerbetreibenden und Steuerzahler der Mittel- und Oberschicht schon im Jahre 1824 Hausbesitzer in Werther.
862 1 Vgl. StdtA Werther, A 73
863 100
864 Tabelle 45: Verteilungsliste des Betrags vom Bezirk Werther zum Rabbinergehalt für 1824 von der Judenschaft des Kreises Halle i.W.
865 Name/Beruf
866 Familienklasse
867 Beitrag Vermögensklasse
868 Beitrag Beitrag zum
869 Rabbinergehalt
870 Rtl Sgr Rtl Sgr Rtl Sgr
871 1. Itzig Moses
872 Goldschmidt
873 Schlachter, Mäkler
874 arm -- -- -- -- -- -- --
875 2. Gumpel M.
876 Neustädter
877 Pferdehändler
878 arm -- -- -- -- -- -- --
879 3. Moses Goldschmidt
880 Handelsmann
881 arm -- -- -- -- -- -- --
882 4. Bernhard Cahen
883 Schreibfedernfabrikant
884 I -- 4 -- -- -- -- 4
885 5. Jacob Alsbach
886 Handelsmann
887 I -- 4 -- -- -- -- 4
888 6. Feibes Sachs
889 Trödler
890 II -- 4 -- -- -- -- 4
891 7. Bendix Cramer
892 ehem. Lehrer,
893 Zehngebotsschreiber,
894 Lotterieunterkollekteur,
895 Trödler
896 II -- 8 -- -- -- -- 8
897 8. Levi Norden
898 Trödler
899 II -- 8 -- -- -- -- 8
900 9. Meyer Feibes Sachs
901 Schlachter
902 II -- 8 V -- 12 -- 20
903 10. Alexander Jacob
904 Pferdehändler
905 II -- 8 V -- 12 -- 20
906 11. Simson Aron
907 Weinberg
908 Detailhändler
909 II -- 8 II 1 14 1 22
910 12. Salomon M. Greve
911 Viehhändler
912 II -- 8 II 1 14 1 22
913 13. Bendix Aron
914 Weinberg
915 Detailhändler
916 III 1 -- I 2 17 3 17
917 14. Meyer
918 Abrahamson
919 Detailhändler
920 III 1 -- I 2 18 3 18
921 15. Bendix Meyerson
922 Kommissionär
923 II -- 8 V -- 12 -- 20
924 Summe 13 17
925 = 407
926 Quelle: StdtA Werther, A 73
927 1. Handelsmann und Schlachter Meyer Feibes Sachs war Eigentümer von Haus Nr. 36 seit 1815. Als er am 29.7.1823 verstarb, hinterließ er eine Witwe und fünf Söhne, von denen Aron Meyer Sachs das Haus Nr. 36 von seinem Bruder Heinemann Meyer Sachs, der das Haus 1821 geerbt hatte, am 2.3.1826 erwarb.
928 2. Pferdehändler Alexander Jakob kaufte Haus Nr. 15 am 3.6.1828. Da der Voreigentümer, der Kunstdrechsler Johann Strathmann am 6.4.1824 verstorben war, ist es möglich, dass Jakob das Haus schon früher angemietet hatte.
929 3. Handelsmann Simson Aron Weinberg erbte das väterliche Haus Nr. 11 am 12.12.1811.
930 101
931 4. Am 4.12.1820 kaufte Viehhändler Salomon Marcus Grewe die Stätte Haus Nr. 21, zu der ein Wohnhaus, ein Nebenhaus und eine Scheune gehörten, für 1.350 rthl. Möglicherweise war es dieses Nebenhaus, das als Synagoge für die Gemeindeglieder von Werther seit ca. 1787 diente.2
932 5. Bendix Aron Weinberg kaufte Haus Nr. 7 am 11.1.1810 mit Hof und 1/3 Garten zu einem Preis von 3287 Francs, 25 Centimes (900 Thaler Courants).
933 6. Handelsmann Meyer Abrahamson kaufte Haus Nr. 34 im Jahre 1799. Sein Sohn, der Blaufärber Moses Meyerson, erbte das Haus im Jahre 1825.
934 7. Kaufmann Bendix Meyerson erwarb Haus Nr. 33 im Jahre 1821.3
935 Nach Richarz 3b
936 erfüllten die jüdischen Händler und Kaufleute in der ländlichen
937 Wirtschaftsverfassung vier Funktionen:
938 Erstens exportierten die ambulanten jüdischen Händler, die sowohl Stall- als auch Markthandel betrieben und ihre Distrikte unter sich nach Familien getrennt aufgeteilt hatten, agrarische Produkte der Bauern wie Getreide, Kühe, Pferde, Flachs, Felle, Häute, Wolle, Talg, Holz, Federn, Knochen, Eier, Butter, Milch etc. oder auch Altkleider und Altmetall zu den lokalen und interregionalen Märkten, wo sie diese Waren an Einzel- und Großhändler verkauften. Beispielsweise besuchten jüdische und nichtjüdische Viehhändler und Schlachter aus Halle i.W. und Werther am 26.10.1835 den Viehmarkt in Preußisch Oldendorf unterm Limberg, der mindestens 20 km entfernt lag, um dort Kühe zu kaufen und zu verkaufen.4 Das bedeutete, dass die jüdischen Händler aus Halle i.W. und Werther nicht nur die lokalen Kram- und Viehmärkte im Frühjahr oder Herbst besuchten, um Vieh oder andere Waren zu verkaufen oder einzukaufen, sondern auch bereit waren, zum Herbstmarkt nach Preußisch Oldendorf im benachbarten Kreis Lübbecke zu fahren, um Handel zu treiben.
939 Zweitens importierten die jüdischen Händler Fertigwaren, aber auch Vieh und Nahrungsmittel, wenn der Landwirt diese Produkte nicht selbst herstellen bzw. züchten konnte. Beispielsweise legitimierte der Gewerbeschein für den Kaufmann Jordan Bendix Weinberg im Jahr 1872, „für eigene Handlung Bestellungen auf Manufakturwaren und Colonialwaaren, Korn und Landesprodukten zu suchen und Waaren aufzukaufen.“5 Die Familie Weinberg leitete seit 1798 ein Ladengeschäft für Manufaktur- und Modewaren in Werther. Wie das Manufakturwarengeschäft M. B. Weinberg in Lübbecke, das von Verwandten geführt wurde, oder Kaufmann Levi A. Löwenstein in Preußisch Oldendorf kauften auch die Weinbergs aus Werther schon vor der Jahrhundertmitte ihre Stoffe auf der Leipziger Michaelismesse ein.6 Später allerdings nach Einführung von Konfektionswaren auf dem Kleidermarkt trat die Firma Jordan Bendix Weinberg in
940 2 Vgl. StdtA Werther, A 74
941 3 Ich danke Dipl. Ing. Ulrich Maaß, Werther, für seine freundliche Erlaubnis, seine Forschungen zur Geschichte des jüdischen Grund- und Hausbesitzes einsehen und zitieren zu dürfen.
942 3B Vgl. Richarz, Monika: Emancipation and Continuity. German Jews in the Rural Economy, in: Mosse, W.; Paucker, A.; Rürup, R. (Hg.): Revolution and Evolution 1848 in German Jewish History. Tübingen 1981, S. 95-115. 4 Vgl. StdtA Werther, A 232
943 5 Vgl. StdtA Werther, A 381
944 6 Vgl. StdtA Werther, A 76
945 102
946 Werther dem Einkaufsverband mitteldeutscher Manufakturisten Berlin (Texag) bei und konnte sich auf diese Weise die weite Reise nach Leipzig sparen, da der Großeinkauf Preisvorteile für den Einzelhändler bot und über Vertreter, Kataloge und Telefon oder Einkaufstagungen abgewickelt wurde.7 Bis in die 1930er Jahre hinein verkauften die Inhaber oder auch Angestellte dieser Firma nicht nur auf Bestellung Kleidungsstücke, die sie maßgeschneidert nähen und anfertigen ließen, in ihrem Ladengeschäft, sondern bereisten auch ihre Kunden in der Umgegend, um weitere Bestellungen aufzunehmen, Agrarprodukte abzukaufen oder auch Klee- und Rübensamen zu verkaufen.
947 Drittens vergaben jüdische Händler auch kleinere Darlehen an ihre bäuerliche Kundschaft, wenn sie durch ihre Handelstätigkeit ausleihbares Kapital erwirtschaftet hatten. Gerade in der Zeit der Bauernbefreiung (1808ff) und der Ablösungen (1825ff), in der der grundbesitzende Adel seine Güter erweiterte, waren die ehemals abhängigen bäuerlichen Grundbesitzer auf Konsumtionskredite zur Überbrückung der hungrigen Monate zwischen Aussaat und Ernte oder Kredite für notwendige Anschaffungen und Investitionen angewiesen. „Das Darlehen, das die Bauern von den Juden erhalten konnten, war zumeist ein kurzfristig gewährter Kleinkredit und seiner Funktion nach nicht geeignet, eine langfristige Hofsanierung zu ermöglichen.“8
948 Doch manchmal war die Laufzeit eines hypothekarischen Darlehens, das von jüdischen Kreditgebern nichtjüdischen Bauern gewährt wurde, recht lang. So wurde ein Darlehen über 100 rthl, das dem königlichen Erbpächter Franz Prange in Holtfeld Nr. 58, einer Bauerschaft im Kirchspiel Borgholzhausen, ab Mai 1830 zu einem Zinsatz von 5% p.a. aus den testamentarischen Legaten des Wertheraner Handelsmannes Meyer Abrahamson vom 17.6.1825 verliehen wurde, erst 42 Jahre später vom nachfolgenden Erbpächter gekündigt.9 Ob allerdings hypothekarische Darlehen in Höhe von 100 oder 200 rthl als Kleinkredite in den 1820er und 1830er Jahren bezeichnet werden können, mag mit guten Gründen bezweifelt werden, wenn man bedenkt, dass das Jahreseinkommen aus dem Hauptamte des Kreisarztes des Kreises Halle i.W. in der Mitte der 1860er Jahre nicht höher als 200 rthl war. Im März 1828 wurde nämlich dem Arröder Friedrich Wilhelm Schwarze, Anerbe der Arröderei Nr. 7 des Gutes Werther, ebenfalls aus den Meyer Abrahamsonschen Armenlegaten ein Darlehen von 200 rthl auf hypothekarischer Sicherheit zu einem Zinsfuß von 5% pro Jahr verliehen.10 „Bei Arrödern handelt[e] es sich um Kleinbauern auf
949 7 Vgl. StdtA Werther, B 77; Landes, David: The Jewish Merchant. Typology and Stereotypology in Germany, in: LBIYB, Bd. XIX (1974), S. 19; Sellien, R.; Sellien, H. (Hg.): Dr. Gablers Wirtschaftslexikon. Wiesbaden 1965, Bd. 1, Spalte 1036
950 8 Erb, Rainer: „Jüdische Güterschlächterei“ im Vormärz. Vom Nutzen des Stereotyps für wirtschaftliche Machtstrukturen, dargestellt an einem westfälischen Gesetz von 1836, in: International Review of Social History, Jg. 30 (1985), S. 327
951 9 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 319
952 10 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 319. Zur Begrenzung des Zinssatzes für Hypothekendarlehen von jüdischen oder nichtjüdischen Kreditgebern mit kaufmännischen Rechten auf 5% p.a. bis 1867 nach den Vorschriften des preußischen Allgemeinen Landrechtes siehe Blömer, Maria: Wucher auf dem Lande, in: Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.): Westfalens Wirtschaft am Beginn des „Maschinenzeitalters“. Dortmund 1988, S. 23-45, besonders S. 30
953 103
954 aufgeteilten [...] Ländereien von Rittergutsbesitzern. Kennzeichnend für diese war die begrenzt vererbbare Verfügung über einen Parzellenbetrieb von selten mehr als 10 Morgen Land sowie die Verpflichtung zur Pachtzahlung und zur Ableistung ungemessener, gegen ortsüblichen Lohn abgegoltener Tagelöhnerdienste auf dem Rittergut.“11 Da der Realwert der Arröderei Nr. 7 auf 2.078 rthl 19 Sgr 4d eingeschätzt wurde und das Grundstück noch nicht hypothekarisch belastet worden war, stand der Gewährung des Hypothekendarlehens nichts entgegen. Die Laufzeit des Darlehens betrug mindestens sechs Jahre, denn Vorsteher Bendix Aron Weinberg berichtete dem Bürgermeister von Werther am 27.3.1834 im Zusammenhang mit einer Untersuchung über die Frage, ob die Zinsen des Abraham Meyersonschen Legats über 100 rthl zur Ausbildung armer jüdischer Kinder zu Handwerkern zur Verfügung stünden, dass das Kapitel noch bei Schwarz Nr. 7 zu Werther Arrode deponiert sei.12
955 Tatsächlich wurden aber auch kleinere Darlehen unter 100 rthl von Wertheraner Juden an ihre bäuerliche Kundschaft ausgeliehen. So versicherte der Haupterbe und Testamentsvollstrecker eines Legats in Höhe von 120 rthl aus dem Testament des Handelsmannes Aron Bendix Levi (1740-1812) zum Bau einer Synagoge in Werther, Simson Aron Weinberg, gegenüber Bürgermeister Kottenkamp am 20.8.1834, dass er das A.B. Weinbergsche Legat liquide machen könne, da er ein Kapital bei dem Bauern Dickhöner in Twelen bei Schildesche in Höhe von 85 rthl verliehen habe, das „jährlich mit 15 rthl ausbezahlt werde bis Zinsen und Kapital gedeckt oder zurückbezahlt seien, von den Jahren Sptbr 1833 bis dahin 1834 sei der Dickhöner die Zinsen von 100 rthl à 5% noch schuldig [...]“13 Außerdem könne er noch ein Kapital in Höhe von 30 rthl, das dem Bauern Kerkhoff zu Deppendorf ausgeliehen sei, sicherstellen.
956 Die Tatsache, dass jüdische Handelsleute aus Werther mit verliehenen Geldern Zinseinkommen erwirtschaften, war allerdings manchmal bitter notwendig, denn die finanzielle Lage des einzelnen jüdischen Handelsmannes war nicht immer allzu günstig wie folgendes Beispiel belegt. Am 27.3.1834 berichtete der Handelsmann Simson Aron Weinberg vor dem Bürgermeister von Werther Folgendes:
957 „Unser (der Gebrüder Weinberg) Vater [ARON BENDIX LEVI (1740-1812)] hat allerdings ein Testament gemacht und in demselben ein Kapital von 120 rtl ausgesetzt, welches zum Bau einer Kirche, wenn ein solcher einst unternommen werden möchte, verwendet werden sollte; bis dahin aber sollten die Zinsen dem zeitigen Lehrer, der das Gebet spreche, zu Gute kommen.
958 Da ich Haupterbe und Testamentsvollstrecker war, so hätte ich für die Sicherstellung dieses Legats sorgen müssen, da ich aber mehr Schulden meines Vaters bezahlt habe und bezahlen mußte, als mir überwiesen waren, welche aus der Masse hätten bezahlt werden müssen, die mir zu bezahlen aber allein aufgebürdet wurden, so habe ich diese 120 rtl zur Deckung der Schulden so lange verwendet, bis mir die ausgelegte Bezahlung derselben erstattet wird.
959 Es kann möglich sein, daß dieses Legat, das beim Kerkhoff zu Deppendorf belegt gewesene Kapital war, ich habe es aufgenommen und die Schulden meines Vaters damit bezahlt, indessen hat der Lehrer die testirten Zinsen immer bekommen. Um die Sache verständlich zu machen, muß ich weiter ausholen und bemerken, daß mir bei der Theilung der Masse circa 4-5000 rtl Passiva übertragen wurden, wovon vieles zu 6% verzinst werden mußte; dagegen übernahm ich auch die Aktiv Schulden. Von diesen sind viele ausgefallen, die nicht zahlen konnten; zu jenen, nehmlich den Passiv Schulden, fanden sich noch mehrere, von denen Niemand etwas wußte; da ich nun einmal Haupterbe war, so hielten sich die Passivschulden an mir ?sic?, und ich mußte zahlen und bin sogar gepfändet worden. So standen auf dem Haus des Vaters auch noch 600 rtl; ich habe sie bezahlen müssen, obgleich ich das Haus ganz frei übernommen habe. Da nun noch Schulden vom Vater vorhanden waren, so glaubte ich die Aufnahme der 120 rtl zur Tilgung
960 11 Mager, Wolfgang: Protoindustrialisierung und agrarisch-heimgewerbliche Verflechtung in Ravensberg während der Frühen Neuzeit. Studien zu einer Gesellschaftsformation im Übergang, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 8 (1982), S. 468
961 12 Vgl. StdtA Werther, A 74
962 13 Ebd.
963 104
964 derselben durch das Angeführte vollkommen gerechtfertigt zu haben und habe weiter nichts hinzuzusetzen, als die Bemerkung, daß ich alles Gesagte beweisen kann.“14
965 Viertens konkurrierten Juden auch mit dem grundbesitzenden Adel während der Ablösungen darum, verschuldete Landgüter aufzukaufen und wieder zu verkaufen oder zu verpachten. Solange den befreiten Bauern keine alternativen Möglichkeiten der Kreditversorgung, z.B. in Form von ländlichen Darlehenskassen und Kreditanstalten gegeben wurde, war es legitim und legal, dass sich Juden bei den Versteigerungen beteiligten und Landkäufe tätigten. Im Unterschied zu den vier Paderborner Kreisen, wo als Antwort auf die wachsende Verschuldung der Grundbesitzer in der Agrarkrise der 1820er Jahre eine gegen die Juden gerichtete Kabinettsorder vom 20.9.1836 die Gewerbefreiheit der Juden einschränkte und mit der Einrichtung einer Tilgungskasse im selben Jahr den abzulösenden Grundbesitzern ein alternativer Weg geboten wurde, ihre Schulden durch jährliche Geldrenten an die staatliche Kasse abzutragen, war es im Regierungsbezirk Minden ein normales Verfahren, dass sich Juden an Versteigerungen von Grundgütern beteiligten.15
966 Nachdem der Handelsmann Bendix Aron Weinberg aus Werther im Jahre 1829 das Westerhaussche Kolonat in Lenzinghausen Nr. 14 beim Land- und Stadtgericht Bünde zum Preis von 4.400 Talern ersteigert hatte und danach an einen Korfhage für 5.200 Taler (zur Hälfte in Gold, zur Hälfte in Courant) wieder verkauft hatte, erhob der Landrat Georg von dem Bussche-Münch des Kreises Rahden Forderungen auf Zahlung von Weinkaufgeldern in Höhe von 10% der Kaufsummen von beiden Käufern, insgesamt also 960 rthl, da das Westerhaussche Kolonat dem Gut Werburg im Kreis Bünde eigenbehörig war. Dessen Besitzer war nämlich der Landrat.16 Gegenüber der Ablösungsgeneralkommission in Münster machte der Landrat am 28.11.1829 deutlich, dass er nicht eher der Ablösung des Kolonats zustimmen könne, bis jeder Käufer seine Weinkaufgelder an ihn bezahlt hätte. Ausdrücklich berief er sich auf § 34 der Ablösungsordnung. Weinberg und Korfhage berichteten der Generalkommission brieflich am 10.11.1829, dass sie nach §§ 68ff der Ablösungsordnung dem Landrat 200 rthl in Gold als Kapitalabfindung und Rückstandsrente angeboten hätten, die er aber offensichtlich als ungenügend abgelehnt hatte. Weinberg und Korfhage baten die Ablösungskommission darum, das Ablösungsgeschäft unter Vermittlung der Land- und Stadtgerichtsassessoren Bergmann in Bielefeld und Lampe in Halle i.W. abzuwickeln. Ihr Angebot, dem Landrat eine Kapitalabfindung von 200 rthl in Gold anzubieten, war ihrer Ansicht nach großzügig berechnet, denn der Landrat hätte lediglich Anspruch auf Laudemialgebühren in Höhe von 45 rthl Weinkaufgelder plus 59 rthl 12 Sgr an Rückstandsrenten. Bis 1835 war der Streit zwischen den Käufern des Kolonats Westerhaus und dem Landrat des Kreises Lübbecke noch nicht entschieden worden, denn der Justizkommissar Droege vom Haller Stadtgericht, der sich offensichtlich mit den Interessen der Gutsbesitzer in der Provinz Minden
967 14 KAGt, H 3 LR 1 170.2
968 15 Vgl. Mooser (1984), S. 118ff; vgl. Herzig, Arno: Die westfälischen Juden im Modernisierungsprozeß, in: Volkov, Shulamit (Hg.): Deutsche Juden und die Moderne. München 1994, S. 99f
969 16 Vgl. StAM, Depositum Haus Benkhausen Nr. 7329 und Nr. 1561
970 105
971 identifizierte, bot dem Landrat von Lübbecke in einem Schreiben vom 16.4.1835 an, ältere Gerichtsakten zum Nachweis darüber, dass bei früheren Ablösungen eine zehnprozentige Laudemialgebühr, also eine lehnsherrliche Gebühr von Gutsbesitzern erhoben wurde, zu durchforschen. Der Justizrat drückte seine Hoffnung aus, dass das Präzedenzurteil des laufenden Prozesses, der möglicherweise durch drei Instanzen ginge, den Interessen („Gerechtsame") der Gutsherrschaften entsprechen würde.17 Der Rentmeister Grupe des Gutes Werburg berichtete in einem Brief an den Landrat des Kreises Lübbecke vom 18.2.1835, dass Aron Bendix Weinberg ihm gegenüber die Position vertrete, dass „bei keinem der Güter in der Grafschaft Ravensberg jemals Fälle vorgekommen, wo für die Ertheilung eines Consenses zum Verkauf eigenbehöriger Stetten 10 prozent bezahlt wurden.“18
972 Auch wenn der Ausgang dieses mit Rechtsmitteln geführten Streits um die Höhe der zu zahlenden Weinkaufgelder nicht bekannt ist, so zeigte er doch, inwieweit in diesem Fall die Interessen der beiden Parteien auseinanderlagen.
973 Im Jahre 1841 wurde Aron Bendix Weinberg aus Werther von seinem Vater Bendix Aron bevollmächtigt, Kaufgelder für zwei kleinere Grundstücke, eine Wiese in der Größe von 2 Morgen, 150 Ruthen, 53 Fuß und einen Acker, 2 Morgen, 13 Ruthen, 18 Fuß groß, die im April 1841 vor dem Bünder Stadt- und Landgericht von Aron Bendix Weinberg zu einem Preis von 190 rthl Courant ersteigert worden und von ihm dem Bauern Johann Heinrich Schnatschmidt, geb. Redecker überlassen waren, von dem Kassenrendanten des Stadt- und Landgerichts Bünde in Empfang zu nehmen. Offensichtlich waren auch diese beiden Grundstücke dem Gute Werburg eigenbehörig gewesen. Nach Abzug zweijähriger Rückstandsgelder an den Rendanten des Gutes Werburg und den bei der Versteigerung angefallenen Gebühren, die die Salarienkasse des Gerichts kassierte, verblieben Aron Bendix Weinberg noch 115 Taler, 14 Silbergroschen und 6 Pfennige, die ihm vom Land- und Stadtgericht am 30.7.1841 ausgezahlt wurden.19 Im Jahre 1870 übten von den 12 männlichen wahlberechtigten Mitgliedern der Synagogengemeinde Werther 7 den Beruf des Handelsmannes aus (58,3%), und 5 (41,7%) waren Kaufleute mit eigenen Ladengeschäften.
974 17 Vgl. StAM, Depositum Haus Benkhausen Nr. 8689
975 18 Ebd.
976 19 Vgl. StAM, Depositum Haus Benkhausen Nr. 201
977 106
978 Tabelle 46: Berufsstruktur und monatlicher Klassensteuerbeitrag der wahlberechtigten Mitglieder der Synagogengemeinde Werther im Jahre 1870
979 Name Hausnummer Gewerbe
980 Klassensteuerbeitrag
981 Rtl Sgr d
982 1. Michael Greve 1 Handelsmann -- -- --
983 2. Simon Goldschmidt 4 Handelsmann -- 12 16
984 3. Aron Bendix Weinberg 7b Kaufmann 1 10 --
985 4. Isaac Lilienthal 10b Handelsmann -- 5 --
986 5. Jordan Bendix
987 Weinberg
988 12 Kaufmann 1 10 --
989 6. Joseph Meyerson 19 Kaufmann 1 20 --
990 7. Leffmann Greve 33 Kaufmann 1 -- --
991 8. Moses Meyerson
992 (Witwe)
993 34 Kaufmann -- 15 --
994 9. Meyer Sachs 36 Handelsmann -- -- --
995 10. Jacob Alexander sen. 41 Handelsmann -- 15 --
996 11. Jacob Alexander jun. 41 Handelsmann -- 25 --
997 12. Hesekiel Neustädter 87 Handelsmann -- -- --
998 Quellen: StdtA Werther, A 76; StADt, M 1 I L Nr. 306
999 Womit die einzelnen jüdischen Handels- und Kaufleute Mitte der 1880er Jahre handelten, verdeutlicht eine Gewerbesteuerzu- und -abgangsliste für die Jahre 1876-1893.20
1000 Hesekiel Neustädter (Hausnr. 8) hatte am 21.10.1878 einen Handel mit Materialwaren (Haushaltswaren) angemeldet. Seit 1886 handelte seine Witwe mit Kurzwaren. David Goldschmidt (Hausnr. 83) betrieb einen Handel mit Fleisch- und Manufakturwaren. Benjamin Leeser (Hausnr. 83) handelte ebenfalls mit Fleisch- und Manufakturwaren. Dasgleiche galt für die Firma Gebr. Alexander (Hausnr. 39), die auch noch Schlachterei betrieb. Ebenfalls mit Manufakturwaren handelten Moses Alexander (Nr. 21), Feodor Sachs (Nr. 33), und Jordan Bendix Weinberg (Nr. 12). Zumindest die beiden zuletzt genannten führten eigene Ladengeschäfte. Michael Greve handelte mit Vieh, Korn und Leinsamen, bevor er am 30.4.1886 nach Bielefeld verzog. Simon Goldschmidt (Nr. 4) handelte zumindest bis 1885 mit Altwaren, Vieh und Fellen. Im August und September 1882 bot Simon Goldstein (Hausnr. 57) in mehreren Inseraten, die im „Haller Kreisblatt“ erschienen, preiswerte Eisenwaren aus gerichtlichen Verkäufen an. Dabei handelte es sich um englische Kochöfen, Hopewellöfen, runde Kachelöfen für 10 Mark pro Zentner und Eisenblech-Ofenrohre zu 3 Mark pro 18 Pfund.21 Später, am 4.2.1888, meldete Simon Goldstein in Werther Nr. 50 eine neuerbaute Fabrik mit eigenem Kontor an, in der Eisenwaren hergestellt und verzinkt wurden.
1001 Aron Bendix Weinberg richtete am 4.2.1888 im Gebäude des ehemaligen Gutes Werther weitere gewerbliche Räume und ein Kontor für seine Zigarrenfabrik ein. Schon seit 1877 hatte er mit 20 Vgl. StdtA Werther, A 367
1002 21 Vgl. Haller Kreisblatt Nr. 48 vom 2.8.1882; Nr. 53 vom 19.8.1882; Nr. 55 vom 26.8.1882; Nr. 65 vom 30.9.1882; Nr. 68 vom 14.10.1882
1003 107
1004 seinem Partner Wilhelm Langer in Theenhausen eine Zigarrenfabrikationsstätte unterhalten. Mit Vertrag vom 31.5.1887 hatten Aron B. Weinberg und sein Partner Langer von den Steinheimer Maklern L. Falkenstein und Joel Herzfeld zum Kaufpreis von 18.000 Mark das Schloss, den Hofraum und den Garten erworben. Das Haus Werther war schon im Jahre 1879 von Oscar zur Hellen an die Steinheimer Makler veräußert worden. Weinberg und Langer leisteten am 15.6.1887 einen Kaufvorschuss von 5.000 Mark und zahlten am 18.10.1887 den Kaufgeldrest von 13.325 Mark, 68 Pf. Die Auflassung fand beim Grundbuchamt in Halle i.W. statt. Als Generalbevollmächtigte unterschrieben den erfüllten Kaufvertrag am 18.10.1887 in Halle i.W. die Steinheimer Makler und der Kaufmann Aron Raphaelson aus Herford.22
1005 Bis zum Jahr 1908 hatte sich die jüdische Berufsstruktur in Werther nicht wesentlich verändert. Weiterhin erwirtschaften die jüdischen Bürger von Werther ihre Einkommen als Kaufleute in eigenen Ladengeschäften, als Viehhändler und Fabrikanten. Hinzugekommen war ein Arzt, Dr. med. Hugo Marx, der allerdings im selben Jahr vor seiner Hochzeit mit Emilie Horstmann am 1.5.1908 zum Protestantismus konvertierte. Im einzelnen nennt das Adressbuch 1 Arzt (und 2 nichtjüdische); 1 Eisen- und Metallwarenhandlung (insgesamt 4); 2 Manufakturwarenhandlungen (insgesamt 8); 2 Viehhändler; 1 Zigarrenfabrik (insgesamt 8).23
1006 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die meisten jüdischen Bürger von Werther in die Mittelschicht aufgestiegen. Zur unteren Mittelschicht und Unterschicht gehörten junge Kaufmannsgehilfen, Köchinnen, Hauspersonal, mindestens auch ein Handelsmann. Die Auswanderung einiger junger Söhne von Kauf- und Handelsleuten, Abwanderungen und Verheiratungen nach auswärts und die Gründung neuer Betriebe im Zuge der lokalen Industrialisierung hatten zur Folge, dass die soziale Schichtung der jüdischen Bürger von Werther am Ende des Jahrhunderts zweifellos homogener geworden war im Vergleich zur Sozialstruktur im Vormärz. Als Fabrikanten beschäftigten die Firmen Salomon Goldstein (Metallwarenfabrik und Verzinkerei) und A.B. Weinberg (Zigarrenfabrik) am Ende des Jahrhunderts ca. 100 Fabrikarbeiter. Während im Betrieb der Firma S. Goldstein nur männliche Arbeiter beschäftigt wurden (maximal 21 in den Jahren 1901-1903), arbeiteten für die Zigarrenfabrik A.B. Weinberg in den beiden Filialen in Theenhausen und Spenge, möglicherweise auch im Schloss Werther, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Männer, Frauen und - bis zum Verbot der Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder (1891) - auch Kinder. Außerhalb ihrer drei Fabrikationsstätten beschäftigte die Zigarrenfabrik auch eine größere Zahl von Hausarbeitern und Hausarbeiterinnen in den Ämtern Werther und Spenge. Insgesamt soll die Mitarbeiterzahl der Zigarrenfabrik A.B. Weinberg in den 1920er und 1930er
1007 22 Vgl. StdtA Bielefeld, Handakte Ellerbrake
1008 23 Vgl. Adressbuch aller Länder... (1908), S. 318. Das Manufakturwarengeschäft Jordan B. Weinberg offerierte seiner Kundschaft nicht nur Textilien, sondern machte ihr vor dem Ersten Weltkrieg auch das Angebot, Bettfedern und Daunen mit einer neuen „Bettfedern-Dämpf- und Reinigungsmaschine“ desinfizieren zu lassen. Vgl. das entsprechende Inserat in: Der Familienfreund Nr. 28 (3. Jg.) vom 12.7.1913.
1009 108
1010 Jahren 400 betragen haben, wovon ca. 10% der Arbeiter z.B. als Sortierer im Schloss beschäftigt wurden.24
1011 3.3.3 Borgholzhausen
1012 Wie schon oben erwähnt betrug der Anteil der jüdischen Gemeinde Borgholzhausen am Honorar des Oberrabbiners Moses L. Friedheim für das Jahr 1818 32,2% (13 rthl, 3 ggr).1 Dieser Anteil war
1013 der zweitgrößte unter den vier im neu gegründeten Kreis Halle i.W. veranlagten jüdischen Gemeinden. Nur der Anteil der jüdischen Gemeinde Werther war mit 41,3% (16 rthl, 20 ggr) größer. Doch diese Tatsache erklärt noch nicht, wie sich die einzelnen Beiträge auf die jüdischen Steuerzahler verteilten und welche Berufe sie ausübten.
1014 Von 14 veranlagten Juden waren drei, darunter eine Witwe, arm und zahlungsunfähig (21,4%). Neun Zensiten zahlten jeweils 20 ggr oder insgesamt 57,1% des ganzen auf Borgholzhausen entfallenden Anteils. Unter diesen neun Steuerzahlern waren vier Altwarenhändler, zwei Schlachter und drei Hausierer. Die Oberschicht der jüdischen Steuerzahler bestand aus einem Schlachter und einem Einzelhändler, die zusammen 5 rthl, 15 ggr (42,9%) des Rabbinergehaltsanteils für das Jahr 1818 in Borgholzhausen aufbrachten. Im Jahre 1818 zählte die Stadt Borgholzhausen 1.098 Einwohner und 150 Wohnhäuser. Neben dem Handel und handwerklicher Arbeit waren die hauptsächlichen Beschäftigungszweige der Ackerbau, das Spinnen von Moltgarn und das Weben von Löwendleinen. Der Chronist der Landund Stadtgemeinde beklagte im Jahr 1818, dass der Handel mit Leinen und Garn konjunkturell bedingt gering sei und der Ackerbau als „eben nicht bedeutend" eingeschätzt würde. Zwar blieben die Preise für das Stück Vollgarn (= Feingarn) und Moltgarn (= grobes Garn) und das auf der Borgholzhausener Legge angebotene Segeltuch und Löwendleinen zumindest in dem Jahrzehnt 1818-28 relativ stabil, doch in Minden-Ravensberg insgesamt verfielen die Garnpreise von 13-14 Stück pro Taler in den Jahren 1816-1818 auf 34-40 Stück pro Taler im Jahre 1846.2 Das bedeutete, dass die Spinner für weniger Ertrag immer mehr arbeiten mussten, wenn sie sich nicht entschieden, eine andere Form der Erwerbsarbeit aufzunehmen. Obwohl die Ursache des Preisverfalls bei der Garn- und Leinwandherstellung zunächst im größeren heimindustriellen, später im
1015 24 Vgl. StADt, M 1 I G Nr. 272; StADt, D 3 Bielefeld Nr. 699; Mitteilung von Hans und Melanie Herfurth 1 Vgl. StdtA Werther, A 73
1016 2 Vgl. Westheider, Rolf (Bearb.): Chronik der Land- und Stadtgemeinde Borgholzhausen (1806-1844), in: Borgholzhausen historisch 1719-1994. Hg. v. der Stadt Borgholzhausen. Borgholzhausen 1994, S. 65, 72; vgl. Mooser (1984), S. 330, 480
1017 109
1018 Tabelle 47: Gehaltsanteil für den Oberrabbiner Moses L. Friedheim für 1818 verteilt auf die jüdische Gemeinde von Borgholzhausen (in Thalern und guten Groschen)
1019 Name/Beruf
1020 Gewerbe Familienbeitrag Vermögensbeitrag Beitrag zum
1021 Rabbinergehalt
1022 Rtl ggr Rtl ggr Rtl ggr
1023 1. Witwe Mendel arm -- -- -- -- -- --
1024 2. Lefmann Kemper arm -- -- -- -- -- --
1025 3. Abraham Kemper arm -- -- -- -- -- --
1026 4. Nachmann Polly Trödler -- 8 -- 12 -- 20
1027 5. Abraham Polly Trödler -- 8 -- 12 -- 20
1028 6. Witwe Selig Maass Schlachter -- 8 -- 12 -- 20
1029 7. Wolf Lowenstein Trödler -- 8 -- 12 -- 20
1030 8. Feidel Steinfeld Hausierer -- 8 -- 12 -- 20
1031 9. Abraham Steinfeld Schlachter -- 8 -- 12 -- 20
1032 10. Jacob Hesse Hausierer -- 8 -- 12 - 20
1033 11. Levy Simon Katz Trödler -- 8 -- 12 -- 20
1034 12. Alexander Jacob Hausierer -- 8 -- 12 -- 20
1035 13. Samuel Aron
1036 Hesse
1037 Schlachter -- 8 1 -- 1 8
1038 14. Lefmann Isaac
1039 Rhee
1040 Detailhändler
1041 1 -- 3 7 4 7
1042 Quelle: StdtA Werther, A 72; 1 Thaler = 24 gute Groschen (ggr) ; 1 guter Groschen = 12 Pfennige (1763-1821)
1043 fabrikindustriellen Angebot zu suchen war, entschieden sich u.a. die Städte Borgholzhausen und Werther eher aus pädagogischer als aus wirtschaftlicher Einsicht heraus, im Vormärz so genannte Spinnschulen einzurichten, wo Kinder von 8-10 Jahren an Nachmittagen zwischen 15.00-18.30 zum Feinspinnen angehalten wurden.3 Während die Spinnschule in Borgholzhausen schon nach zweijähriger Existenz im Jahre 1831 aus finanziellen Gründen „einstweilen aufgehoben" wurde, unterhielt man die Spinn- und Industrieschule in Werther 35 Jahre (1825-60) lang, bevor der industrielle Fortschritt der mechanischen Textilherstellung die Aufgabe dieses Schultyps erzwang. Für das Jahr 1842 konnte die Chronik keine Fortschritte beim Leinen- und Garnhandel festhalten, berichtete aber von erneuten Versuchen, im Riesberge Steinkohle abzubauen:
1044 „Der Hauptzweig der Industrie in hiesigem Bezirke ist Spinnerei und Weberei, aus dem schlechten Zustande des Garn- u. Linnenhandels ergiebt sich von selbst die traurige Lage der Spinner und Weber. Im Laufe des verflossenen Jahres (1842) hat man auch wieder angefangen, im Riesberg oberhalb Barnhausen, wo selbst man schon vor beinahe 100 Jahren auf ein Kohlenlager gestoßen war, aber wegen Unsicherheit des Erfolges die begonnenen Arbeiten einstellte, zu schürfen; und scheint die dießmalige Arbeit mit besserem Erfolge gekrönt werden zu sollen, wodurch dann eine größere Belebung unserer Industrie in Aussicht gestellt ist.“4
1045 Der Erfolg der Steinkohlenförderung hielt sich in Minden-Ravensberg in engen Grenzen. Denn mit dem Anschluss an die Köln-Mindener Eisenbahn im Jahre 1847 wurde nicht nur die rentable Einfuhr von Getreide und Kartoffeln aus mitteldeutschen Erzeugerländern ermöglicht, sondern
1046 3 Vgl. Chronik Borgholzhausen, S. 74f; Stieghorst, Erika: Tausend Jahre – von „wartera“ bis Werther. Eine Heimatchronik mit Berichten aus der Geschichte von Ereignissen und Menschen mit Bildern und Karten. Hg. v. Heimatverein Werther e.V. Bielefeld 1992, S. 39-41
1047 4 Chronik der Land- und Stadtgemeinde Borgholzhausen, a.a.O., S. 93
1048 110
1049 auch der Import der qualitativ besseren Kohle aus dem Bergischen Land. Bis spätestens 1885 waren alle Kohlebergwerke am Teutoburger Wald geschlossen worden.5
1050 Langfristig erfolgreicher ließen sich Borgholzhausener Honigkuchen, Herzen, Pfefferkuchen usw. auf den (Jahr-) märkten in der Region, spätestens seit der Weimarer Republik auch im Versandtgeschäft auf internationalen Märkten verkaufen. Die Zahl der Bäcker im Ort blieb recht hoch im Vergleich zu denen im Nachbarort Versmold. Im Jahre 1783 sollen es 16 in Borgholzhausen gewesen sein (6 in Versmold), und im Jahre 1860 waren nicht weniger als 14 Honigbäcker in Borgholzhausen ansässig.6 In der Weimarer Republik produzierten noch drei Firmen der Honigkuchenbranche am Ort: Adolf Blanke (gegr. 1827), Heinrich Schulze (gegr. 1830) und Heinrich Brüning (gegr. 1861). Zur Versorgung mit dem Grundstoff Honig gründete die Firma Heinrich Schulze vor dem Ersten Weltkrieg sogar ein eigenes Unternehmen unter dem Namen Teutoburgerwald-Honigzentrale, die ihren Rohstoff auf Auktionen in Nordwestdeutschland (Lüneburger Heide) und in Holland einkaufte. Die Zwangsbewirtschaftung während des Ersten Weltkriegs legte auch diese Branche lahm, und von ca. 1918-22 mussten die Unternehmer auf Kunsthonig zurückgreifen.
1051 In den 1820er Jahren waren ca. 13 jüdische Familien in Borgholzhausen ansässig, die maximal 6% der Einwohnerschaft ausmachten.
1052 Im Jahre 1852 lebte die Familie des Kaufmanns Abraham Bendix Weinberg mit fünf Söhnen, 4 Töchtern, einer jüdischen und einer evangelischen Magd in der Freistraße 56a.7 Abraham B. Weinberg war Hausbesitzer und verkaufte aus seinem eigenen Ladengeschäft Haushalts- und Manufakturwaren. Im Juli 1842 hatte er beim Bürgermeister Christian Bloebaum eine Gewerbekonzession zum Handel mit kaufmännischen Rechten beantragt, um seinen Handel zu erweitern und Waren aus dem preußischen Ausland beziehen und dahin versenden zu können. Der Bürgermeister befürwortete das Gesuch in einem Schreiben vom 22.7.1842 an den Landrat mit der Begründung, dass Kaufmann Abraham Weinberg Grundeigentümer sei, keine Steuern hinterzogen, einen guten Ruf habe und zur Buchführung qualifiziert sei. Auch das Hauptzollamt in Telgte hatte gegen die Erteilung der Ministerialkonzession nichts einzuwenden.8 Auch der zweite jüdische Kaufmann im Ort, Feidel Joseph Steinfeld, der mit Frau, zwei Söhnen, zwei Töchtern und einer evangelischen Magd am Kirchhof Nr. 85 wohnte, hatte keine Schwierigkeiten, seinen Einzelhandel im Jahre 1842 zu einem Großhandel zu erweitern. Eine Ministerialkonzession, die ihm am 16.1.1842 ausgehändigt wurde, erlaubte ihm, mit Haushalts-, 5 Vgl. Stieghorst, S. 80; Westheider, Rolf: Vergessene Branchen. Eine Ausstellung zur Gewerbegeschichte Borgholzhausens im 19. Jahrhundert, in: Borgholzhausen historisch 1719-1994. Borgholzhausen 1994, S. 130 6 Vgl. Knehans, Wilhelm: Borgholzhausen – die Honigkuchenstadt, in: Borgholzhausen historisch, S. 103, 105 7 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 906
1053 8 Vgl. KAGt, H 4 H LR1 084/10
1054 111
1055 Papier- und Manufakturwaren auch außerhalb des Zollvereingebiets, z.B. im Königreich Hannover, das erst 1854 dem Deutschen Zollverein beitrat, zu handeln.9
1056 Die örtlichen Handelsbeziehungen zwischen den beiden jüdischen Kaufleuten und ihren nichtjüdischen Kunden waren offensichtlich in der Zeit des Vormärz recht gut und wurden durch das Gesetz vom 8.12.1843, das beabsichtigte, ambulante jüdische Händler sowohl aus den vier Kreisen Paderborn, Warburg, Büren und Höxter, als auch aus dem Kreis Halle i.W. selbst vom regionalen Markt auszugrenzen, noch weiter befördert. Wenn auch die jüdischen Hausierer, von denen es ebenfalls in Borgholzhausen einige gab, die dem traditionellen Landhandel nachgingen, versuchten, sich schadlos zu halten, indem sie die regionalen jährlichen Kram- und Viehmärkte besuchten, so war doch die logische Konsequenz des Gesetzes, dass jüdische und nichtjüdische Ladenbesitzer in den kleinen Städten des Kreises Halle i.W. von seiner Ausgrenzungspolitik profitieren mussten. Denn Amtmann Bloebaum berichtete dem Landrat in Werther am 26.4.1845 wie folgt:
1057 „[...] Die hiesigen jüdischen Kaufleute, welche sich auch mit Suchen von Waarenbestellungen auf Proben abgeben, sehen zur Entschädigung für die durch das Gesetz eingetretene Verminderung ihres Geschäfts in dieser Beziehung ihren Handel im Hause und Laden dagegen ebenfalls sehr erweitert, indem das hiesige Publikum sie an sich keinesweges den Christen nachstellt, sondern wenn sie gute Waare haben und überhaupt reel bedienen, ihnen eher einen noch größeren Zuspruch gönnt; [...]“10
1058 Dem „Allerhöchsten Gesetz" vom 8.12.1843 lag - ähnlich wie der provinziellen Abschiebepolitik in den 1820er Jahren - das Vorurteil zugrunde, dass jüdische Hausierer unter der Landbevölkerung Schaden anrichteten, d.h. den Verarmungsprozess besonders unter Heuerlingen, Knechten und Mägden beschleunigten. Dieser Mentalität stand die Einsicht entgegen, dass die Landbevölkerung von den jüdischen oder nichtjüdischen Hausierern nicht gezwungen wurde, Waren zu kaufen, sondern ihnen Angebote gemacht wurden, die sie annehmen konnten oder auch nicht. Falls sie sich für einen Kauf entschieden, kam ihnen der Hausierer insofern schon entgegen, als sich der Käufer den Weg zum nächsten Ladengeschäft sparen konnte. Hausierer übernahmen also nicht nur Funktionen des später entwickelten, modernen Versandgeschäfts, sondern sorgten mit ihren Aufkäufen von alten Kleidern, Schrott, Abfall der Flachsverarbeitung (Heede) und von Agrarprodukten dafür, dass die protoindustriell arbeitenden Heuerlinge und Neubauern in einer Zeit Kredit, Bargeld oder Zahlungsaufschub erhielten, als die ländliche Kreditversorgung noch unterentwickelt war, da es noch keine flächendeckenden Spar- und Darlehnskassen im Kreis Halle im Vormärz gab. Zwar wurde schon 1825 die Bielefelder Sparkasse zusammen mit einer Pfandleihanstalt gegründet, um Tagelöhner, Dienstboten und Fabrikarbeiter zum zinsgünstigen Sparen anzuleiten. Doch dieses Institut war nur für die Einwohner Bielefelds geschaffen worden und somit für die ländlichen Bewohner unerreichbar. Die Kreissparkasse in Halle i.W. wurde jedenfalls erst am 1.10.1856 eröffnet.11
1059 9 Vgl. KAGt, H 4 H LR1 084/09
1060 10 Vgl. KAGt, H 4 H LR1 171.4
1061 112
1062 Ein weiterer jüdischer Bürger und Hausbesitzer war der Pferdehändler Samuel Meyerson, der im Jahre 1853 in der Tempfanne Nr. 11 mit Frau, drei Töchtern und zwei Söhnen lebte. Der Straßenname deutete auf den örtlichen Feuerlöschteich (Dampfpfanne) hin.12 Auch der
1063 Pferdehändler Abraham Seelig Maas, der im Jahre 1853 mit Frau, drei Töchtern, zwei Söhnen und einer katholischen Magd in der Freistraße Nr. 61 lebte, war Hausbesitzer.
1064 Der fünfte jüdische Hausbesitzer war der Handelsmann und Schlachter Abraham Samuel Hesse, der mit Frau, vier Töchtern und zwei Söhnen in der Kuhstraße 112 lebte.
1065 Welchen Erwerbstätigkeiten gingen die jüdischen Mieter im Jahre 1852 nach?
1066 1. Nachmann Polly, der in den 1820er Jahren als Handelsmann, 1852 als Heuerling und Schlachter bezeichnet wurde, lebte mit Frau, Sohn und Tochter zusammen mit dem Tischler Philipp Ameling und seiner Familie im Haus Klingenhagen Nr. 19a.13
1067 2. Die Witwe Rebecka Katz (74 Jahre), die mit ihrer Tochter (32 Jahre) im Haus Klingenhagen Nr. 102 lebte, erzielte Verdienst aus ihrer Tätigkeit als Spinnerin. Ihre Tochter Rieke Katz hinterließ der Synagogengemeinde Borgholzhausen im Jahre 1900 ein Legat in Höhe von 191,30 Mark.14 Mutter und Tochter lebten unter einem Dach mit einem Tagelöhner und den Familien eines Schuhmachers und eines Heuerlings.
1068 3. Der blinde 64jährige Marcus Polly lebte zusammen mit der Familie des Bäckers Knigge in der Freistraße Nr. 92.
1069 4. Die Witwe Friederike Simon (63 Jahre), die als Strickerin Einkommen erzielte, lebte mit ihrem Pflegesohn Samuel Löwenstein zusammen mit dem Schlosser Wöstendieck, seiner Mutter und einem Lehrling im Haus Freistraße Nr. 65b.
1070 5. Zacharias Polly (45 Jahre) , der 1852 ohne Gewerbe war, handelte acht Jahre später mit alten Sachen. Er lebte zusammen mit der Familie des Heuerlings Schäffer in der Tempfanne Nr. 9b.15
1071 6. Der frühere Handelsmann Abraham Kemper (78 Jahre) lebte mit der Familie des Heuerlings und Tagelöhners Bischoff und der Familie des Heuerlings und Böttchers Koch in der Kleinen Straße Nr. 8b.
1072 7. Der Heuerling und Lumpensammler Joseph Kemper lebte mit seiner Frau zusammen mit den Heuerlingsfamilien Schäffer und Bönker in der Kleinen Straße Nr. 31b.
1073 11 Vgl. Ditt, Karl: „Soziale Frage“, Sparkassen und Sparverhalten der Bevölkerung im Raum Bielefeld um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Conze, Werner; Engelhardt, Ulrich (Hg.): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker. Stuttgart 1981, S. 519f; Wolf, Karl: Freud und Leid im Kreise Halle (Westf.) 1800-1905. Halle (Westf.) 1905, S. 58
1074 12 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 906, A 442; StADt, M 1 I L Nr. 319; Klumpe-Scheel, Bernd: Borgholzhausen an der Schwelle zum 18. Jahrhundert, in: Borgholzhausen historisch, S. 41
1075 13 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 906; StADt, P 2 Nr. 123
1076 14 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 906; StADt, M 1 II A Nr. 816
1077 15 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 906, A 956
1078 113
1079 8. Die Tuchhändlerin Röschen Maass (48 Jahre) lebte zusammen mit der Bürgerin Siekötter und deren Pflegetochter, der Spinnerin Doht und deren Tochter und der Familie des Heuerlings Rahe in der Kuhstraße Nr. 30.
1080 9. Der Tagelöhner und Heuerling Lefmann Silberberg lebte mit Frau, Tochter und Sohn bei einer Witwe mit ihrem Sohn im Klingenhagen Nr. 18a.
1081 Im Jahre 1860 gab es weiterhin zwei jüdische Kaufleute mit kaufmännischen Rechten. Feidel Joseph Steinfeld, Nr. 85, handelte mit Tuchen („Ellenwaren") und Fellen.16 Witwe Weinberg (Nr. 56) betrieb einen Handel mit Manufakturwaren, aber auch mit Kühen, Häuten und Leinsamen. Jüdische Händler ohne kaufmännische Rechte gab es vier. Röschen Maass (Nr. 30) betrieb einen Kleinhandel mit Ellenwaren. Lefmann Meyerson (Nr. 11) handelte im Kleinen mit Pferden. Zacharias Polly, Nr. 8, handelte mit alten Sachen. Sein Handel wurde im Unterschied zu den anderen jüdischen Kleinhändlern nicht als „unbedeutend", sondern als „höchst unbedeutend" eingestuft. Samuel Polly, Nr. 21, betrieb einen Handel mit Kühen, Häuten und Ellenwaren. Im Ort gab es drei Schlachter, darunter zwei jüdische, deren Geschäfte aber als „unbedeutend" eingeschätzt wurden: Samuel Abraham Hesse (Nr. 112) und Samuel Polly (Nr. 21). Letzterer war auch im ambulanten Gewerbe tätig und handelte unter Zuhilfenahme eines Frachtfuhrwerks mit Vieh, rohen Fellen, Talg und Erzeugnissen der Landwirtschaft. Auch Abraham Maass (Nr. 61) betrieb einen ambulanten Handel mit Landesprodukten wie Vieh, Talg, Getreide und rohen Viehhäuten. Aaron Abraham Weinberg (Nr. 56), ein Sohn der Hannchen Lefmann Rhee, suchte ambulant Käufe und Verkäufe für Manufakturwaren und Häute. Wie Abraham Maass benutzte auch Aaron Abraham Weinberg ein Frachtfuhrwerk. Zum ermäßigten Steuersatz sammelte Joseph Kemper (Nr. 10) Lumpen und Heede bei den Bauern und Hanf- und Flachswebern im Austausch gegen Geschirr aus Ton. Unter den Begriffen Heede oder Werg verstand man Kurzfasern, ein Abfallprodukt bei der Flachs- und Hanfverarbeitung. Diese konnten noch zu groben Garnen versponnen werden oder als Polster-, Putz- und Dichtungsmaterial verwendet werden. Bei der reineren Verarbeitung holländischer Segeltuche aus Hanfgarn, fiel mehr und bessere Heede ab, die im Amt Versmold, besonders in den Gemeinden Peckeloh und Bockhorst zu Packtuchen verwebt wurden.17
1082 Bis 1869 hatte sich die Berufsstruktur unter den jüdischen Bürgern von Borgholzhausen nicht verändert. Neben Kaufleuten mit und ohne kaufmännische Rechte gab es zwei Schlachter und fünf ambulante Händler, die Vieh, Häute, Altmetall, Altkleider, Knochen, Heede usw. den Bauern abkauften und auf Märkten, an Gerber, Schrotthändler, Papier- und Leimmühlen oder auch an Großhändler und -metzger wieder verkauften. Bis zum Ende des Jahrhunderts gingen mindestens fünf jüdische von insgesamt 12 Gewerbetreibenden in Borgholzhausen mit
1083 16 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 956
1084 17 Vgl. Westheider, Rolf: Versmold. Eine Stadt auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Bielefeld 1994, S. 213, 221
1085 114
1086 Wandergewerbescheinen dem traditionellen Landproduktenhandel mit und ohne Fuhrwerk nach. Insgesamt zahlten die 12 Hausierer aus Borgholzhausen 360 Mark an jährlicher Gewerbesteuer, wobei der Anteil der 5 jüdischen Hausierer (41,7%) 180 Mark ausmachte (50%).18
1087 Im Unterschied zur Kreisstadt Halle i.W. oder Werther ließen sich in der Kleinstadt Borgholzhausen keine Juden in den freien Berufen oder als Beamte nieder. Auch jüdische Unternehmer, die eine Brauerei, eine Mühle, einen Kalkofen oder eine Segeltuchweberei gegründet haben könnten, lassen sich nicht nachweisen. Als Kaufleute und Landproduktenhändler verharrten sie in den Berufen, die sie schon im Vormärz ausgeübt hatten. Auswanderungen, Abwanderungen, Todesfälle und fehlende Zuzüge hatten zur Folge, dass die jüdische Gemeinde in Borgholzhausen im Jahre 1885 auf 33 Personen gesunken war (2,9% der Stadtbevölkerung) und vor dem Ersten Weltkrieg nur noch 14 Seelen zählte (Familien Weinberg, Hesse und Maass aus Borgholzhausen und die Familie des Schlachters Silberberg aus Bad Rothenfelde/Kreis Iburg).19
1088 Vor dem Ersten Weltkrieg handelte Alexander Maass mit Pferden, Simon Hesse mit Landesprodukten, Jacob Hesse ebenfalls mit Vieh, Fellen und Landesprodukten, Arthur Hesse mit Haushaltsgegenständen, Altprodukten und Metallen und Max Weinberg mit Manufakturwaren.20
1089 18 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 612
1090 19 Vgl. StADt, M1 II A Nr. 816
1091 20 Vgl. StdtA Borgholzhausen, Verzeichnis der Gewerbe An- und Abmeldungen im Amt Borgholzhausen
1092 115
1093 Tabelle 48: Berufe und jährliche Gewerbesteuerzahlungen der Juden in Borgholzhausen im Jahre 1869
1094 Name Hausnummer Gewerbe/Handel mit Gewerbesteuersatz
1095 in rthl
1096 A. Handel mit kaufmännischen Rechten
1097 1. Abraham B.
1098 Weinberg
1099 56 Manufakturwaren,
1100 Knochen, Leinsamen
1101 8
1102 2. Joseph Steinfeld 85 Ellenwaren, Fellen 10
1103 B. Handel ohne kaufmännische Rechte
1104 1. Samuel Polly 21 Ellenwaren, Kühen, Fellen 2
1105 2. Jacob Hesse 84 irdenem Geschirr,
1106 Lumpen, Fellen
1107 4
1108 C. Schlachter
1109 1. Samuel Polly 21 Schlachter 4
1110 2. Abraham Hesse 112 Schlachter 4
1111 D. Umherziehende Gewerbe
1112 1. Simon Hesse 7 Vieh, Leinen, trockenen
1113 Viehhäuten; Metallabfällen
1114 16
1115 2. Josef Kemper 10 Lumpen, Strickgarn,
1116 irdenem Geschirr
1117 4
1118 3. Samuel Polly 21 Vieh, Fellen,
1119 Landesprodukten
1120 16
1121 4. Alexander Maass 61 Vieh, Fellen,
1122 Landesprodukten
1123 16
1124 5. Samuel Hesse 112 Vieh, Fellen,
1125 Landesprodukten
1126 16
1127 Quelle: StdtA Borgholzhausen, A 956
1128 Im Jahre 1908 handelten die Gebrüder Weinberg mit Eisen- und Metallwaren, Galanterie-, Glasund Porzellanwaren und Manufaktur- und Modewaren. Samuel und Simon Hesse handelten mit Häuten und Fellen, Simon Hesse auch mit Rohprodukten, Fleisch, Galanterie-, Glas- und Porzellanwaren. Alexander Maass war Pferdehändler.
1129 Insgesamt gab es in Borgholzhausen im Jahre 1908 zwei Eisen- und Metallwarenhandlungen, drei Fleischer, drei Galanterie-, Glas- und Porzellanwarenhandlungen, eine Honigwarenfabrik mit Motorbetrieb, fünf Lebküchner, fünf Manufakturwarenhandlungen und zwei Pferdehändler.21 3.3.4 Versmold
1130 Während die nichtjüdische Bevölkerung im Amt Versmold hauptsächlich dem Ackerbau und der Viehzucht nachging und bis zur Krise der protoindustriellen Leinenhandweberei insbesonders die Mieterheuerlinge, aber auch die Pächterheuerlinge darauf angewiesen waren, Hanf- und Flachsgarn als Voll- oder Füllarbeit zu verspinnen und Segel- und Packtuche meist in Hausarbeit, teils seit 1841 in Fabrikarbeit herzustellen, erzielten die jüdischen Familien mehrheitlich ihre Einkommen als Vieh-, Fleisch-, Fell- und Altwarenhändler im ambulanten Handel. Ein Jude 21 Vgl. Adressbuch (1908), S. 311
1131 116
1132 handelte mit Hut-, Mode- und Schmuckwaren (Galanteriewaren). Unter den jüdischen Erwerbstätigen gab es auch Kaufleute, die eine Manufaktur- und Eisenwarenhandlung in Bockhorst (Gebr. Weinberg, gegr. ca. 1840) und eine Gemischtwarenhandlung in Versmold (Eduard Bergfeld, gegr. 1863) mit eigenen Ladengeschäften führten. Im Vormärz lebten mindestens zwei jüdische Handwerker in Versmold, und zwar ein Färber und ein Sattler, später seit Anfang der 1860er Jahre auch ein Kürschner bzw. Kappenmacher. Der jüdische Sattler verarbeitete den Grundstoff Leder und der Färber bearbeitete Garn und hand- oder maschinengewebtes Leinen. Leder, Flachs, Hanfgarn und Leinen waren im Amt Versmold leicht einzukaufen. Bis in die 1880er Jahre hinein handelten wenigstens vier jüdische Händler aus Versmold ambulant mit Vieh und Häuten, d.h. sie kauften von den Bauern Rinder, Kälber, Hammel oder auch Felle und verkauften Fleisch und Häute an Endverbraucher, Handwerker und Fabrikanten.1 Leinen wurde in Versmold von 1697 bis zur napoleonischen Zeit auf der örtlichen Legge am Markt angeboten 2 , später in den 1840er Jahren handelten die drei größten Versmolder Leinenhandelshäuser A.H. und C.W. Delius u. Co., D.C. Delius Erben und A.G. Vogt mit Segeltuchen und Löwentlinnen.3 Im Jahre 1839 gab es im Amt Versmold - besonders häufig in den Gemeinden Oesterweg, Loxten und Bockhorst - insgesamt 603 Webstühle für Segeltuche und 219 Webstühle für Löwendleinen sowie 49 Webstühle für Salz- und Packtuche.4 Bei der Segeltuchproduktion stand Versmold weit vor Borgholzhausen und Halle i.W. Auf die Krise der protoindustriellen Handspinnerei und -weberei, die sich nicht gegen englische und irische industriell gefertigte Leinen- und Baumwollfabrikate durchsetzen konnte, reagierte die Firma C.W. Delius in Versmold mit dem Aufbau einer mechanischen Spinnerei und Weberei (1863/64), die bis in die 1950er Jahre und damit wesentlich länger als die Segeltuchfabrik Helling, Hoffmann & Co. (1859-1908) in Borgholzhausen produzierte.5
1133 Der jüdische Kürschner bezog seine Ware vermutlich - wie die Gebrüder Weinberg aus Bockhorst ihre Tuche - von der Leipziger Herbstmesse. Die Messestadt Leipzig war wegen ihres Tuch- und von jüdischen Händlern dominierten Rauchwarenhandels berühmt.6
1134 Ähnlich wie in Rahden hatten auch die Juden in Versmold eine Monopolstellung beim Schlachten von Vieh. Als im Jahre 1823 vom Versmolder Bürgermeister eine Salzbedarfskontrolle aufgrund einer Kabinettsorder vom 19.8.1823 durchgeführt wurde, da es sich herausgestellt hatte, dass im 1 Vgl. StdtA Versmold, A 864
1135 2 Vgl. Vinke, Wilhelm: Heimatgeschichte der Stadt Versmold und Umgebung. Bielefeld o.J. [1924], S. 66f 3 Vgl. Westheider, Rolf: Versmold. Eine Stadt auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Bielefeld 1994, S. 225, 239. C.W. Delius handelte nicht nur mit Leinen, sondern beschäftigte auch schon seit 1837 mit staatlicher Unterstützung im Verlagswesen Hanfspinnerinnen aus den ärmsten Familien und Segeltuchweber. Vgl. Mooser (1984), S. 170. Seit 1841 ließ er Leinen und Garn im kleinen Webereihaus am Aabach fabrikmäßig produzieren. 4 Vgl. Westheider (1994), S. 213
1136 5 Vgl. Westheider (1994), S. 54-74; Vinke, S. 109
1137 6 Vgl. KAGt, H 4 H LR1 084/07; Diamant, Adolf: Chronik der Juden in Leipzig. Aufstieg, Vernichtung, Neuanfang. Chemnitz/Leipzig 1993, S. 86ff; Lowenstein, Steven M.; Mendes-Flohr, Paul; Pulzer, Peter; Richarz, Monika: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. III. Umstrittene Integration 1871-1918. München 1997, S. 52: „Mittelpunkt des Pelzhandels war der Brühl in Leipzig, wo Juden aus Osteuropa in Handel und Verarbeitung vorherrschten und die Stadt zu einem Weltzentrum des Pelzhandels machten.“
1138 117
1139 Grenzgebiet Versmold das billigere Salz aus dem benachbarten Königreich Hannover eingeschmuggelt und somit der preußische Fiskus geschädigt wurde, ergab eine Aufstellung, dass alle vier Schlachter in Versmold Juden waren.7
1140 Im Jahre 1818 waren die drei in Versmold lebenden jüdischen Familien so arm, dass sie nur 6,7% (2 rthl, 18ggr) des auf den Kreis Halle i.W. verteilten Anteils zum Gehalt des Oberrabbiners Friedheim zahlen konnten. Benjamin Sternberg, der mit Fleisch, Schweinsborsten und alten Sachen handelte, brauchte wegen Armut nichts zu zahlen. Auch der Handelsmann und Schlachter Itzig Nathanson wurde als „arm" bezeichnet und musste lediglich 20 gute Groschen beitragen. Der Altwarenhändler mit Freipatent, Samuel Aron Weinberg, mußte 1 Taler 22 gute Groschen zahlen.8 Wenn man unter dem Begriff Verbürgerlichung im wirtschaftlichen Sinn einen Prozess versteht, in dem selbständige Marktteilnehmer nicht nur Fleiß, Talent, Wissen und Methoden auf- und anwenden, sondern auch Kapital investieren müssen, um ihre Handelsgeschäfte ausdehnen zu können, so ist es nicht schwer, ein solches Verhalten auch unter den jüdischen Marktteilnehmern in Versmold und Bockhorst nachzuweisen.
1141 Ähnlich wie die Kaufleute Steinfeld und Weinberg in Borgholzhausen oder Kaufmann Bergfeld in Brockhagen suchten im Jahre 1840 die Brüder Moses, Selig und Joseph Weinberg in Bockhorst um eine Konzession zum Handel mit kaufmännischen Rechten nach, um Manufakturwaren nicht nur en détail aus ihrem Ladengeschäft verkaufen zu können, sondern auch Versendungen in alle zum Zollverein gehörigen Gebiete machen zu dürfen.9 Nachdem ihnen diese Konzession aufgrund guter Referenzen des Versmolder Bürgermeisters Johann Friedrich Kollhorst am 21.7.1840 - oder nach jüdischer Zeitrechnung im Jahre 5600 - ausgehändigt worden war, entwickelten sich die Geschäfte dieses Manufakturwarengeschäfts in den nächsten Jahrzehnten so gut weiter, dass die Firma Gebr. Weinberg im Gewerbesteuerjahr 1881/82 mit dem höchsten Steuersatz in Höhe von 42 Mark eingestuft wurde und damit 36,8% der Gewerbesteuern nach Klasse A II in Bockhorst zahlte.10 Die Gesellschafter dieser Firma nahmen Warenbestellungen im und außerhalb ihres Ladengeschäfts auf und beschränkten sich nicht nur darauf, Textilien und Kleidungsstücke für Herren, Damen, Jungen und Mädchen in der angeschlossenen Schneiderwerkstatt maßgeschneidert zu verkaufen. Zu dem Verkaufssortiment des Ladengeschäfts Gebr. Weinberg gehörten auch Bettfedern, Kochmaschinen, Koch- und Füllöfen, wie Inserate im „Haller Kreisblatt“ aus den 1890er Jahren zeigen.11
1142 Wie umfangreich die Geschäfte der Firma Gebr. Weinberg in Bockhorst waren, belegen die Zahlen des Anlage-, Betriebs- und Umsatzkapitals (30.000 M/ 30.000 M/ 75.000 M) für das Jahr 1888/89 7 Vgl. Westheider, Versmold (1994), S. 195ff
1143 8 Vgl. StdtA Werther, A 73
1144 9 Vgl. KAGt, H 4 H LR1 084/07
1145 10 Vgl. StdtA Versmold, A 864
1146 11 Vgl. Haller Kreisblatt Nr. 94 vom 6.8.1892; Nr. 130 vom 29.10.1892; Nr. 132 vom 3.11.1892; Nr. 133 vom 5.11.1892; Nr. 17 vom 8.2.1896
1147 118
1148 im Vergleich zu den Vermögenswerten des Gemischtwarengeschäfts der Firma Eduard Bergfeld in Versmold (1.500 M/ 2.000 M/ 4.000 M).12
1149 Tabelle 49: Berufe der männlichen Juden im Amt Versmold (1823-1847)
1150 Name Gewerbe
1151 1. Benjamin Sternberg Schlachter, Handelsmann mit Schweinsborsten, Trödler 2. Abraham Meyer Galanteriewarenhändler
1152 3. Nathan Sternberg Handelsmann
1153 4. Selig Weinberg Handelsmann und Schlachter
1154 5. Moses Weinberg Handelsmann und Schlachter
1155 6. Abraham Weinberg Handelsmann
1156 7. Bendix Abraham Ganz Färber
1157 8. Raphael Frank Sattler
1158 9. Bendix Nathanson Handelsmann und Schlachter
1159 10. Bernhard Steinfeld Handelsmann, Viehhändler, Schlachter
1160 11. Meyer Weinberg Kaufmann und Schlachter
1161 12. Itzig Bendix Nathanson Handelsmann und Schlachter
1162 13. Bendix Heilbrunn Handelsmann und Schlachter
1163 14. Meyer Ganz Kleinhändler
1164 Quellen: StADt, P 2 Nr. 123, 187
1165 Kaufmann Eduard Bergfeld und sein Sohn Carl in Versmold handelten in den 1880er Jahren mit Porzellan, Tongeschirr, Spielzeug, Lumpen, Eisen, Öfen und Kurzwaren. Auch dieses Handelsgeschäft nahm Bestellungen außerhalb des Ladengeschäfts auf und belieferte seine Kunden mit Eisen, Porzellan, Korbwaren und Landesprodukten.13
1166 Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich das Handelsgeschäft Eduard Bergfeld zu einem Warenhaus mit gemischten Waren, in dem im Jahre 1913 solche unterschiedlichen Warengruppen wie Manufaktur- und Modewaren, Wäsche- und Aussteuerartikel, Damen-, Herren-und Kinderkonfektion; Bettwaren; Haushaltungswaren; Öfen, Fenster, Drahtwaren; Porzellane, Emaillewaren; Glas, Lampen; Kurz-, Korb- und Lederwaren; Galanteriewaren; Kolonialwaren, Schokoladen, Cakes und selbstgeröstete Kaffees angeboten wurden.14
1167 Die Gewerbesteuerrollen der 1880er Jahren dokumentieren einen an Umfang größer werdenden Handel der Firma Eduard Bergfeld, der als Kaufmann und Auktionator mit Nürnberger Ware, irdenem Geschirr, Lumpen und Eisen handelte. Im Jahre 1880/81 wurde sie noch mit 6 Mark Gewerbesteuer, ein Jahr später mit 30 Mark und seit 1882/83 mit 36 Mark jährlicher Gewerbesteuer veranlagt.15
1168 Von allen jüdischen Gewerbetreibenden im Amt Versmold musste die Firma Gebr. Weinberg in Bockhorst (Manufakturwaren) die höchste Summe pro Jahr (42 Mark) zahlen. Der Umfang dieses Geschäftsbetriebes wurde mit dem Adjektiv „ziemlich" beschrieben. Die Umsätze der Firmen Gebr. 12 Vgl. StdtA Versmold, A 1182
1169 13 Vgl. StdtA Versmold, A 864
1170 14 Vgl. Uthe, Käthe und Horst: „Um Deine Erziehung in den historischen Gebieten zu vergrößern.“ Dokumentation und Erinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte jüdischer Familien in Versmold. Hg. v. Heimatverein Versmold. Typoskript. Versmold 1988. Anlage 2: Festschrift zum 50jährigen Stiftungsfest des Bürgervereins Versmold 1913 15 Vgl. StdtA Versmold, A 864
1171 119
1172 Weinberg und Bergfeld stagnierten also durchaus nicht in der Zeit der großen Depression (1873- 95), sondern im Gegenteil ließ es der lokale kleinstädtische Markt mit agrarischem Umfeld zu, dass die Inhaber dieser beiden Firmen Angebote machen konnten, die vermehrt angenommen wurden. Gewerbefleiß, Inserate in der Lokalpresse, faire Bedienung und Kulanz zahlten sich aus. Die Mitglieder dieser Familienbetriebe teilten sich ihre Arbeit auf im Innen- und Außengeschäft, ergänzten und halfen sich im Krankheitsfall. Allerdings gehört zur Dialektik der Marktwirtschaft, dass die größeren Anbieter die Märkte der kleineren Anbieter austrocknen können, zumal wenn beide mit ähnlichen Warengruppen handeln.
1173 Denn am unteren Ende der jüdischen Gewerbesteuerzahler befand sich die Witwe Julie Heilbron, die mit Porzellan und irdenem Geschirr handelte. In einem Freistellungsauftrag für das Steuerjahr 1883/84 wurde ihre soziale Situation mit folgenden Worten umschrieben: „[Sie] ist eine alte, arbeitsunfähige Frau, die ihr Brod nicht anders verdienen kann. Eine arbeitsfähige Tochter, die zugleich Pflegerin der öfters kranken Mutter ist, hilft der Mutter beim Handel.“16 Eine andere jüdische Frau, Sara Natansohn, betrieb einen Kleinhandel mit Ellen- und Fleischwaren. Auch ein weiteres Beispiel belegt, dass jüdische Frauen in der Lage waren, selbständig ein Handelsgeschäft zu führen. Nach dem Tode von Meyer Ganz (1859), der am 1.10.1842 in Hesselteich einen Kleinhandel angemeldet hatte, zogen seine Frau Julie, ihre Tochter Sara und ihre Schwester Berta nach Bielefeld und eröffneten ein Kolonialwarengeschäft an der Siekerstraße 13. Nach Minninger war es keine Seltenheit, dass sich jüdische Frauen als Firmengründerinnen emanzipierten oder als Prokuristinnen und Gesellschafterinnen im Handelsgeschäft ihrer Männer im Kaiserreich mitarbeiteten.17 Das galt auch für die Firma Gebr. Weinberg in Bockhorst, in die die Witwe von Selig Weinberg als Gesellschafterin eintrat, oder für die Firma Eduard Bergfeld, in die die vier Geschwister Laura, Luise, Carl und Oscar als persönlich haftende Gesellschafter nach dem Tode ihrer Mutter eintraten, bevor die beiden Schwestern am 15.7.1913 wieder ausschieden. Der unverheirateten Luise Bergfeld wurde allerdings nach dem Ersten Weltkrieg mit Eintrag vom 4.12.1919 Prokura erteilt und sie führte das Geschäft bis Herbst 1935 weiter, als es aufgrund der ständigen bedrohlichen Boykottpolitik der Versmolder SA- und der NSDAP-Ortsgruppe aufgegeben werden musste.18
1174 16 Vgl. StdtA Versmold, A 864
1175 17 Vgl. StdtA Versmold, A 817; vgl. Minninger, Monika; Stüber, Anke; Klussmann, Rita: Einwohner – Bürger – Entrechtete. Sieben Jahrhunderte jüdisches Leben im Raum Bielefeld. Bielefeld 1988, S. 108f 18 Vgl. StADt, D 23 Halle Nr. 281, Firmennr. 57; StADt, M 1 I P Nr. 670
1176 120
1177 Tabelle 50: Handelstätigkeit der jüdischen Bürger von Versmold (1882/1883) Name Hausnummer Handel mit Gewerbesteuersatz in Mark
1178 1. Gebrüder Weinberg Bockhorst, Nr. 46 Ellenwaren 42
1179 2. Eduard Bergfeld Versmold, Nr. 38 Nürnberger Ware, irdenem
1180 Geschirr; Lumpen, Eisen
1181 36
1182 3. Julie Heilbronn,
1183 Witwe
1184 Versmold, Nr. 35 Porzellan, irdenem
1185 Geschirr
1186 3
1187 4. Sara Natansohn Versmold, Nr. 40 Ellenwaren, Schlachterei 6
1188 5. Abraham Sternberg Versmold, Nr. 79 Schlachterei 6
1189 6. Bernhard Steinfeld Versmold, Nr. 55 Schlachterei 6
1190 7. Levi Spiegel Versmold, Nr. 114 Schlachterei 6
1191 8. Meier Weinberg Versmold, Nr. 30 Ellenwaren, Schlachterei 6
1192 9. Abraham Weinberg Versmold, Nr. 62 Ellenwaren, Fellen 6
1193 Quelle: StdtA Versmold, A 864
1194 Obwohl Abraham Sternberg (41 Jahre), Bendix Weinberg (29 Jahre), Moses Abraham Raphael (49 Jahre) und Abraham Steinfeld (31 Jahre) Anfang der 1880er Jahre - neben 40 (1882) bis 54 (1883) Nichtjuden - im Amt Versmold Gewerbescheine beantragten, um ambulant mit und ohne Fuhrwerk mit Vieh, Fleisch, trockenen und rohen Häuten, Manufakturwaren und Fellen zu handeln, zeigte sich der Verbürgerlichungsprozess unter den jüdischen Schlachtern in der Weise, dass sie um die amtliche Erlaubnis bzw. um amtliche Konzessionen nachsuchten, um in fremden oder eigenen Schlachthäusern Großvieh zu schlachten.
1195 Der Viehhändler und Schlachter Levi Spiegel, der Anfang Oktober 1882 den Kotten im so genannten Hinterdorf Nr. 53 angekauft hatte 19 , beabsichtigte, das Schlachthaus des Schlachters Mense in Versmold zu benutzen, was ihm ohne Konzession erlaubt wurde. In Versmold gab es kein städtisches Schlachthaus, so dass sich die einzelnen Schlachter ihre eigenen bauen oder sich gegenseitig helfen mussten. Am 25.1.1912 erhielt Levi Spiegels Sohn Julius unter Beachtung von zehn Bedingungen die Genehmigung, ein neues Schlachthaus zu erbauen. Seinem Bruder, Nathan Spiegel, wurde am 3.12.1930 der Bau eines neuen Schlachthauses, in dem er 5-20 Stück Großvieh pro Woche verarbeiten wollte, unter Berücksichtung von 26 Bedingungen, urkundlich genehmigt.20 Schon am 23.5.1910 erhielt der Schlachter Abraham Steinfeld Nr. 55 vom Kreisausschuss eine Genehmigungsurkunde zum Bau eines neuen Schlachthauses, in dem er 8- 10 Kühe oder Kälber pro Woche zu verarbeiten beabsichtigte, unter Berücksichtigung von zehn Ausführungsbedingungen ausgehändigt.21
1196 Wie in Borgholzhausen gab es auch in Versmold keine Juden in den so genannten freien Berufen, Beamte oder Unternehmer, die sich am lokalen Industrialisierungsprozess beteiligten.
1197 19 Vgl. Vinke, S. 207
1198 20 Vgl. StADt, D 3 Bielefeld Nr. 763
1199 21 Vgl. StADt, D 3 Bielefeld Nr. 808
1200 121
1201 Im Jahre 1908 gab es in Versmold drei Fleischer, darunter die Firmen Sara Nathanson und Abraham Steinfeld, einen Kappenmacher (Moritz Eisenstein), zwei Viehhändler (Julius Spiegel, Abraham Steinfeld) und das Warenhaus Eduard Bergfeld.22
1202 Bis 1908 waren die Arbeiter der Hechelei, mechanischen Spinnerei und Bleicherei der Segeltuchfabrik Conrad Wilhelm Delius (Firma gegr. 1823) die einzigen Industriearbeiter in Versmold, bevor sich die lokale Fleischwaren- und Margarineindustrie fabrikmäßig entwickelte.23
1203 3.4 Die relative Bedeutung der „Produktivierung"
1204 Seit dem Erscheinen des Buches „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781/83), in dem der preußische Archivrat und Diplomat Christian Wilhelm von Dohm die bürgerliche Gleichstellung, die Erwerbs- und die Religionsfreiheit für die Juden forderte, „da sie von Natur aus die gleichen Fähigkeiten hätten wie alle Menschen", waren die Stimmen der Ideologen und Gebildeten nicht verstummt, die eine Produktivierung der Juden bzw. eine Umschichtung der jüdischen Berufsstruktur erwarteten, womit sie meinten, dass sich die Juden handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen öffnen sollten, um in die bürgerliche Gesellschaft aufgenommen werden zu können.1 Allerdings gehörte auch zum staatlichen Erziehungskonzept von Dohms, der der Lehre des Physiokratismus nahestand, wonach der Boden als der wichtigste Produktionsfaktor anerkannt wurde, die Erwartung, dass sich die Juden aus den Handelsberufen, die sie wegen ihres Ausschlusses aus den Zünften und dem Verbot des Landbesitzes hauptsächlich ausübten, zurückziehen sollten und ihnen die Möglichkeit gegeben werden sollte, Land zu pachten und zu bebauen.2 Nach Sorkin bezog sich die wertende Unterscheidung zwischen so genannten produktiven und unproduktiven Berufen auf die Wirtschaftsordnung des späten 18. Jahrhunderts, die auf der Landwirtschaft und dem Zunftsystem basierte und damit landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen einen höheren Stellenwert beimaß als den Handelsberufen.3 Da sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts amtlicherseits das antisemitische Stereotyp des „Schacherjuden" ausprägte, womit nicht nur der Kleinhandel, Landprodukten- oder Altwarenhandel der Juden bezeichnet wurde, sondern jede Form der Handelstätigkeit, sofern sie von Juden betrieben wurde, und in Opposition zum „bürgerlichen", „nützlichen" oder „christlichen" Gewerbe gesehen wurde 4 , verwunderte es nicht, dass Mitglieder der jüdischen Oberschicht diese fremdstereotypen Wertvorstellungen übernahmen und mit der Gründung von Vereinen zur 22 Vgl. Adressbuch (1908), S. 317f
1205 23 Vgl. Westheider, Versmold (1994), S. 62
1206 1 Siehe Brenner, Michael; Jersch-Wenzel, Stefi; Meyer, Michael A.: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. Emanzipation und Akkulturation 1780-1871. München 1996, S. 20
1207 2 Vgl. Herzig, Arno: Die Problematik christlich-jüdischen Zusammenlebens in Westfalen und Lippe während des Mittelalters und in der Neuzeit, in: Rodekamp, Volker (Hg.): Jüdisches Leben – Religion und Alltag. Katalog zur kulturhistorischen Ausstellung. Bd. 2. Aspekte der Vergangenheit. Güterloh 1988, S. 83 3 Vgl. Sorkin, David: The Transformation of German Jewry 1780-1840. New York 1987, S. 108 4 Vgl. Pohlmann, Klaus: Die Verbreitung der Handwerke unter den Juden. Zur Geschichte der jüdischen Handwerker in Lippe im 18. und 19. Jahrhundert. Detmold 1993, S. 124-128
1208 122
1209 Verbreitung von Handwerken unter den Juden versuchten, Mitgliedern der verarmten jüdischen Unterschicht die Aufnahme einer Handwerkslehre mit Hilfe von Prämien und Lehrgeldvorschüssen zu erleichtern. Mit einer solchen praktischen Politik hoffte die jüdische Oberschicht, die sich schon vor ihrer rechtlichen Emanzipierung an die christliche Oberschicht akkulturiert hatte, die Berufsstrukuren der jüdischen Gemeinden derjenigen der nichtjüdischen Gesellschaft anzugleichen oder doch zumindest aus den Söhnen verarmter Juden und aus jüdischen Waisenkindern nützliche jüdische Mitbürger zu machen.5
1210 In Minden wurde im August 1825 von dem Mediziner David Heilbronn, dem Architekten Simon Burgheim und dem Bankier Adolph Levison der „Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden" gegründet und von dem Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, der Regierung in Minden, den Landräten, Bürgermeistern, Pastoren, mehreren Adligen und jüdischen Mäzenen unterstützt. Dieser Verein hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jüdischen Lehrlingen und Gesellen mit Hilfe eines Netzes von Geschäftsführern in den kleineren Orten des Regierungsbezirkes Minden eine Lehr- oder Gesellenstelle bei jüdischen oder nichtjüdischen Meistern zu vermitteln und, wenn nötig, ihre Lehre vorzufinanzieren.6 Im Untersuchungsgebiet fungierten im Jahre 1825 die Kaufleute S. Goldschmidt in Rahden, L. Löwenstein in Preußisch Oldendorf, J. Boas und N. Rosenberg in Lübbecke, F. Stern in Halle und S. Weinberg in Werther als Geschäftsführer, deren Dienste darin bestanden, die freiwilligen, aber regelmäßigen Spenden von Juden und Nichtjuden und die vierteljährlichen Berichte an das Direktorium des Vereins zu übersenden und Mitteilungen über jüdische Lehrlinge und Gesellen und nichtjüdische, ausbildungsbereite Meister vor Ort zu machen.
1211 Auch aus den Orten des Kreises Halle i.W. waren von dem Verein einige junge Männer angenommen, in der deutschen Sprache geprüft und bei Meistern untergebracht worden. Raphael Frank aus Halle i.W. hatte bei einem Meister in der Kreisstadt eine Lehre als Sattler begonnen. Sein Vater war im Oktober 1820 gestorben und hatte Frau und drei minderjährige Kinder hinterlassen. Im Jahre 1834 ließ sich Raphael Frank in Versmold nieder.7 Meyer Gutmann aus Halle i.W. lernte in der Kreisstadt bei einem Schuhmachermeister. Sein Vater, der Handelsmann Levi Gutmann, war im Januar 1823 gestorben und hatte seine Frau, zwei Jungen - von denen der älteste 13 Jahre alt war - und zwei Mädchen hinterlassen. Fünfzehn Jahre später, am 24.12.1838, ließ sich Meyer Gutmann als Schuhmachermeister in Bielefeld nieder, nachdem er sich mehrere Jahre zuvor in der Weltstadt London fortgebildet hatte.8 5 Vgl. Bermann, Dagmar T.: Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Assimilatorische und zionistische Berufsumschichtungsbestrebungen unter den Juden Deutschlands und Österreichs bis 1938. Eine historischsoziologische Studie. Wien 1971, S. 74-80. Brenner/Jersch-Wenzel/Meyer: Deutsch-Jüdische Geschichte. Bd. II, (1996), S. 85
1212 6 Vgl. Erster Bericht über den Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden vom 19.10.1826 von Dr. Heilbronn/Minden
1213 7 Vgl. StADt, P 2 Nr. 67; StdtA Versmold, A 244
1214 8 Vgl. StADt, P 2 Nr. 123; StdtA Bielefeld, Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg, 1838, S. 419
1215 123
1216 Philipp Norden aus Werther, dessen verstorbener Vater Altwarenhändler war, hatte sich zwar beim Mindener Verein angemeldet, wusste allerdings noch nicht, welches Handwerk er ergreifen würde. Moses Meyerson aus Werther hatte eine Lehre als Schönfärber in Gütersloh begonnen und war dem Mindener Verein als Mitglied beigetreten.
1217 Am 28.11.1825 wurde in Münster durch Initiative von Professor Alexander Haindorf der „Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden und zur Errichtung einer Schulanstalt" gegründet, dessen Zuständigkeitsbereich zunächst nur den Regierungsbezirk Münster umfasste und zwei Jahre nach seiner Gründung den Regierungsbezirk Arnsberg einschloss. Auch dieser Verein wurde vom Oberpräsidenten, Ludwig von Vinke, der dem Verein als Mitglied beitrat und für ihn bei seinen Unterbehörden Werbung machte, aktiv unterstützt. Im Jahre 1828 nannte sich die Einrichtung in Münster „Verein zur Errichtung einer Schul-Anstalt, worin künftig jüdische Schullehrer ausgebildet und arme und verwaiste Kinder unterrichtet werden sollen; wie auch zur Beförderung von Handwerken und Künsten unter den Juden."9
1218 Bis zum Tode von Professor Haindorf im Jahre 1862 wurden in dieser Einrichtung 200 Lehrer ausgebildet und 300 Handwerkern Lehrstellen auf Kosten des Vereins vermittelt.10 In der Zeit von 1825-1871 wurden 389 Lehrlinge, die in 56 Berufssparten ausgebildet wurden, aufgenommen. Die am häufigsten gewählten Berufe waren Schuhmacher (44), Schneider (35), Weber (33), Buchbinder (28), Klempner (24), Sattler (24), Glaser (23), Anstreicher (22), Färber (14), Kürschner (13), Drechsler (12), Schlosser (11), Kappenmacher (9) und Tischler (8).11
1219 Seit 1842 absolvierte Joseph Neustädter aus Werther durch Vermittlung des Haindorfschen Vereins eine Tischlerlehre in Münster. Zu Beginn seiner Lehrzeit wurde er mit Geld und Kleidungsstücken von der jüdischen Gemeinde Werther ausgestattet, später wurde er von seinem Onkel in Preußisch Oldendorf unterstützt, da auch seine Mutter von der jüdischen Gemeinde in Werther Fürsorgegelder erhielt.12 Wie wir oben gesehen haben, ließen sich auch in den jüdischen Gemeinden der Kreise Lübbecke und Halle i.W. einige Handwerker nieder wie Goldschmiede, Färber, Lohgerber, Buchbinder, ein Klempner, ein Posamentenmacher, ein Kürschner, ein Sattler, ein Drechsler, ein Uhrmacher, ein Putzmacher usw. Doch ihr Anteil an allen jüdischen Erwerbstätigen lag immer deutlich unter 10% im Untersuchungszeitraum des 19. Jahrhunderts verglichen mit dem Anteil der jüdischen Handwerker in der ganzen Provinz Westfalen im Jahre 1854, als er 14,2% betrug.13 Manche Handwerker - wie der Uhrmacher Feidel Stern in Halle oder der Drechsler Hesekiel Neustädter in Werther - zogen es nach einiger Zeit in der Tat vor, wieder Handel zu treiben: der Erste zunächst mit Pferden und später mit Kolonialwaren, der Zweite mit Haushaltswaren. Andere Handwerker
1220 9 Vgl. Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung. Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825-1942). Paderborn 1997, S. 35ff 10 Vgl. Herzig, Arno: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973, S. 58 11 Vgl. Freund, S. 78
1221 12 Vgl. KAGt, H 4 H LR1 171.1 (A 117)
1222 13 Vgl. Herzig (1973), S. 69-71
1223 124
1224 entschieden sich, den Wohnort und damit den Markt zu wechseln, wie die Familie des Posamentiers Julius Backhaus, die im Jahre 1856 von Lübbecke nach Randers/Dänemark zog oder der Buchbinder Julius Boas aus Levern, der im selben Jahr nach Amerika auswanderte.
1225 Obwohl sich die Zahl der jüdischen Handwerker im Vormärz im Untersuchungsgebiet vermehrte, war ihre Zahl nach dem ersten Schub der Industrialisierung (1847) bis zum Beginn der Industrialisierungsphase der 1870er Jahre rückläufig. Jüdische Handwerker blieben ‚soziales Anhängsel' der Kauf- und Handelsleute in den kleinen jüdischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes.14 Inwieweit sich die Kinder der Kauf- und Handelsleute, die im Vormärz aktiv waren, entschieden, ein Unternehmen zu gründen und sich am lokalen, regionalen und überregionalen Industrialisierungsprozess zu beteiligen, soll im nächsten Kapitel dargestellt werden.
1226 3.5 Der Beitrag der jüdischen Bürger zur Modernisierung und Industrialisierung
1227 Während und nach der Industrialisierungsphase von 1870-90 entschieden sich einige jüdische Familien in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W. teils allein, teils indem sie eine Partnerschaft mit einem nichtjüdischen Unternehmer eingingen, den Entwicklungssprung vom Handel mit Garn, Leinen und Drell, Manufakturwaren, Altkleidern, Tabak, Eisenwaren, Landesprodukten und Gemischtwaren zur fabrikmäßigen Produktion von serienmäßiger Konfektionsware, Wäsche, Zigarren, Fleischwaren, Metallwaren und Dampfziegeln zu wagen.1
1228 Ein solcher
1229 Entwicklungssprung wäre ohne die Mitarbeit und die Kenntnisse zahlreicher Hausarbeiter und -arbeiterinnen, insbesondere von Zigarrenmachern und Näherinnen, ohne die kostengünstige Beschäftigung von lohndrückenden Frauen und Kindern kaum möglich gewesen, zumal die Herstellung von Zigarren eine rein manuelle Tätigkeit darstellte. Die Krise der heimindustriellen Garnspinnerei und Leinwandweberei seit den 1830er Jahren setzte ländliche Arbeitskräfte frei, die einerseits zunehmend nach 1850 in der aus den Kleinstädten Minden, Vlotho und Bünde aufs Land expandierenden Zigarrenfabrikationsbranche Beschäftigung fanden, andererseits seit den 1840er Jahren im Verlagswesen und als Hausarbeiter/innen und Fabrikarbeiter/innen der Bekleidungs- und Wäscheindustrie Anstellung suchten.2 Allerdings waren die Zahl und die Kapazitäten der Betriebe in der Zigarrenfabrikations- und der Bekleidungs- und Wäscheindustrie in
1230 14 Vgl. Bermann, S. 77
1231 1 Vgl. Herzig, Arno: Die westfälischen Juden im Modernisierungsprozess, in: Volkov, Shulamit (Hg.): Deutsche Juden und die Moderne. München 1994, S. 112
1232 2 Vgl. Wrede, Joseph: Die Minden-Ravensberger Zigarrenindustrie unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ihrer Arbeiter. Münster 1921, S. 13ff; Thielking, Bernd-Friedrich: Die Entstehung und Frühphase der Minden-Ravensberger Zigarrenindustrie (1830-1875), in: Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.): Westfalens Wirtschaft am Beginn des „Maschinenzeitalters“. Dortmund 1988, S. 171f; siehe auch Momberg, Rolf: Die Zigarrenmacher. Aus der Geschichte der Zigarrenindustrie im Minden-Lübbecker Land von 1830 bis zur Gegenwart. Hüllhorst 1996. Vgl. Ditt, Karl: Die Wäsche- und Bekleidungsindustrie Minden-Ravensbergs im 19. Jahrhundert, in: Lassotta, A.; Lutum-Lenger, P. (Hg.): Textilarbeiter und Textilindustrie. Beiträge zu ihrer Geschichte in Westfalen während der Industrialisierung. Hagen 1989, S. 105f; Voß, Günther: Herfords Bekleidungs- und Wäscheindustrie im Wandel der Zeit. Herford 1984, S. 14ff
1233 125
1234 den 1840er und 1850er Jahren noch nicht so entwickelt, dass alle frei werdenden Arbeitskräfte, die von der Krise in der protoindustriellen Garnspinnerei und Leinwandweberei betroffen worden waren, in den neuen substitutiven Industriebranchen hätten Beschäftigung finden können, denn sonst wäre es nicht erklärlich, warum so viele Landbewohner während der agarischen und protoindustriellen Krisen der 1840er und 1850er Jahren aus Ostwestfalen auswanderten.
1235 In Lübbecke begann der Leinen- und Drellhändler Nathan Ruben (*1807 in Spenge) im Jahre 1846 ein Handelsgeschäft mit handgewebtem Leinen und ließ später im Verlagssystem blaue Arbeitskittel nähen.3 Mit seinem Bruder Abraham unterhielt Nathan Ruben als Teilhaber der Firma A. Ruben (gegr. 1843) von 1854-1861 in Herford „eine Weberei mit 40 Stühlen für Leinen und Drell."4 Dies soll nach Voß das älteste Branchenunternehmen in Herford gewesen sein, „das sich aus einer Leinenweberei zur Kleiderfabrik entwickelte."5 Lehrer Max Lazarus schilderte den Gewerbefleiß und die Initiative des früheren Händlers und späteren Inhabers einer Konfektionsfabrik in Lübbecke, Nathan Ruben, und seines Sohnes Julius wie folgt:
1236 „Ich vernahm aus dem Munde eines begüterten Bauern, wie Herr Ruben sen. oft schon um Mitternacht sich zu Fuß nach fernen, gewerbereichen Orten begab, um bei Tagesanbruch im Hausierhandel tätig zu sein. Er begründete im Laufe der Zeit einen Konfektionsbetrieb und legte den Grund zur Hausindustrie am hiesigen Platze. Sein Auge übersah alles. Früh und spät spornte er Frauen und Mädchen zu Fleiß und Geschicklichkeit an und verhalf also armen Ortseingesessenen zu Brot und Verdienst. So wurde die Firma Nathan Ruben begründet, die, nach streng redlichen Grundsätzen geleitet, aufblühte und durch den kaufmännischen Weitblick des Sohnes zur Zeit als eines der bedeutendsten Unternehmungen gilt und überall in der Geschäftswelt sich des besten Rufes erfreut. Filialen in großen Städten sind angeschlossen. Herr Ruben jun. ist als Mitglied der Handelskammer und des Stadtverordnetenkollegiums sehr geschätzt. [...]“6
1237 Die Zahl der von der Firma Nathan Ruben beschäftigten Näherinnen („Nähmaschinen"), die zumeist als Hausarbeiterinnen zugeschnittene Stoffe aus Leinen, Baumwolle und Jute zu Arbeiterkleidung wie Schlosseranzügen („Blaumänner“), Arbeitshemden und Kittel vernähten, erhöhte sich von 40 im Jahre 1880 auf 200 (1896/97), 250 (1897/98) und 300 (1898/99).7 Nach Erweiterung der Näherei im Fabrikhauptgebäude in Lübbecke im Jahre 1888 und dem Einbau eines Dampfkessels im Jahre 1894 in einem neuen Fabrikanbau konnte die zentralisierte Produktion gesteigert werden, da den Zuschneidern, Büglerinnen und Näherinnen elektrisch betriebene Arbeitsgeräte zur Verfügung standen.8 Im Jahre 1898/99 wurden im Fabrikgebäude ca. 35 Personen als Kontoristen, Reisende, Lagerarbeiter und Zuschneider sowie 50 Arbeiterinnen als Büglerinnen und Näherinnen beschäftigt. Spätestens seit 1897 unterhielt die Firma Nathan Ruben eine Hauptniederlassung in Hamburg, von wo ein Teil der Kleidung, die in Lübbecke hergestellt worden war, durch Reisende abgesetzt wurde. Seit 1.1.1906 wurde die Firma Nathan Ruben als Kommanditgesellschaft geführt, in der der Kaufmann Julius Ruben in Lübbecke mit 500.000 M, der
1238 3 Vgl. Bünde, Lübbecke, Minden, Bad Oeyhausen, Rinteln, Solbad Melle. Hg. v. Magistrat der Stadt Bünde. Bearb. v. Bürgermeister Dr. Dieckmann. Berlin-Halensee 1930, 4. Aufl., S. 95
1239 4 Voß, S. 248
1240 5 Ebd., S. 248
1241 6 Lazarus, Max: Erinnerungen. Hg. v. Hans Chanoch Meyer. Dortmund 1967, S. 19 7 Vgl. StdtA Lübbecke, B 55.29 II; StADt, M 2 Lübbecke Nr. 2045
1242 8 Vgl. StdtA Lübbecke, C II 13.58; Dieckmann, S. 95
1243 126
1244 Kaufmann Albert Heymann in Warburg mit 150.000 M, der Prokurist Adolf Wolff in Lübbecke mit einer Einlage von 50.000 M und die Gesamtprokuristen Hugo Leon mit 80.000 M und Frl. Ida Lehmann mit 20.000 M beteiligt waren.9 Neben der Hauptniederlassung in Hamburg wurden nach der Jahrhundertwende Zweigniederlassungen in Berlin, Mönchengladbach und Manchester unterhalten. Die Palette der Produkte der mechanischen Kleider- und Hemdenfabriken hatte sich bis 1908 erheblich erweitert. Ein Briefkopf der Hamburger Niederlassung nannte folgende: Herrenund Knaben-Konfektion; Loden-, Sport- und Schlafrock-Konfektion; imprägnierte und Gummimäntel; Ölzeug; Leder-, Pelzjoppen und -mäntel; Export-Konfektion; Pyjamas; Herren-Hemden; Sommer- und Lustre-Konfektion; Arbeiter-Garderoben.10
1245 Nachdem infolge der Zwangsbewirtschaftung im Ersten Weltkrieg, die vermutlich aus der britischen Seeblockade, die Deutschland vom Weltmarkt abschnitt, resultierte, 117 Hausarbeiterinnen aus 31 Gemeinden des Kreises Lübbecke und 14 Fabrikarbeiterinnen in Lübbecke von der Firma Nathan Ruben entlassen werden mußten, teilte der Lübbecker Bürgermeister Pütz der Regierung Minden am 28.10.1916 mit, dass die Entlassenen teilweise in örtlichen Zigarrenfabriken Verdienst gefunden hätten.11
1246 Die Firma Abraham Hecht wurde im Jahre 1807 in Lübbecke gegründet. Der Firmengründer stammte aus Zeitlofs in Bayern, zog am Ende des 18. Jahrhunderts nach Lübbecke und lernte bei dem Tuchhändler Nathan Moses Steinberger.12 Zunächst führte Abraham Hecht in der Lange Straße 54 eine Manufakturwarenhandlung.13 Spätestens seit Anfang der 1860er Jahre leiteten seine Söhne Samuel und Levi als Gesellschafter eine Leinengroßhandlung in Lübbecke am Osterwall 285, und sein Sohn Moses führte eine Zweigniederlassung in Köln bis 1881. Danach übernahm Levi Hecht die Geschäftsführung bis 1887, als die Niederlassung in Köln aufgelöst wurde. Seit 1891 war Samuel Hecht alleiniger Inhaber der Firma A. Hecht, die nur noch in Lübbecke bestand.14 Vor der Jahrhundertwende wurde die Leinen- und Baumwollgroßhandlung von Hermann und Salomon Hecht, Söhne von Samuel Hecht, geleitet. Zunächst kaufte die Firma A. Hecht Leinentuche auf den Leggen der Kleinstädte im Kreis Lübbecke auf, lagerte sie und verkaufte sie weiter. Max Lazarus beschrieb die Anfänge dieser Firma in seinen Erinnerungen wie folgt:
1247 „Das in hiesiger Gegend gesponnene Leinen wurde und wird an bestimmten Stellen und Terminen leggeartig, d.h. börsenartig, gewertet und verkauft. Dieser Einrichtung verdankt die Firma A. Hecht ihr Entstehen. Sie ist sehr im Aufblühen. Zwei Söhne vertreten sie mit bestem Erfolge auf Geschäftsreisen weit im Reiche. [...]"15
1248 9 Vgl. StADt, (Gesellschafts- und Handelsregister des Kreisgerichts Lübbecke) A 1, Firma Nr. 19; vgl. StdtA Lübbecke, C I 3.75
1249 10 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 3.75
1250 11 Vgl. StdtA Lübbecke, C III 7.53
1251 12 Vgl. StdtA Lübbecke, Interview von Andrea Sundermeier und Isolde Oberlehberg mit Fred Edwards vom 9.9.1986 13 Vgl. StdtA Lübbecke, B 84.25 IV, V
1252 14 Vgl. StADt, A 1, Firma Nr. 103
1253 15 Lazarus, Erinnerungen, S. 20
1254 127
1255 Seit dem Jahr 1906 begann die Firma A. Hecht offenbar erfolgreich, Kleider- und Wäschekonfektion, d.h. massenhaft auf Vorrat nach bestimmten Größenklassen, fabrikmäßig zu produzieren, so dass die Gewerbesteuerzahlungen dieser Firma von 372 M im Jahre 1905 auf 572 M im Jahre 1906 anstiegen.16 Damit entrichtete die Firma A. Hecht sogar mehr Gewerbesteuern als die Firma Nathan Ruben, die 408 M zahlen musste.
1256 Im Jahre 1906 gab es vier Konfektionsfabriken in Lübbecke, die insgesamt 64 Fabrikarbeiter und 105 Fabrikarbeiterinnen (ohne Hausarbeiterinnen) beschäftigten.17 Doch wie die Firma Nathan Ruben beschäftigte die Firma A. Hecht zweifellos mehr Hausarbeiterinnen als Näherinnen in der Fabrik. Im September 1915 sah sich die Firma A. Hecht genötigt, aufgrund der kriegsbedingten Zwangsbewirtschaftung 18 von 23 Fabrikarbeitern und zusätzlich 94 „Hausgewerbetreibende", also Näherinnen, aus 15 Gemeinden des Kreises Lübbecke zu entlassen.18 Allein 50 Hausarbeiterinnen, die in der Kreisstadt wohnten, waren darunter. Ein Jahr später ruhte der Betrieb vorübergehend ganz, bevor die Produktion im Jahr 1917 wieder anlief. Nach dem Ersten Weltkrieg musste die Produktion im Winter 1923 wegen der Hyperinflation, der schwierigen Berechnung der Preise und Löhne, eine Zeit lang eingestellt werden.19
1257 Die Firma M.N. Rosenberg als dritter, kleinerer Konfektionsbetrieb, produzierte in Lübbecke von 1898-1913. Im Jahre 1904 beschäftigte dieser Betrieb ein Maximum von 20 Arbeitern und Arbeiterinnen als Hausarbeiter und in der Fabrikationsstätte 2 Buchhalter und 2 Zuschneider.20 Max Rosenberg, ein Sohn des früheren Manufakturwarenhändlers Moses Nathan Rosenberg, wurde am 12.2.1902 als persönlich haftender Gesellschafter der Firma M.N. Rosenberg ins Handelsregister eingetragen, während seinem Vater Moses Prokura erteilt wurde.21 Ein Grund für die Aufgabe dieses Betriebs war, dass Max Rosenberg als Soldat im Ersten Weltkrieg eingezogen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Max Rosenberg als Handelsvertreter. Der Verbürgerlichungsprozess der Familie M.N. Rosenberg zeigte sich nicht nur darin, dass der Vater mit seinem Sohn einen Konfektionsbetrieb unterhielt. Eine jüngere Tochter von Max und Margarete Rosenberg, Hilde, schloss am 1.2.1930 an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg ihre Promotion ab und verheiratete sich im selben Jahr mit dem Lübbecker Fabrikanten Albert Ruben.22
1258 16 Vgl. StdtA Lübbecke, C II 13.31; C III 13.17
1259 17 Vgl. StdtA Lübbecke, C II 13.31
1260 18 Vgl. StADt, D 3 Minden Nr. 23
1261 19 Vgl. StdtA Lübbecke, C II 13.74
1262 20 Vgl. ebd.
1263 21 Vgl. StADt, A 1, Firma Nr. 13
1264 22 Vgl. Beckmann (1994), S. 71. Dr. Hilde Rosenberg verfasste eine Dissertation mit dem Titel: „Die Berufsvorbereitung des Industriearbeiters und ihre Bedeutung im Kampf um die Arbeitsfreude mit einem Überblick über die gegenwärtigen Verhältnisse in der Berufsvorbereitung Deutschlands.“ Eine Kopie der Promotionsurkunde wurde dem Verfasser freundlicherweise von ihrer Tochter, Miriam Shimoni, zugesandt.
1265 128
1266 Seit 1897 beschäftigten die Gebrüder Frank in Rahden 18 Hausarbeiter im Amt Rahden in der Textilherstellung.23 Die Gewerbeinspektion in Minden schätzte die Lage der Konfektionsindustrie in der ostwestfälischen Region im Jahre 1897 als expansiv ein, da sowohl die Zahl der Konfektionsbetriebe als auch die Zahl der beschäftigten Hausarbeiter/innen zugenommen habe. Allerdings wurde auch die zunehmende Konkurrenz, besonders die der voigtländischen Konfektionsindustrie beklagt, wo noch niedrigere Löhne als in Ostwestfalen gezahlt würden.24 Während im Jahre 1882 im Regierungsbezirk Minden, d.h. besonders in den Kreisen Minden, Lübbecke, Herford und Bielefeld 3.950 Personen im Heimgewerbe von der Bekleidungsindustrie beschäftigt wurden, waren es 1893 schon 4.750 Personen.25 Der Erfolg der ostwestfälischen Konfektionsindustrie war ambivalent: einerseits trug die Bekleidungs- und Wäscheindustrie zur Beschäftigung von Frauen in den Städten und auf dem Land bei, andererseits war die soziale Lage der Näherinnen als Hausarbeiterinnen schlechter als diejenige der Fabrikarbeiterinnen in dieser Branche vor dem Ersten Weltkrieg. Die Gründe waren folgende:
1267 1. Die Fabriknäherinnen hatten einen zeitlich geregelten Arbeitstag, der allerdings im Vergleich zu heutigen Standards sehr lang war. Nach der Arbeitsordnung der Firma Nathan Ruben vom 13.3.1913 betrug die Wochenarbeitszeit im Sommer 58 Stunden, die Tagesarbeitszeit 12½ Stunden inklusive 2½ Stunden Pause.26 Für allein stehende oder verwitwete Frauen, die ihren Verdienst als Vollarbeiterinnen im Hausgewerbe erzielten, oder auch für junge, unverheiratete Hausarbeiterinnen (Näherinnen) war die tägliche Arbeitszeit vor Lieferterminen noch länger als diejenige der in einer Fabrik Beschäftigten und konnte 12-16 Stunden betragen. 2. Für Fabrikarbeiterinnen galt eine 14tägige Kündigungsfrist, während Hausgewerbetreibende keinen Kündigungsschutz hatten. 3. In Rezessionszeiten wurden Fabrikarbeiterinnen nicht sofort entlassen, sondern des öfteren mit Kurzarbeit beschäftigt, während Hausarbeiterinnen eher damit rechnen mussten, in solchen Zeiten ihre Beschäftigung zu verlieren. 4. Fabrikarbeiterinnen waren gegen Krankheit, Invalidität und altersbedingte Erwerbsunfähigkeit versichert, während sich Hausgewerbetreibende freiwillig versichern mussten, dies aber in der Regel nicht taten.27
1268 In Levern gründete im Jahre 1902 Alex Löwenstein mit seinem Sohn Karl die „Westfälische Fleischwarenfabrik Löwenstein & Sohn", die vor 1914 ca. 15 Beschäftigte hatte.28 In einer Beschreibung zum Antrag der Baugenehmigung eines Schlachtraumes für die Fleischwarenfabrik Löwenstein vom 20.10.1902 hieß es:
1269 23 Vgl. StADt, M 2 Lübbecke Nr. 2045
1270 24 Vgl. StADt, D 3 Minden Nr. 52
1271 25 Vgl. Ditt (1989), S. 110
1272 26 Vgl. StADt, M 2 Lübbecke Nr. 125; StdtA Lübbecke, C II 13.8
1273 27 Vgl. Ditt (1989), S. 117
1274 28 Vgl. Möllenhoff, Gisela; Schlautmann-Overmeyer, Rita: Jüdische Familien in Münster 1918 bis 1945. Teil 1: Biographisches Lexikon. Münster 1995, S. 279; Hillebrand, Stefanie: Jüdische Geschichte in Levern und Umgebung 1800-1938. Espelkamp 1996, S. 27
1275 129
1276 „In dem projektirten Schlachtraum sollen Schweine und auch Rindvieh nach Erfordern und Bedarf geschlachtet werden, um von hier aus in geschlachtetem Zustande in der anstoßenden Fleischwarenfabrik zu Fleischwaren aller Art hauptsächlich zu Wurst verarbeitet zu werden."29
1277 Die Wurst soll per Bahn von Bohmte/Osnabrück nach Münster transportiert und von dort vertrieben worden sein.30 Der Betrieb der Fleischwarenfabrik wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs eingestellt. Nach dem Krieg widmete sich die Familie Löwenstein in erster Linie dem Import von Fleisch aus Übersee (z.B. aus Argentinien), das in Levern fassweise angeliefert „und portionsweise verpackt worden sein" soll.31 Im Jahre 1919 wurde eine OHG mit dem Firmennamen „Löwenstein Söhne" mit Sitz in Münster gegründet, im selben Jahr eine Zweigniederlassung in Köln. Die Firma hatte Einkaufsbüros in Rotterdam und Hamburg. Das Lebensmittelimport- und Großhandelsgeschäft, als dessen persönlich haftender Gesellschafter sich Alex Löwenstein nach seinem Umzug nach Münster im Jahre 1908 ins dortige Handelsregister eintragen ließ, war aus der im Jahre 1843 in Levern gegründeten Firma mit dem Namen seines Vaters „Bernhard Löwenstein" hervorgegangen.32 Der Betrieb der Firma in Levern wurde mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1928/29 aufgegeben.33
1278 Im Jahre 1877 gründete Aron Bendix Weinberg aus Werther mit seinen Söhnen Moses Aron und Bendix Aron und seinem Partner Wilhelm Langer eine Zigarrenfabrik in der Gemeinde Theenhausen im Amt Werther im Kreis Halle i.W. Zuvor soll Aron B. Weinberg ein Handelsgeschäft mit Tabak und Zigarren sowie Finanzgeschäfte betrieben haben. Beispielsweise soll er nach dem Zusammenbruch einer ländlichen Sparkasse in Dornberg (1879/80) den größten Hof, Milsmann Nr. 1, in Dornberg erworben und in den Jahren von 1889-94 an fünf Bauern parzelliert wieder verkauft haben.34 Im Jahre 1896 beschäftigten A.B. Weinberg & Langer in ihrer Zigarrenfabrik in Theenhausen ca. 55 Arbeiter und Arbeiterinnen. Nach dem Kauf des Schlosses Werther mit Hofraum und Garten im Jahre 1887 und der Einrichtung eines Kontors und weiterer Gewerberäume im Schloss ein Jahr später wurden hier weitere 25 Zigarrenarbeiter, z.B. als Sortierer beschäftigt.35 Vor dem Verbot der Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder gemäß den Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 1.6.1891 wurden zumindest in der Filiale in Theenhausen neben erwachsenen Männern und Frauen auch Kinder in einem separaten Raum beschäftigt. Ein Schnitt und ein Grundriss der Filiale in Theenhausen aus dem Jahr 1890 zeigen im Erdgeschoss neben weiteren Räumen ein mit „Arbeitsraum I" bezeichnetes Zimmer für „Knaben“ mit einer maximalen Länge von 7,82 m, einer maximalen Breite von 5,15 m sowie vier Fenster. Möglicherweise konnten in diesem Zimmer ca. 10 schulpflichtige Kinder nachmittags beschäftigt
1279 29 StADt, D 3 Minden Nr. 101
1280 30 Vgl. Hillebrand, S. 27
1281 31 Ebd., S. 27
1282 32 Vgl. Möllenhoff, S. 279, 281
1283 33 Vgl. Hillebrand, S. 27
1284 34 Briefliche Mitteilung von Paul Lütgemeyer an Kurt Weinberg
1285 35 Vgl. StADt, M 1 I G Nr. 272; StdtA Werther, A 367
1286 130
1287 werden. Im Bodenraum waren neben getrennten Arbeitsräumen für Männer und Frauen ein Lagerraum und eine Trockenstube eingerichtet. Der Arbeitsraum für Männer hatte eine Grundfläche von 63 qm und umfasste einen Luftraum von 179,7 cbm. Da nach der Verordnung des Bundesrates vom 9.5.1888 ein Mindestluftraum von 7 cbm pro Zigarrenarbeiter vorausgesetzt wurde, konnten in diesem Arbeitsraum nach den Berechnungen des zuständigen Baurates maximal 26-27 Arbeiter beschäftigt werden. Der Frauenarbeitsraum hatte eine Grundfläche von 50 qm und einen Luftraum von 137,80 cbm, was zur Beschäftigung von 19 Arbeiterinnen qualifizierte. Der Männerarbeitsraum war mit drei Fenstern, zwei Dachfenstern zum Öffnen und einer Deckenklappe ausgestattet. Der Frauenarbeitsraum hatte ebenfalls drei Seitenfenster und ein Dachfenster.36
1288 Das Verbot der Kinderarbeit in den Zigarrenfabriken hatte nach Wrede zur Folge, dass die Eltern, die auf die vorbereitende Arbeit und den Verdienst ihrer Kinder angewiesen waren, in die Hausgewerbeindustrie abwanderten, wo die Arbeitsverhältnisse möglicherweise noch schlechter waren. Hygienische Mindeststandards für Zigarrenarbeiter im Hausgewerbe wurden erst mit den Vorschriften des Bundesrats vom 17.11.1913 für die Gewerbeinspektion verbindlich gemacht.37 Während im Jahre 1891 in 284 Filialfabriken in der Westfälischen Zigarrenindustrie noch 1.496 Kinder und 1.455 Jugendliche beschäftigt waren, sank ihre Zahl bis 1894 auf 2 Kinder und 1.226 Jugendliche in 237 Filialfabriken.38 Nach einer Zählung aus dem Jahre 1898 waren von 22.668 in der Tabakhausindustrie im Reich arbeitenden Kindern allein 5.399 (2.992 Knaben/2.407 Mädchen) oder 23,8% in den Kreisen Minden, Lübbecke und Herford beschäftigt. Diese Daten belegen zum einen die Verlagerung der Kinderarbeit aus der Fabrik- in die Hausindustrie, zum anderen die expansive Bedeutung der ostwestfälischen Zigarrenhausindustrie am Ende des 19. Jahrhunderts.39 Am 27.1.1890 stellte Aron Bendix Weinberg beim Landrat Graf zu Ysenburg in Halle den Antrag, in seiner Zigarrenfabrik in Theenhausen sechs weitere Zigarrenarbeiter, zusammen also 33 Zigarrenarbeiter beschäftigen zu dürfen, da der entsprechende Arbeitsraum „mit genügender Ventilationseinrichtung versehen" sei.40 Obwohl Gewerberat Raether in Minden in einem Gutachten vom 30.6.1890 zu dem Ergebnis kam, dass in diesem Fall eine Ausnahme von der Bekanntmachung des Bundesrats vom 9.5.1888 gemacht werden könne, wenn a) in dem Arbeitsraum für Männer ein Ventilationsmantelofen eingebaut würde, b) die Oberlichter der drei Giebelfenster mit Klappscheiben versehen würden und c) anstelle der Deckenklappe ein Dunstabzugsschacht installiert würde, entschied die Regierung schließlich Ende Juli 1890, das Gesuch abzulehnen, da der Arbeitsraum höchstens mit 27 Arbeitern belegt werden könne.41 36 Vgl. StADt, M 1 I G Nr. 272
1289 37 Vgl. Wrede, S. 96f; StADt, M 1 I G Nr. 288, Bd. III
1290 38 Vgl. Wrede, S, 97
1291 39 Vgl. Wrede, S. 97f
1292 40 Vgl. StADt, M 1 I G Nr. 272
1293 41 Vgl. ebd.
1294 131
1295 Bis spätestens vor Beginn des Ersten Weltkriegs unterhielt die Zigarrenfabrik A.B. Weinberg auch eine Filiale in Spenge im Kreis Herford am so genannten Hückerkreuz. Hier waren im Sommer 1914 durchschnittlich 60 Zigarrenarbeiter, darunter 20 Frauen und Mädchen beschäftigt. Von der Belegschaft waren 10 Männer und 8 Frauen (30%) in der SPD organisiert.42 Die Filiale wurde von einem Werkmeister, der von der Firma A.B. Weinberg angestellt war, geleitet. Dieser Werkmeister beschäftigte allerdings auch selbst eine Reihe weiterer Zigarrenarbeiter und -arbeiterinnen in den umliegenden Gemeinden wie Bardüttingdorf und Westerenger in der Hausindustrie.43 Spätestens während der Zeit der Weimarer Republik unterhielt Werkmeister Peter Heitmann offenbar auch einen eigenen Fabrikraum für 18 Arbeiter, in dem er vermutlich in Kommission Zigarren für die Firma A.B. Weinberg in Werther herstellen ließ.44
1296 Welche Bedeutung die Zigarrenindustrie für den Kreis Herford im Vergleich zum Kreis Halle i.W. hatte, verdeutlichen die Beschäftigtenzahlen. Während schon im Jahre 1875 im Kreis Herford 92 Zigarrenfabriken mit 3.353 Beschäftigten registriert wurden, waren es im Kreis Halle i.W. im Jahre 1901 nur 118 Männer und 25 Frauen, die als Fabrikarbeiter und 106 Männer und vier Frauen, die in der Hausindustrie beschäftigt wurden.45 Im Sommer 1913 zählte man im Kreis Herford 2.656 Hausarbeiterinnen und 4.220 Hausarbeiter in der Zigarrenindustrie.46 Die Gründe für die größere Zahl der Beschäftigten in der Zigarrenindustrie im Kreis Herford, speziell im Amt Spenge im Vergleich zum Kreis Halle i.W. im allgemeinen und dem Amt Werther im besonderen, lagen im größeren Arbeiterangebot und den niedrigeren Löhnen, aber auch in den Absprachen der Zigarrenfabrikanten untereinander - zumindest in den 1850er Jahren -, ‚sich gegenseitig keine Arbeiter abzunehmen', um Lohnsteigerungen zu vermeiden.47
1297 Dass Arbeiter sich partei- und verbandsmäßig organisieren, um ihre Interessen besser vertreten zu können, zeigte sich in der Spenger Filiale der Firma A.B. Weinberg kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die 18 in der SPD und im Deutschen Tabakarbeiter-Verband organisierten Zigarrenarbeiter und -arbeiterinnen forderten eine 10-15% Lohnerhöhung pro Tausend gefertigter Zigarren.48 Nachdem die Firma diese Forderungen abgelehnt hatte, stellten die 18 Arbeiter nach Ablauf der vierzehntägigen Kündigungszeit ihre Arbeit ein. Mit der Mobilmachung am 1. August nahmen die Arbeiter aber ihre Forderungen zurück und baten darum, wieder eingestellt zu werden. Dies lehnte die Firma A.B. Weinberg jedoch ab, da sie - nach den Worten des Amtmannes von Spenge, Cornelius – „die übelsten Erfahrungen" mit den organisierten Arbeitern gemacht habe. Sie hätten nur „Unruhe" unter den Arbeitern verbreitet und Lohnforderungen gestellt. Als die Löhne im Jahre zuvor beträchtlich erhöht worden waren, hätten die organisierten Arbeiter die zusätzliche
1298 42 KAHf, A Nr. 1293
1299 43 Vgl. StADt, M 1 I G Nr. 287, Bd. II; Nr. 288, Bd. III
1300 44 Vgl. StADt, M1 I G Nr. 288, Bd. II
1301 45 Vgl. Thielking, S. 192, Tabelle 4; StADt, M 1 I G Nr. 274
1302 46 Vgl. KAHf, A Nr. 1301
1303 47 Vgl. Thielking, S. 193f
1304 48 Vgl. KAHf, A Nr. 1293
1305 132
1306 Forderung aufgestellt, dass alle 40 nichtorganisierten Arbeiter entlassen werden sollten. Während nach den Worten des Werkmeisters Heitmann die Firma A.B. Weinberg „froh sei, daß sie die [organisierten] Leute los sei", sprach der Gauleiter des Deutschen Tabakarbeiter-Verbandes in Herford, Wilhelm Schlüter, von einer angedrohten Aussperrung der organisierten Arbeiter in Theenhausen, Werther und Spenge durch die Firma A.B. Weinberg. Am 1.8.1914 wandte sich Schlüter mit folgendem Schreiben an die Firma A.B. Weinberg in Werther:
1307 „Geehrter Herr Weinberg! Angesichts dessen, das unser Deutschland jetzt in allen seinen Gliedern einig sein muß, angesichts der furchtbaren Gefahr, worin sich das Vaterland befindet, frage ich höflich an, ob es sich jetzt nicht gezimmt [sic] auch unsern Streit ein Ende zu machen. Wohl ist jetzt der beste Augenblick gekommen in allen Ehren Frieden zu schliessen. Ich teile Ihnen mit, dass wir alle Forderungen zurückziehen in der Voraussetzung dass auch Sie alle getroffenen Massregel in Spenge und Werther-Theenhausen zurücknehmen. Ich habe die Arbeiter in Werther angewiesen in diesen Sinne an Ihnen [sic] heranzutreten. Sollten Sie den Frieden wollen, dann sollen Sie sofort nach Spenge Botschaft schicken. In der Hoffnung dass auch Sie sich in obigen Sinne betätigen. Hochachtend W. Schlüter“49
1308 Eine Petition vom 3.9.1914 an den kommandierenden General der Kavallerie, Freiherr von Bining, in Münster mit angeschlossener Namensliste von 7 Arbeitern, von denen schon zwei „im Felde waren", und 9 Arbeiterinnen, die meisten Ehefrauen, die in der Spenger Filiale beschäftigt waren, verdeutlichte, dass der Werkmeister Peter Heitmann - möglicherweise auf Anordnung der Firmenleitung - die innerbetriebliche Situation dadurch verschärft hatte, dass er von den Arbeitern verlangt hatte, bis zum 22.7.1914 eine Erklärung zu unterschreiben, wonach sie sich verpflichten sollten, aus dem Deutschen Tabakarbeiterverbande auszutreten. Wer sich weigerte, würde nach 14tägiger Kündigungszeit von Montag, dem 20.7.1914 an gerechnet, entlassen. Während der Werkmeister allen organisierten Arbeitern am Montag, dem 20.7.1914 kündigte, hätten die Arbeiter erst am darauf folgenden Mittwoch ihre Kündigung eingereicht. Deshalb sei die Kündigung der organisierten Arbeiter nach Meinung der Petenten erst am 5. August rechtsgültig gewesen. Ihr Arbeitgeber hätte ihre Kündigung aber schon zum 1. August ausgesprochen. Obwohl die organisierten Arbeiter schon vor der Mobilmachung der Firma A.B. Weinberg schriftlich versichert hätten, dass sie ihre Lohnforderungen in Anbetracht der militärischen Lage zurücknähmen und sie auch den Landrat von Herford um Vermittlung bäten, sei ihre Einstellung bisher noch nicht wieder erfolgt. Die Petition endete mit den Worten:
1309 „Die Arbeiter bitten Eure Exellenz, daß Hochdieselbe die Firma [A.B. Weinberg] anhält, die entlassenen Arbeiter wieder einzustellen, so daß die harmonische Stimmung, die jetzt im Vaterlande herrscht, durch dies kleine Vorkommnis nicht getrübt wird."50
1310 Am 11. September 1914 teilte der Gauleiter des Deutschen Tabakarbeiterverbandes in Herford, Wilhelm Schlüter, dem Herforder Landrat mit, dass durch die Vermittlung des reformorientierten Rabbiners der jüdischen Gemeinde in Bielefeld, Dr. Felix Coblenz, die Firma A.B. Weinberg alle Arbeiter wieder eingestellt habe.51
1311 Nach dem Ersten Weltkrieg kam es im Amt Spenge im November 1927 erneut zu einer Aussperrung von Tabakarbeitern. Dieses Mal waren 651 Tabakarbeiter aus neun Firmen, darunter
1312 49 KAHf, A Nr. 1293
1313 50 Ebd.
1314 51 Vgl. ebd.
1315 133
1316 124 Arbeiter der Firma A.B. Weinberg (19%), betroffen. Amtmann Cornelius berichtete dem Herforder Landrat, dass ein großer Teil der ausgesperrten Arbeiter nicht organisiert sei. Die organisierten Zigarrenarbeiter hatten - offenbar zusammen mit ihren Kollegen aus sächsischen Gebieten - Lohnforderungen gestellt, die die Mitglieder des Westfälischen Zigarrenfabrikantenverbandes nicht akzeptieren wollten.52
1317 In Werther richtete im Jahre 1849 das Handelshaus Walbaum im Bauernhaus Barmeyer am Markt den ersten Fabrikbetrieb mit Dampfkraft, eine Flachsschwingerei, ein. Nachdem dieser Betrieb geschlossen wurde, meldeten die Söhne des Handelsmannes Salomon Goldstein, Simon und Meier, in diesem Gebäude am Markt 50 am 4.2.1888 eine neue Metallwarenfabrik und Verzinkerei mit besonderem Kontor an.53 Dieser Betrieb, der maximal 21 männliche Beschäftigte über 16 Jahre in den Jahren 1902/3 hatte 54 , der Firma S. Goldstein, Werther, wurde im Jahre 1907 an Heinrich Rehwoldt aus Wattenscheid und Friedrich Streuber aus Herford verkauft und firmierte bis 1914 unter dem Namen „Westfälische Metallwaaren Fabrik & Verzinkerei Rehwold & Streuber".
1318 Die Zahl der Arbeiter und Arbeiterinnen, die von der Lumpensortieranstalt mit der Firma Ph. Stern in Halle i.W. an der Langestraße 20 von 1901 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigt wurden, betrug minimal 39 von Winter 1903 bis Winter 1904 und maximal 65 im Winter 1913/14, darunter Männer, Frauen und Jugendliche. Im Februar 1918 erkannte die Kriegsamtstelle Düsseldorf die Firma Ph. Stern in Halle i.W. als Rüstungsbetrieb „für die darin beschäftigten Schwerarbeiter" an und wurde von der Gewerbeinspektion Bielefeld in die entsprechende Liste eingetragen. Das bedeutete, dass die Schwerarbeiter während der Zeit der großen Offensiven im Frühjahr 1918 nicht kriegsdienstverpflichtet werden konnten. Tatsächlich blieb die Zahl der beschäftigten männlichen erwachsenen Arbeiter zwischen Sommer 1917 bis Sommer 1918 konstant (14). Erst im Winter 1918/19 stieg sie wieder auf 27 an. Nach dem Ersten Weltkrieg erhöhte sich die Zahl der beschäftigten Arbeiter auf 118 im Winter 1919 bis Sommer 1920, unter ihnen 34 männliche Erwachsene über 16 Jahre und 54 Arbeiterinnen der Altersgruppe 16-21 Jahre und 30 Arbeiterinnen über 21 Jahre. Der Grund, weshalb die Zahl der beschäftigten Arbeiterinnen in der Altersgruppe von 16-21 Jahren von 54 im Sommer 1920 auf 2 im Winter 1920/21 sank, war vermutlich die Einführung der verlängerten Schulpflicht in den Fortbildungsschulen bis zum achtzehnten Lebensjahr (vgl. § 145 RV).55
1319 Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten forderte die Gewerbeinspektion Bielefeld den persönlich haftenden Gesellschafter der Firma Ph. Stern, Robert Stern, der den Betrieb seit 1904 von seinem Kontor in Bielefeld aus führte, am 22.5.1906 auf, Staubabsaugungsanlagen in seinem Lager in Halle i.W. installieren zu lassen. Robert Stern 52 Vgl. ebd.
1320 53 Vgl. StdtA Werther, A 367; StADt, D 23 Halle Nr. 281, Firma Nr. 47; vgl. Stieghorst, S. 174f 54 Vgl. StADt, D 3 Bielefeld Nr. 699
1321 55 Vgl. StADt, D 3 Bielefeld Nr. 791
1322 134
1323 versuchte zunächst, den Einbau einer solchen Anlage zu verhindern, indem er das Kostenargument geltend machte und auch auf die Konkurrenz verwies, die angeblich zum Teil ebenfalls keine Staubabsaugungsanlage hätte einbauen lassen müssen. Allerdings Tabelle 51 : Zahl und Alter der beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen bei der Lumpensortieranstalt Philipp Stern in Halle i.W. (1901-1925)
1324 Jahreshälfte Erwachsene Jugendliche Summe
1325 Männer über 16 Frauen 16-21 Frauen über 21 Jungen 14-16 Mädchen 14-16
1326 Sommer 1901 26 2 12 2 1 43
1327 Winter 1901/02 26 2 12 2 1 43
1328 Sommer 1902 22 2 12 3 1 40
1329 Winter 1902/03 21 1 14 2 1 39
1330 Sommer 1903 22 -- 17 -- -- 39
1331 Winter 1903/04 22 2 14 -- 1 39
1332 Sommer 1904 27 1 14 4 1 47
1333 Winter 1904/05 27 2 17 -- 1 47
1334 Sommer 1905 23 4 19 2 1 49
1335 Winter 1905/06 23 4 19 2 1 49
1336 Sommer 1906 27 -- 27 -- -- 54
1337 Winter 1906/07 27 -- 27 -- -- 54
1338 Sommer 1907 25 4 26 4 -- 59
1339 Winter 1907/08 25 4 26 4 -- 59
1340 Sommer 1908 26 2 24 1 1 54
1341 Winter 1908/09 29 2 20 1 1 53
1342 Sommer 1909 27 -- 21 2 -- 50
1343 Winter 1909/10 26 1 21 1 -- 49
1344 Sommer 1910 26 -- 19 3 1 49
1345 Winter 1910/11 27 3 22 -- -- 52
1346 Sommer 1911 26 2 25 -- -- 53
1347 Winter 1911/12 28 3 28 -- -- 59
1348 Sommer 1912 30 2 29 -- -- 61
1349 Winter 1912/13 27 1 30 -- -- 58
1350 Sommer 1913 26 2 26 -- -- 54
1351 Winter 1913/14 33 -- 32 -- -- 65
1352 Sommer 1914 18 4 22 -- -- 44
1353 Winter 1914/15 24 9 35 -- -- 68
1354 Winter 1915/16 28 7 41 -- -- 76
1355 Sommer 1916 25 5 35 -- -- 65
1356 Winter 1916/17 19 4 34 1 -- 58
1357 Sommer 1917 14 5 36 1 -- 56
1358 Winter 1917/18 14 -- 39 3 -- 56
1359 Sommer 1918 14 6 39 -- -- 59
1360 Winter 1918/19 27 6 32 1 -- 66
1361 Sommer 1919 23 3 27 -- -- 53
1362 Winter 1919/20 34 54 30 -- -- 118
1363 Sommer 1920 34 54 30 -- -- 118
1364 Winter 1920/21 34 2 34 -- -- 70
1365 Sommer 1921 32 7 30 -- -- 69
1366 Winter 1921/22 24 2 38 -- -- 64
1367 Sommer 1922 25 3 37 -- -- 65
1368 Sommer 1923 28 -- 37 -- -- 65
1369 Winter 1923/24 28 -- 21 -- -- 49
1370 Sommer 1924 30 -- 23 -- -- 53
1371 Winter 1924/25 34 -- 38 -- -- 72
1372 Sommer 1925 35 -- 40 -- -- 75
1373 Quelle: StADt, D 3 Nr. 791
1374 sei er zum Einbau von Deckenventilatoren bereit. Auch verwies er in seinem Schreiben an die Gewerbeinspektion auf mögliche negative Folgen für die Gesundheit seiner beschäftigten Arbeiter: „Es wird nämlich in dem Sortiersaal der Staub durchaus nicht allein an den Sortiertischen entwickelt, sondern mehr noch bei den verschiedenen anderen vorzunehmenden Hantierungen, wie Ausleeren der Säcke, Auspacken der sortierten Lumpen aus den Kisten in Körbe, Aufgeben dieser auf die Nachsehtische, Zusammenkehren der Lumpen & a.m. Der hierbei aufgewirbelte Staub würde aber in Folge des Zuges statt nach oben zu den Tischen hinziehen und die Arbeiter mehr wie jetzt belästigen."56 Der Gewerberat Trauthan in Bielefeld ließ sich von diesen Argumenten aber nicht beeindrucken und forderte mit Schreiben vom 31.7.1906 die Firma Ph. Stern auf, für eine Absaugung des Staubes auf den Sortiertischen, die mit einem Drahtnetz versehen waren, nach unten zu sorgen, da es solche Anlagen schon in einer großen Zahl ähnlicher Betriebe gebe. Ein Ministerialerlass vom Dezember 1895 verfüge, in allen Betrieben, die sich mit Strom versorgen könnten, solche 56 StADt, D 3 Bielefeld Nr. 791; Schreiben vom 23.7.1906
1375 135
1376 Anlagen einbauen zu lassen. Für die Firma Ph. Stern konnte diese Verfügung damals nicht geltend gemacht werden, da ihre Sortieranlage schon vor 1895 bestand. Gegen den zusätzlichen Einbau von Deckenventilatoren hatte auch der Gewerberat nichts einzuwenden.
1377 In ihrem Schreiben vom 23.8.1906 verwies die Firma Ph. Stern erneut auf die Konkurrenz. Die Firmen D. Katzenstein in Gotha und H. Meier & Co. in Lübeck hätten nach Totalbrand neue Sortieranlagen aufgebaut, die jedoch ohne mechanische Absaugungsanlagen ausgestattet seien, obwohl die Betriebe über Strom verfügten. Der Verein für Rohproduktenhändler Deutschlands habe der Firma Ph. Stern versichert, dass der Einbau von „Exhaustoranlagen" sich nicht bewährt habe und für die Arbeiter der ständige künstliche Luftzug unangenehmer sei als die Staubentwicklung. Das Schreiben von Robert Stern an die Gewerbeinspektion endet mit den empörten Worten: „Eine Ausnahme [im Original unterstrichen, Verf.], die mich zur Aufwendung von Tausenden zwingt, welche nach meiner und meiner Fachgenossen Ansicht und Erfahrung nutzlos zudem ausgegeben würden, kann billigerweise von mir nicht verlangt werden."57
1378 Als Antwort auf dieses Schreiben sandte die Gewerbeinspektion der Firma Ph. Stern einen Firmenprospekt zu, der Entstaubungsanlagen für ca. 50 Sortiertische zum Preis von 2.000 M für Betriebe anbot, die Elektromotoren von 3-4 HP (PS) bereitstellen konnten. Die angebotene Anlage hatte auch den Vorteil, die Absaugluft zur Kühlung der Arbeitsräume im Sommer verwenden zu können. Unter Androhung einer polizeilichen Verfügung sollte sich die Firma Ph. Stern die Sache noch einmal überlegen.
1379 Am 21.1.1908 teilte Robert Stern der Gewerbeinspektion in Bielefeld schließlich mit, dass die geforderte Entstaubungsanlage in seiner Lumpensortieranlage in Halle i.W. eingebaut und in Betrieb sei. Unangemeldete Betriebsrevisionen am 20. und 31.5.1910 ergaben, dass an 9 Sortiertischen, die mit Staubsieben in der Größe von 50 X 60 cm ausgerüstet waren, je zwei Arbeiter und an den übrigen 9 Tischen je ein Arbeiter beschäftigt wurden. Der Gewerbeinspektor forderte, dass nur ein Arbeiter an jedem Sortiertisch beschäftigt und an Sortiertischen ohne mechanische Staubabsaugung überhaupt nicht gearbeitet werden dürfe. Ein Katasterblatt von ca. 1908 gibt über die betrieblichen Verhältnisse wie Arbeitszeiten, Unfallverhütung, Gesundheitsschutz, sanitäre und Wohlfahrtseinrichtungen Aufschluss. Der Inhaber der Firma Ph. Stern, Robert Stern, leitete ihre Außengeschäfte von seinem Kontor in Bielefeld aus. Vor Ort in Halle i.W. war der Betriebsleiter Max Weißenbruch für die Abwicklung der Aufträge innerhalb der Lumpenhandel- und Sortieranlage verantwortlich. Die Arbeitszeit betrug 12 Stunden mit insgesamt zwei Stunden Pausen. Einen Arbeiterausschuss gab es 1908 noch nicht. Da nach dem Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916 die Arbeitgeber gezwungen wurden, Arbeiterausschüsse in den Fabriken einzurichten und mit den Gewerkschaftsfunktionären der Kriegsausschüsse zu verhandeln, verwundert es nicht, dass sich ein Arbeiterausschuss erst im Mai 1917 mit einem Prokuristen als Vorsitzenden, drei Arbeitern und zwei Arbeiterinnen als Ausschussmitgliedern 57 StADt, D 3 Bielefeld Nr. 791
1380 136
1381 sowie vier Ersatzmännern und sechs Ersatzfrauen aus der Belegschaft der Firma Ph. Stern bildete. Dem Betriebsrätegesetz entsprechend wurden im Mai 1920 drei Arbeiter und zwei Arbeiterinnen und ein Angestellter zu Betriebsräten gewählt. Als die Firma Ph. Stern am 12.9.1922 beim Gewerbeaufsichtsamt in Bielefeld um die Erlaubnis nachsuchte, 25 Arbeiter mit täglich zwei Stunden Überstunden belasten zu dürfen, um „eine größere Partie Lumpen" für den Export per Dampfer, der am 26.9.1922 von Bremerhaven abging, fertigzustellen, unterschrieb Franz Jerrentrup für den Betriebsrat den Genehmigungsantrag mit den Worten: „Wir sind einverstanden, daß die vorstehenden Überstunden geleistet werden."58 Die Unterschrift des Betriebsratsangehörigen drückte das Einverständnis der Belegschaft aus, diese Überstundenarbeit zu leisten. Nach Erledigung des Exportauftrages war für die ganze Belegschaft eine achttägige Ferienzeit vorgesehen.
1382 1908 waren im Betrieb der Lumpensortieranstalt drei Elektromotoren zu 7, 2½ und 1½ HP (PS) installiert. Das Gebäude an der Langestraße 20 in Halle i.W. wurde als „recht feuergefährlich" eingestuft. Zwei Treppen waren vorhanden. Zum Schutz der Gesundheit diente die mechanische Staubabsaugung von den Sortiertischen und aus dem Vorpackraum. Allerdings wurde von der Gewerbeinspektion nach einer Betriebsrevision am 30.1.1912 beanstandet, dass der Verbandskasten unvollständig ausgestattet war und insbesondere antiseptisches Verbandszeug und für Unfälle erforderliche Arzneimittel fehlten.
1383 Es gab elektrisches Licht und Ofenheizung. Wasch- und Speiseräume waren für Männer und Frauen getrennt angelegt. Alle Arbeiter waren bei der Ortskrankenkasse versichert. Einmal jährlich wurde auf Kosten der Firma ein Betriebsausflug gemacht. Der Gesundheitszustand der Arbeiter war angeblich gut, manche Arbeiterinnen waren schon seit 25 Jahren im Betrieb beschäftigt. Das bedeutete, dass die Lumpensortieranlage der Firma Ph. Stern schon seit ca. 1883 in Halle i.W. in Betrieb war.
1384 Am 20.6.1919 legte die Firma Ph. Stern dem Gewerbeaufsichtsamt in Bielefeld einen Entwurf und Lageplan zum geplanten Neubau einer Rohstoffverwertungsanlage an der Mönchstraße in Halle i.W. mit eigenem Bahnanschluss vor. In dem Neubau sollten die Rohstoffe sortiert und für den Versand aufbereitet werden. Der Neubau sollte 1.) aus Lagerräumen im Keller und Erdgeschoß mit einer Gesamtfläche von 1.180 qm, 2.) einem Pressraum mit 3-4 Pressen „zum Vorsortieren der Ware", 3.) aus einem zweigeschossigen Fächerraum für die Sortenlagerung, und 4.) aus einem großen Sortierraum für 74 Arbeitsplätze und 2 Vorsortierer mit einer Bodenfläche von 600 qm bestehen. Der Bau sollte von Max Wrba, Architekt und Direktor der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Bielefeld, ausgeführt werden.59 Der Umzug des Betriebes von der
1385 58 Ebd. Zur obligatorischen Einrichtung von Arbeiterausschüssen nach dem Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916 siehe Feldman, Gerald: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise. Studien zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1914-1932. Göttingen 1984, S. 29-31
1386 59 Vgl. STADt, D 3 Bielefeld Nr. 791
1387 137
1388 Langestraße zur Mönchstraße soll 1923 erfolgt sein 60 , doch konnte der Neubau bis September 1924 aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht beendet werden. Erneut kritisierte die Firma Ph. Stern den von dem Gewerbeaufsichtsamt geforderten Einbau von Staubaufsaugungsanlagen. Die Arbeiter verstopften teilweise die Röhren, weil sie von dem ständigen Luftzug kalte Hände bekämen.61
1389 Die Arbeitsordnung, die zwischen der Firma Ph. Stern in Halle i.W. und dem Betriebsrat vereinbart und am 15.2.1921 unterschrieben wurde, regelte 1.) die Annahme von Arbeitssuchenden (§§ 1-3), 2.) die Lohnzahlung und Lohnberechnung (§§ 4-10), 3.) Verhalten bei der Arbeit (§§ 11-13) einschließlich der Arbeitszeit, 4.) Versäumung der Arbeit (§§ 14-15); 5.) Unfälle (§§ 17-18), 6.) Kontrolleinrichtung (§ 19), 7.) Beendigung des Arbeitsverhältnisses (§§ 20-23) und fügte noch einen Strafgeldkatalog für zu spät zur Arbeit kommende Arbeiter („Blaumacher“) an. Die Strafgelder sollten zur Unterstützung bedürftiger Arbeiter verwendet werden.
1390 Junge Mütter, die als Arbeiterinnen bei der Firma Ph. Stern Beschäftigung suchten, durften nur eingestellt werden, wenn sie einen Nachweis erbrachten, dass sie wenigstens sechs Wochen nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt waren (§ 3). Im Unterschied zu den in der Zigarrenindustrie oder Wäsche- und Bekleidungsindustrie beschäftigten Hausarbeitern, die im Stücklohn standen, wurde der bei der Firma Ph. Stern beschäftigte Fabrikarbeiter nach dem „mit ihm vereinbarten oder tariflich festgesetzten Zeit- und Akkordlohn" entlohnt (§ 4). Der Lohn wurde vierzehntäglich, jeweils montags, in bar ausgezahlt (§§ 6-8). Die Arbeitszeit betrug von Montag bis Freitag, vormittags 7-12 Uhr und nachmittags 13.30-17.30 Uhr, also 9 Stunden, und am Sonnabend von 7- 13.00 Uhr. Die Wochenarbeitszeit betrug also 51 Stunden.
1391 3.6 Zusammenfassung
1392 Bis zur Reichsgründung übten die meisten jüdischen Bürger in den Gemeinden des Untersuchungsgebietes Handelsberufe oder auch einige Handswerksberufe aus. Einige Frauen erzielten Erwerbseinkünfte, indem sie strickten, nähten, Kleinhandel betrieben oder als Firmengesellschafterinnen Verantwortung übernahmen. Als Kaufleute erfüllten die Juden Funktionen des Einzel- und Großhandels, indem sie insbesondere Tuche (Ellenwaren, Schnittwaren) auf der Leipziger Herbstmesse oder Leinen auf den regionalen Leggen einkauften und an Endverbraucher oder Zwischenhändler wieder verkauften. Die jüdischen Kaufleute verkauften allerdings nicht nur feinere und grobere Manufakturwaren aus Wolle, Baumwolle, Leinen, Drell oder Mischgeweben aus ihren Ladengeschäften, sondern auch Haushalts-, Kolonial-, Papier-, Eisenwaren, Geschirr etc.
1393 Seit Beginn der 1840er Jahre beantragten mehrere jüdische Kaufleute Konzessionen, um als Kaufleute mit kaufmännischen Rechten im und außerhalb des Deutschen Zollvereins Waren 60 Vgl. StdtA Halle, Vortrag von Dr. Uwe Heckert: „175 Jahre Juden in Halle i.W.“ vom 28.2.1996. Typoskript, S. 4 61 Vgl. StADt, D 3 Bielefeld Nr. 791
1394 138
1395 aufkaufen und versenden zu dürfen. Dieses Verhalten bedeutete, dass sie sich darum bemühten, ihren Einzelhandel mit Zustimmung der Behörden zu einem Großhandel auszuweiten. Um die Nachfrage der kleinstädtischen und ländlichen Bevölkerung zu befriedigen, offerierten besonders die Gemischtwarenhandlungen Philipp Coblenzer in Wehdem und Eduard Bergfeld in Versmold ihren Kunden spätestens am Ende des Jahrhunderts ein großes Sortiment unterschiedlichster Waren.
1396 Als ambulante Händler und Hausierer mit Wandergewerbescheinen erfüllten die Juden Funktionen des Zwischenhandels, indem sie die Bauern und Heuerlinge der Region aufsuchten und ihnen Vieh, Häute, Felle, Altkleider, Lumpen, Altmetall, Knochen oder auch Heede abkauften, um diese Produkte an einzelne Handwerker, Fabrikanten, Klein- oder Großhändler wie z.B. an Gerber, Papier- und Leimmühlen, Schrotthändler, Packtuchweber und Metzger wieder zu verkaufen. Andererseits versorgten diese ambulanten Händler die Landbevölkerung, die keine Zeit hatte, sich auf den Weg zum nächsten Ladengeschäft zu machen, mit so genannten Landprodukten wie Vieh, Saatgetreide, Lein-, Rüben- und Kleesamen und Dünger, aber auch mit Halbfertigwaren wie Garn und Leinen, Fertigwaren wie Manufaktur-, Haushalts- und Kurzwaren oder auch mit Kolonialwaren. Die jüdischen Pferde- und Viehhändler kauften ihre Ware teils auf den traditionellen Kram- und Viehmärkten, die in Werther, Halle i.W., Borgholzhausen, Versmold, Lübbecke, Pr. Oldendorf, Blasheim, Oppenwehe und Rahden im Frühjahr oder im Herbst abgehalten wurden 1 , teils indem sie die Tiere direkt beim Züchter erwarben. Jüdische Viehhändler in Rahden, Levern, Versmold und Borgholzhausen handelten nicht nur mit Rindern und Schafen, sondern schlachteten sie zum Teil selbst in eigenen Schlachthäusern und verkauften das Fleisch als Einzel- oder Großhändler. Mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz durch den Bau der Köln-Mindener Eisenbahn im Jahre 1847 und dem Ausbau der Strecke Bünde-Bassum in den Jahren 1899-1901 verkauften jüdische Vieh-händler, die größere Stückzahlen verhandelten, ihr Vieh entweder selbst an Großmetzger oder ließen es per Bahn nach den Viehmärkten in Dortmund und Essen transportieren und dort mittels Kommissionäre vermarkten. Dieser Vermarktungsmethode bedienten sich Moses Hurwitz aus Levern, die Gebrüder Haas aus Rahden und Feodor Hurwitz aus Lübbecke.
1397 1 Im Kreis Halle i.W. wurden in Werther in den 1830er Jahren zwei Märkte pro Jahr abgehalten (vgl. StADt, M 1 I P Nr. 373). Vor dem Ersten Weltkrieg fand der Kram- und Viehmarkt in Werther im Februar und im März statt (vgl. Familienfreund Nr. 7 vom 15.2.1913; Nr. 11 vom 15.3.1914). In Halle i.W. wurden die Kram- und Viehmärkte in den 1830er und 1840er Jahren im Februar, April und im September abgehalten (vgl. StADt, M 2 Halle Nr. 137) In Borgholzhausen wurden traditionell drei Kram- und Viehmärkte abgehalten: am 1. Dienstag im Mai, am 16. Oktober und zu Nikolaus am 6. Dezember auf dem Kuhhof (vgl. Klumpe-Scheel, Bernd: Borgholzhausen an der Schwelle zum 18. Jahrhundert, in: Borgholzhausen historisch, S. 42). In Versmold wurde der Sankt-Petri- Markt am Tag des Kirchweihfestes, am 22. Februar, abgehalten (vgl. Vinke, S. 21). In Lübbecke wurden 1872 gleich fünf Märkte abgehalten: am 27.2., 28.5., 8.7., 30.9. und am Andreastag, dem 30. November (vgl. Hüffmann <1975>, S. 62). Der traditionelle Markt in Blasheim fand am Montag nach Egidius (1. September) statt. Nach den Erinnerungen von Pastor Hartmann aus Preußisch Oldendorf wurden dort zwei Märkte abgehalten: der Mittsommermarkt in der Spiegelstraße und ein zweitägiger Herbstmarkt am Eingang von Engershausen. In Rahden wurden seit 1883 Viehmärkte eingeführt, die den Viehhandel belebten (vgl. Kirchhoff, Chronik <1995>, S. 315). Auch in Oppenwehe fanden in den 1870er Jahren Viehmärkte statt. Im Oktober 1895 wurden im Kreis Lübbecke in folgenden Orten Kram- und Viehmärkte abgehalten: in Haldem (2.10.), in Levern (15.10.), in Rahden (17.10.), in Lübbecke (22.10.) und in Preußisch Oldendorf (30.10.) (vgl. Lübbecker Kreisblatt Nr. 79 vom 2.10.1895).
1398 139
1399 Vor Einrichtung kommunaler Kreditinstitute wie die der Kreissparkassen in Halle i.W. (gegr. 1856) und Lübbecke (gegr. 1857), der Städtischen Sparkasse Versmold (gegr. 1874), der Spar- und Darlehnskassen Halle i.W. (gegr. 1889) und Borgholzhausen (gegr. 1890) oder des genossenschaftlichen „Vorschußverein Werther" (gegr. 23.11.1877) konnten sich Landwirte auch an jüdische Kaufleute wenden, um Darlehen auf hypothekarischer Sicherheit zu erhalten. Bei den quellenmäßig erfassten Beispielen handelte es sich um Darlehen in Höhe von 30-200 rthl aus legierten Stiftungskapitalien, die zu einem Zinssatz von 5% p.a. und zu Laufzeiten von einigen Jahren bis über vierzig Jahre gewährt wurden. Die maximale Höhe des Zinssatzes, den jüdische Handels- oder Kaufleute für Darlehen gegen Hypotheken bis 1867 nehmen durften, wurde im preußischen Allgemeinen Landrecht mit 5% p.a. festgelegt. Die Familie Weinberg in Werther vergab aber nicht nur Darlehen an Landwirte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, sondern auch später nach der Industrialisierung an die Arbeiter der Bielefelder Firmen Delius und Wertheimer, die mit dem geliehenen Geld ihre kleinen Häuser in den Ortschaften Theesen, Gellershagen, Jöllenbeck und Schildesche erbauten und seit der Jahrhundertwende einmal pro Jahr mit der Kleinbahn nach Werther fuhren, um Zinsen zu zahlen und Kleidung zu kaufen.2 Mitglieder der Familie Weinberg in Werther erhielten im 19. Jahrhundert auch mehrmals den Zuschlag bei gerichtlichen Zwangsversteigerungen von Grundstücken und ländlichen Besitzungen, die sie später wieder verkauften. Auch in Rahden erwarb ein anderer Manufakturwarenhändler, Simon Rosenberg, einen Bauernhof in der Größe von 42½ Morgen (ca. 10,62 ha) um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In Lübbecke kaufte kein geringerer als Elias Marks das von Cornbergsche Gut laut Kontrakt vom 8.6.1842 für 44.000 Taler.3 Die Vorbesitzerin, Franziska von Cornberg, hatte das Hofgut am 9.1.1839 für 34.000 Taler ersteigert. In den 1850er Jahren waren die Tochter und der Schwiegersohn von Alexander Haindorf, Jacob und Sophie Loeb, Besitzer des Gutes, und im Jahre 1883 wurde das Wohngebäude und der Hofraum unter Vermittlung des Getreidehändlers Heinemann Spiegel, der mit dem katholischen Pfarrer Joseph Blöink befreundet war, für 30.000 Mark an die katholische Gemeinde in Lübbecke verkauft. Diese richtete in dem Gebäude zunächst eine Kommunikantenstelle ein, später ein Hospiz und die Weberei der St. Paulus Innung.4 Die zum Hofgut gehörenden Ländereien, Wiesen und Bergteile waren Loebsches Fideikommiss, also unveräußerlich, und hatten eine Größe von ca. 200 Morgen (ca. 50 ha). Das von Cornbergsche Gut stellte zweifellos den größten jüdischen Landbesitz im Untersuchungsgebiet dar.
1400 2 Briefliche Mitteilungen von Paul Lütgemeyer an Kurt-Wilhelm Weinberg. Der Gründungsprozess der Kreissparkasse in Lübbecke dauerte länger als 10 Jahre. Der Statutenentwurf wurde von den Ständevertretern des Kreises am 23.11.1855 angenommen. Zum Kuratorium der Kreissparkasse Lübbecke gehörten neben dem Freiherrn von der Recke (Obernfelde) und Rechtsanwalt Becker auch der Kaufmann N. Steinberg, auf deren Beschluss die Kreissparkasse am 8.12.1857 eröffnet wurde. Im Laufe der Zeit wurden Zweigstellen der Kreissparkasse eingerichtet, z.B. in Levern am 9.5.1885. Vgl. Degner, Wolfgang: Geschichte und Entwicklung des Sparkassenwesens, in: 1000 Jahre Levern. Beiträge zu seiner Geschichte. Minden 1969, S. 285-289.
1401 3 Vgl. v.d. Horst, Karl Adolf: Die Rittersitze der Grafschaft Ravensberg und des Fürstentums Minden. Neudruck der Ausgabe von 1894-98. Osnabrück 1979, S. 97-99
1402 4 Vgl. Beckmann (1993), S. 91-93; Hüffmann (1975), S. 61
1403 140
1404 Tabelle 52: Berufsstruktur der jüdischen im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W. nach der Berufszählung vom 5.6.1882 absolut und in [%]5
1405 Kreis Lübbecke Kreis Halle i.W.
1406 Juden allg. Bevölkerung Juden allg. Bevölkerung
1407 262 [0,56] 46.009 [100] 129 [0,46] 28.074 [100]
1408 Haupterwerbstätige 108 [41,2] 16.889 [36,7] 57 [44,2] 11.282 [40,2]
1409 ohne Haupterwerb 154 [58,8] 29.120 [63,3] 72 [55,8] 16.792 [59,8]
1410 Haupterwerbstätige
1411 nach Berufsklassen
1412 I. Landwirtschaft,
1413 Gärtnerei, Züchterei
1414 a) Selbständige --- 5.548 [32,8] --- 3.528 [31,3]
1415 b) Verwalter, Arbeiter 1 [0,9] 5.897 [34,9] --- 3.541 [31,4]
1416 IX. Textilindustrie
1417 a) Selbständige 1 [0,9] 125 [0,7] 2 [3,5] 98 [0,9]
1418 b) Verwalter, Arbeiter --- 37 [0,2] 1 [1,75] 325 [2,9]
1419 X. Papier- u. Lederindustrie
1420 a) Selbständige 1 [0,9] 25 [0,1] --- 17 [0,15]
1421 XII. Industrie der Nahrung
1422 u. Genuss-mittel
1423 a) Selbständige 13 [12,0] 201 [1,2] 4 [7,0] 142 [1,26]
1424 b) Verwalter, Arbeiter 10 [9,3] 1.012 [6,0] 4 [7,0] 240 [2,1]
1425 XIII. Bekleidungs- u.
1426 Reinigungsgewerbe
1427 a) Selbständige --- 544 [3,2] 3 [5,3] 357 [3,2]
1428 XVIII. 1. Waren- u.
1429 Produktenhandel
1430 a) Selbständige 36 [33,3] 151 [0,9] 25 [43,9] 139 [1,2]
1431 b) Verwalter, Arbeiter 28 [25,9] 109 [0,6] 12 [21,0] 90 [0,8]
1432 4. Sonstige
1433 Handelsgewerbe
1434 a) Selbständige 2 [1,85] 26 [0,15] 1 [1,75] 15 [0,1]
1435 XXI. Beherbergungs- u.
1436 Schankgewerbe
1437 a) Selbständige 1 [0,9] 35 [0,2] --- 35 [0,3]
1438 b) Verwalter, Arbeiter 1 [0,9] 12 [0,07] --- 6 [0,05]
1439 XXIII. 2. Verwaltung u.
1440 Rechtspflege
1441 b) Verwaltungspers. 1 [0,9] 94 [0,55] --- 38 [0,3]
1442 3. Religionspflege,
1443 Erziehung u. Unterricht
1444 a) Selbständige 5 [4,6] 122 [0,7] --- 88 [0,8]
1445 4. Gesundheits- u.
1446 Krankenpflege
1447 a) Selbständige 2 [1,85] 33 [0,2] --- 18 [0,2]
1448 5. Schriftstellerei,
1449 Musikausübung,
1450 Schaustellung
1451 1 [0,9] 14 [0,08] --- 9 [0,08]
1452 XXIV. ohne Beruf 5 [4,6] 247 [1,5] 1 [1,75] 169 [1,5]
1453 XXV. Dienstboten --- 1.510 [8,9] 4 [7,0] 1.036 [9,2]
1454 Was die Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der jüdischen Gemeinden betrifft, so lassen die Quellen Grund-, Haus- und Ladenbesitzer von Mietern und ambulanten Gewerbetreibenden unterscheiden, aber auch arme und Unterstützungsbedürftige erkennen. Zur letzten Gruppe, also den Unterstützungsbedürftigen, gehörten alte, behinderte oder auch junge Personen, Waisen und Halbwaisen, alleinerziehende und verwitwete Frauen, die mit Handarbeiten oder Kleinhandel Einkommen zu erzielen versuchten.
1455 Die Berufszählung vom 5.6.1882 zeigt, dass im Kreis Lübbecke 33,3% der Juden selbständig und 25,9% - zumeist als mithelfende Familienangehörige – der 108 jüdischen Haupterwerbstätigen im Waren- und Produktenhandel beschäftigt waren, im Kreis Halle i.W. 43,9% bzw. 21%. Im Vergleich hierzu waren im Kreis Lübbecke nur 0,9% der nichtjüdischen Haupterwerbstätigen als Selbständige und 0,6% als Verwalter und Arbeiter in dieser Berufsklasse vertreten, im Kreis Halle i.W. 1,2% und 0,8%. Herzigs Feststellung, dass die generelle Verharrung der Juden in Westfalen in den traditionellen Berufssparten des Korn-, Vieh, Textil- und Manufakturwarenhandels auch 5 Vgl. Preußische Statistik, Bd. LXXVI (3. Teil). Die Ergebnisse der Berufszählung vom 5. Juni 1882 im preußischen Staate. Berlin 1885
1456 141
1457 während des Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesses zu beobachten ist 6 , gilt auch für die erwerbstätigen Juden in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W bis in die Hochindustrialisierungsphase. Demgegenüber arbeiteten im Jahre 1882 über 67% bzw. 62% der nichtjüdischen Haupterwerbstätigen als Selbständige und Unselbständige in der Landwirtschaft im Kreise Lübbecke und Halle i.W..
1458 An zweiter Stelle waren die haupterwerbstätigen Juden der Kreise Lübbecke und Halle i.W. in der Berufsklasse „Industrie der Nahrung und Genußmittel" zu 12% [7%] selbständig und 9,3% [7%] unselbständig beschäftigt. Hierunter sind die jüdischen Schlachter und Fleischverarbeiter, aber auch Zigarrenfabrikanten und ihre mithelfenden Familienmitglieder zu zählen. Der prozentuale Anteil der nichtjüdischen Haupterwerbstätigen in dieser Berufsklasse war kleiner (1,2%, 6% für Lübbecke; 1,3%, 2,1% für Halle i.W.), absolut gesehen natürlich größer. Unter den 1.012 Arbeitern im Kreis Lübbecke und 240 im Kreis Halle i.W. sind viele Tabakarbeiter als Fabrik- und Hausarbeiter zu vermuten. Im „Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe" arbeiteten im Kreis Lübbecke im Jahre 1882 544 [3,2%] und im Kreis Halle i.W. 357 [3,2%] Personen selbständig, d.h. in erster Linie als Näherinnen (Hausarbeiterinnen) für die expandierende Wäsche- und Bekleidungsindustrie.
1459 Erst in der Hochindustrialisierungsphase (1870-90) gründeten jüdische Familien im Untersuchungsgebiet Unternehmungen zuerst in der Zigarren-, dann in der Rohstoffverwertungs-, Konfektions-, Metall- und Fleischverarbeitungsbranche. Zweifellos spielte die „Verknüpfung von Initiative, Aktivität und Kredit"7 eine wichtige Rolle für die industrielle Entfaltung dieser Unternehmungen und den Aufstieg der beteiligten Familien in den „wohlsituierten Mittelstand" oder sogar ins „Großbürgertum". Die Gründung von Filialfabriken in der Zigarrenbranche (Weinberg), Niederlassungen im In- und Ausland in der Konfektionsbranche (Ruben), Gründung eines Zweigbetriebs in der Rohstoff-verwertungsbranche (Stern) und Einrichtung von Einkaufsbüros in Hafenstädten des In- und Auslands in der Lebensmittel- und Metallimportbranche (Löwenstein) dokumentierte die Expansionsfähigkeit der beteiligten Unternehmen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Ohne die Mitarbeit oft lohndrückender Frauen und Kinder in der ersten Entfaltungsphase, besonders in der Zigarrenindustrie, und ohne die in dem Hausgewerbe beschäftigten, Hunderte von Zigarrenarbeitern und oft politisch ungenügend organisierten Näherinnen wäre die Expansion der Betriebe in den genannten Branchen kaum möglich gewesen.
1460 6 Vgl. Herzig, Arno: Die westfälischen Juden im Modernisierungsprozeß, in: Volkov, Shulamit (Hg.): Deutsche Juden und die Moderne. München 1994, S. 112
1461 7 Toury, Jacob: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation. Düsseldorf 1977, S. 117
1462 142
1463 Kapitel 4
1464 Die Entwicklung jüdischer Identität in der ostwestfälischen Kleinstadt: Zeichen der Tradition und der Reform
1465 4.1 Die jüdischen Kleinstadtgemeinden und ihre Verfassungen im Kreis Lübbecke
1466 Nach dem Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23.7.1847 wurden die einzelnen jüdischen Gemeinden von der Bezirksregierung aufgefordert, über die Größe der zu bildenden Synagogenbezirke zu beraten (§§ 35-36).1 Ein Hinweis darauf, dass viele der zuvor selbständigen kleinen Synagogengemeinden in die neu konstituierten Synagogenbezirke integriert wurden, lieferte die Tatsache, dass die Zahl der Synagogenbezirke, die sich in Westfalen nach Erlass des Gesetzes schließlich bis zum Jahre 1858 bildeten (93), kleiner war als die Zahl der Synagogen oder Betstuben (hebr. Battim ha-Knesset; Battim ha-Tefilla), die im Jahre 1834 in Westfalen bestanden hatten (163).2 Die Vorteile des Gesetzes vom 23.7.1847 bestanden darin, dass Gemeindespaltungen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Kultus möglicherweise vermieden werden konnten und dass die Synagogengemeinden vom Staat „in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse als juristische Personen" (§ 37) eingestuft wurden. Das bedeutete z.B., dass die einzelnen Synagogengemeinden Gemeindesteuern zur Finanzierung des Schulwesens oder zum Ankauf von Gebäuden und Grundstücken auf die einzelnen Mitglieder umlegen durften.3 Am 9.2.1848 übersandte das Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Berlin der Bezirksregierung in Minden einen allgemein gehaltenen Statutenentwurf, der von Dr. jur. Julius Rubo konzipiert worden war, um den Beamten ein „Schema" zur Hand zu geben, wonach sie die Ordnung der eingereichten Statuten der einzelnen Synagogengemeinden überprüfen konnten.4
1467 Es dauerte tatsächlich noch neun bis zehn Jahre, bis in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W. nach Beratungen der Vorstände und Mitglieder der einzelnen Synagogengemeinden insgesamt sieben Statuten aufgesetzt und schließlich vom Oberpräsidium genehmigt wurden.5 Nach dem Gesetz vom 23.7.1847 wurden die Synagogengemeinden aufgefordert, Vorsteher und Repräsentanten aus dem Kreis der wahlberechtigten Mitglieder, die männlich, volljährig, unbescholten und wirtschaftlich selbständig sein mussten, für die Zeit von sechs Jahren zu wählen. (§§ 38-41) Nach drei Jahren sollte die ältere Hälfte der Vorstandsmitglieder und Repräsentanten ausscheiden (§ 1 Vgl. Freund, Ismar: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen. Zweiter Band. Berlin 1912, S. 510ff 2 Vgl. Brilling, Bernhard: Das Judentum in der Provinz Westfalen 1815-1945, in : Hegel, E.; Stupperich, R.; Brilling, B.: Kirchen und Religionsgemeinschaften in Westfalen. Münster 1978, S. 115 3 Vgl. Lazarus, Lothar: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden. Diss. Göttingen 1933, S. 12f; 42f 4 Vgl. StADt, M 2 Lübbecke Nr. 2196. „Dr. jur. Julius Rubo (1794-1866) promovierte als vermutlich erster jüdischer Jurist Preußens 1817 in Halle [Saale], durfte aber nicht die erstrebte Hochschullaufbahn einschlagen und wurde 1824 Sekretär der Berliner jüdischen Gemeinde.“ Siehe Richarz, Monika (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871. New York 1976, Bd. 1, S. 234, Anmerkung 15 5 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 255
1468 143
1469 42). Damit waren die jüdischen Frauen von der Verwaltung der jüdischen Gemeinden auf ähnliche Weise ausgeschlossen wie die nichtjüdischen Frauen von der Verwaltung der Kleinstädte, in denen sie zwar lebten und ihre Familien versorgten, aber politisch als unmündig betrachtet wurden. Die Aufgaben des Vorstands wurden vom Gesetz darin gesehen, die Beschlüsse der Repräsentanten auszuführen und die Gemeinde in Rechtsgeschäften zu vertreten (§ 44). Zu den wichtigsten Aufgaben der Repräsentanten gehörten Beschlussfassungen hinsichtlich 1. der „Festsetzung des Etats"; 2. der „Verpachtung, Verwaltung und Verpfändung von Grundstücken"; 3. der „Anstellung von Prozessen und Abschließung von Vergleichen über Gerechtsame der Synagogen-Gemeinde oder über die Substanz des Vermögens derselben"; 4. der „Verträge, welche außer den Grenzen des Etats liegen, und außerordentliche den Etat übersteigende Geldbewilligungen." (§ 47)
1470 Das Statut für die Synagogengemeinde Lübbecke, das am 10.3.1858 vom Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, von Duesberg, genehmigt wurde, setzte fest, dass ihr Synagogenbezirk die Stadt Lübbecke und die Ämter Gehlenbeck und Schnathorst umfassen sollte (§ 1).6 Der Vorstand setzte sich aus drei Vorstehern und zwei Stellvertretern zusammen (§ 14). Die ersten gewählten und von der Bezirksregierung bestätigten Vorsteher waren die Kaufleute Enoch Rosenberg, Moses Bendix Weinberg und Heinemann Meyer. Die Repräsentantenversammlung sollte sich statutarisch aus neun Mitgliedern und zwei Stellvertretern zusammensetzen (§ 6). Aus ihrer Mitte wurde ein Vorsteher und ein Protokollführer gewählt (§ 9). Das erste Statut für die Synagogengemeinde Lübbecke vom 10.3.1858 wurde von nur fünf Repräsentanten, den Kaufleuten Nathan Steinberg, Joseph und Levy Mergentheim, Daniel Weinberg und Moses Nathan Rosenberg unterschrieben. Zwischen 1919 und 1931 blieb die Zahl der stimmfähigen Mitglieder der Synagogengemeinde Lübbecke konstant bei 13 Personen. Im Jahre 1930 wurden 80% des Gemeindehaushalts von nur 5 Gemeindemitgliedern aufgebracht. Um die finanziellen und personellen Probleme der Gemeinde Lübbecke zu lösen, beantragte der Vorstand am 17.2.1932 bei der Bezirksregierung, seinen Synagogenbezirk „auf alle im Kreise wohnenden Juden auszudehnen". Diesen Plan lehnten die jüdischen Gemeinden von Preußisch Oldendorf, Levern und Rahden jedoch ab.7 Zur Begründung dieses Antrages, den der Lübbecker Bürgermeister Gerhard Reineke unterstützte, verwies der Vorstand der jüdischen Gemeinde Lübbecke darauf, dass die Synagogengemeinde zu klein sei, um die statutarisch vorgesehenen 3 Vorstandsmitglieder und 9 Repräsentanten und deren Stellvertreter zu wählen und dass sie den einzigen Kultusbeamten im Kreise, Max Lazarus, angestellt habe, der alle kleinen Gemeinden im Kreise als Geistlicher und Lehrer betreuen könne. Aufgrund der personellen und finanziellen Sachzwänge wurde während der NS-Zeit eine neue Satzung (genehmigt am 27.10.1935) eingeführt, die an die Stelle der Repräsentantenversammlung 6 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 13.1
1471 7 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 820; StdtA Lübbecke, C I 13.2
1472 144
1473 die Gemeindeversammlung setzte, in der alle volljährigen Gemeindemitglieder, Männer und Frauen, Beschlüsse fassen und tragen sollten.8 Doch diese neue Satzung konnte sich aufgrund der totalitären und antisemitischen politischen Rahmenbedingungen nicht mehr bewähren.
1474 Der Gemeindehaushalt hatte im Jahre 1855 ein Volumen von 370 rthl, das sich bis 1874 kaum veränderte (389 rthl), bis 1895/96 auf 2.098 Mark anstieg und für die Jahre 1929/30 5.025 RM betrug.9 Die Finanzierung des Haushaltes erfolgte über Zuschläge zur Klassen- bzw. Einkommensteuer und Grundsteuer. Zu den wichtigsten Ausgabenzwecken gehörten das Lehrergehalt, die Pensionsgelder des Lehrers, die Umbau- bzw. Neubaukosten der Synagoge (1854/55; 1896), Heizung, Beleuchtung, Ausmalung und Instandhaltung der Synagoge, Instandhaltung des neuen und des alten Friedhofs, Verbandsbeiträge für den Deutsch-Israelitischen Gemeindebund (gegr. 1869), den Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden (gegr. 1922), den Provinzialarmenverband und für die lokale Armenpflege. Da die jüdische Gemeinde Lübbecke überalterte - 1932 fielen fast 50% der Gemeindemitglieder in die Altersgruppe 51-70 Jahre - und sich die antisemitische Ausgrenzung täglich auf vielfache Weise bemerkbar machte, beschloss die Gemeindeversammlung am 25.6.1936 den zusätzlichen Paragraphen 36 in ihre Gemeindesatzung aufzunehmen. Dieser lautete wie folgt:
1475 „Wenn die Synagogengemeinde zu Lübbecke aufgelöst wird oder keine Juden mehr in Lübbecke ansässig sind, fällt das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Synagogengemeinde dem Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden in Berlin zu, sofern das Vermögen nicht im Wege der Eingemeindung einer anderen Synagogengemeinde übertragen wird."10
1476 Am 14.10.1847 teilte der Vorstand der jüdischen Gemeinde von Preußisch Oldendorf vermutlich dem Bürgermeister der Stadt vier Gründe mit, warum er nach Absprache mit den Gemeindemitgliedern die Absicht habe, sich als Synagogengemeinde mit dem Synagogenbezirk Preußisch Oldendorf zu konstituieren.11 Erstens besitze die jüdische Gemeinde von Preußisch Oldendorf im Unterschied zu allen anderen jüdischen Gemeinden des Kreises Lübbecke seit über fünfzig Jahren eine königliche Konzession. Tatsächlich hatte die jüdische Gemeinde von Preußisch Oldendorf am 27.4.1797 mit dem ehemaligen Kämmerer Schwarzmeyer einen Vertrag über den Kauf eines Kottens (Miethaus für einen Heuerling) mit einem kleinen Garten und der Gerechtigkeit am Brunnen und ein Stück Wiese für eine Kuh über 400 Taler Courant geschlossen, um in diesem Kotten eine Synagoge einrichten zu können.12 Ein Vertrag mit dem ehemaligen Kämmerer Schwarzmeyer über den Kauf eines Nebengebäudes, das in eine jüdische Schule umgebaut werden sollte, ebenfalls zu einem Kaufpreis von 400 Talern, wurde mittels einer königlichen Konzession vom 18.7.1797 unter Berücksichtigung bestimmter Bedingungen genehmigt. Zweitens wies der Vorstand darauf hin, dass Oldendorf eine Mittelpunktsfunktion für den Ort Holzhausen, der 3/4 Stunde Fußweg entfernt sei und in dem zwei jüdische Familien
1477 8 Vgl. StdtA Lübbecke, C 13.2
1478 9 Vgl. StdtA Lübbecke, Chronik der Stadt Lübbecke, 1855, I,7 und B 63.1
1479 10 StADt, M 2 Lübbecke Nr. 2201
1480 11 Vgl. Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Archiv (CJA) 1, 75 A Pr 3 Nr. 1 12 Vgl. CAHJP, S/319/2
1481 145
1482 lebten, und für den Ort Levern, der nur eine Meile weit entfernt liege, erfülle. Drittens und viertens unterhalte die jüdische Gemeinde von Oldendorf seit langen Jahren ein Schulhaus mit Wohnung und eine Synagoge als Eigentum. Der Vorstand gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich die jüdische Gemeinde von Lübbecke der Synagogengemeinde von Oldendorf anschließen würde, weil der Fußweg von Oldendorf nach Lübbecke 2½ Stunden, nach Levern 3 Stunden und nach Holzhausen 2 Stunden betrage. Weder in Levern noch in Holzhausen gebe es Synagogen, Schulhäuser oder Friedhöfe. Außerdem habe Lübbecke weder eine Synagoge, noch ein Schulgebäude als Eigentum aufzuweisen und das mit der angemieteten Synagoge verbundene Schullokal sei so dürftig, dass es „als solches nicht einmal den Namen verdien[e] und nur als Nothbehelf vorhanden" sei.13 Darüber hinaus habe Lübbecke auch keine eigene Lehrerwohnung zu bieten. Obwohl sich der Wunsch des Vorstandes der jüdischen Gemeinde von Preußisch Oldendorf nach einem Anschluss der jüdischen Gemeinde Lübbecke nicht erfüllte, spielte Oldendorf tatsächlich eine zentrale Rolle, da laut Statut für die Synagogengemeinde zu Oldendorf (genehmigt am 14.3.1857) die Amtsbezirke Holzhausen, Blasheim und Börninghausen und die Ortschaft Rödinghausen im Amtsbezirk Bünde in den Synagogenbezirk einbezogen wurden (§ 1). Gemeindemitglieder, die außerhalb des Hauptortes wohnten, sollten nur „im Notfall“ gewählt werden (§ 5), weil es für sie zu beschwerlich war, an regelmäßigen Sitzungen teilzunehmen. Bei der Beratungssitzung über den Entwurf zum Statut am 23.3.1856 nahmen insgesamt 15 Personen teil, darunter Goldschmidt aus Rödinghausen und Emanuel Schutz aus Holzhausen. In Rödinghausen (Heddinghausen) lebte gegen Ende des 19. Jahrhunderts der jüdische Schlachter Siegmund Schönthal mit seiner Frau Laura, geb. Ehrlich, der um Aufnahme in die Synagogengemeinde Preußisch Oldendorf bat.14
1483 Der statutarisch zu wählende Vorstand sollte aus drei Mitgliedern und einem Stellvertreter bestehen (§ 18). Im Juli 1857 unterschrieben Jacob Löwenstein, Jacob Cahen, Levy Neustädter und Emanuel Schutz (aus Holzhausen) als Vorsteher einen Mietvertrag mit dem vermutlich nichtjüdischen Heuerling Johann Wilhelm Knippenberg aus Engershausen, an den die Wohnung im jüdischen Schulhause vermietet wurde.15 Die Repräsentantenversammlung sollte aus neun Mitgliedern und drei Stellvertretern gebildet werden (§ 7). Unter dem Statut vom 14.3.1857 finden sich die Unterschriften der Vorsteher und Repräsentanten L.A. Löwenstein, M. Rintels, H. Cahen, W. Löwenstein, Wilhelm Cahen, E. Schutz, Jacob Cahen, J. Löwenstein, L. Neustädter, S. Ehrlich und drei Ringe als Handzeichen des Buchbinders Heinemann Heidelberg, dessen Unterschrift Wilhelm Cahen beglaubigte.
1484 Die acht erhaltenen Protokolle der Repräsentantenversammlung aus den Jahren 1857-1860 geben einen Einblick in die Tagesordnung, Probleme und vielfältige Beschlussfassung dieses 13 Vgl. CJA 1, 75 A, Pr 3 Nr. 1
1485 14 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 300
1486 15 Vgl. CAHJP, S/319/2
1487 146
1488 Gremiums.16
1489 Am 15.12.1857 wurden beispielsweise sieben Beschlüsse gefasst. Erstens wurde mit Stimmenmehrheit der anwesenden neun Repräsentanten entschieden, dass die noch nicht oder schon gezahlten Beiträge für die Synagogenplätze („Stettegelder“) niedergeschlagen bzw. zurückerstattet werden sollten. Zweitens wurde beschlossen, das Statut auf Kosten der jüdischen Gemeinde abschreiben zu lassen und dem Vorsteher der Repräsentanten, Wolf Löwenstein, zukommen zu lassen. Drittens wurde mit sechs gegen zwei Stimmen entschieden, den Synagogenplatz des Simon Ehrlich als sein Eigentum zu verleihen, da sein Vater immer seine Gemeindesteuer und auch ein Eintrittsgeld in Höhe von 11 rthl gezahlt und damit das Recht erworben hatte, einen Synagogenplatz als Eigentum innezuhaben. Viertens wurde mit fünf gegen zwei Stimmen der Beschluss gefasst, zuviel gezahlte Gemeindesteuern an B. Cahn, Dr. med. Weil und S. Ehrlich zurückzuerstatten. Fünftens wurde entschieden, durch den Vorstand beim Baumeister H.?unke? einen Kostenvoranschlag für eine Bauzeichnung der im Jahre 1855 umgebauten Lübbecker Synagoge einholen zu lassen, um sie für einen geplanten Um- oder Neubau der Synagoge von Preußisch Oldendorf zu nutzen. Sechstens beschlossen die Repräsentanten, einen Antrag bei der Stadt Oldendorf zu stellen, das Honorar des Arztes Dr. med. Lücker für das bedürftige Gemeindemitglied Bela Silberschmidt zu begleichen. Siebtens wurde entschieden, den Kostenvoranschlag des Tischlers A. für eine Pforte vor dem jüdischen Friedhof als zu hoch zu verwerfen. Stattdessen wurde beschlossen, den Auftrag zum Bau einer Pforte, die nach dem Modell der am Oerlinghauser Friedhof vorhandenen gestaltet werden sollte, an den „Niederstfordernden" zu vergeben.
1490 Da die jüdische Gemeinde seit September 1883 keinen Lehrer mehr fest angestellt hatte, der alle Fächer des Elementarunterrichts den Kindern anbieten konnte, sondern sich mit dem Wanderlehrer Adolf Neuhof aus Lübbecke, der einmal in der Woche einen zweistündigen Religionsunterricht erteilte, begnügte, und seit 1898/99 Max Lazarus aus Lübbecke als Religionswanderlehrer verpflichtete, verwundert es nicht, dass der Etat der Gemeinde Preußisch Oldendorf im Vergleich zu dem der Gemeinde von Lübbecke entschieden kleiner ausfiel. Im Jahre 1905 zahlten 10 Zensiten 334 Mark, im Jahre 1909 brachten 9 Zensiten 350 Mark auf und im Jahre 1913 ebenfalls 9 Zensiten 400 Mark.17
1491 Nach dem Statut für die Synagogengemeinde zu Rahden umfasste der Synagogenbezirk den Amtsbezirk Rahden (§ 1).18 Obwohl nach § 4 der Vorstand aus vier Mitgliedern und zwei Stellvertretern zusammengesetzt werden sollte, finden sich unter dem Statut vom 31.10.1857 die Namen von drei Gemeindemitgliedern als Vorsteher, nämlich Goldschmidt, S. Goldstein und J. Ginsberg und die Namen der beiden Stellvertreter Simon Goldstein und N. Hammerschlag. Neben 16 Vgl. CAHJP, S/319/1
1492 17 Vgl. Handbücher der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistische Jahrbücher 1905, 1909, 1913) 17., 19., 21. Jg. Hg. v. Bureau des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Berlin 18 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 303
1493 147
1494 den im Gesetz vom 23.7.1847 aufgeführten Aufgaben des Vorstands wurden von dem Vorstand der Gemeinde Rahden die Ausübung noch weiterer Funktionen erwartet (§ 12). Er sollte Verträge im Namen der Gemeinde abschließen, Prozesse im Namen der Gemeinde führen, die Schule beaufsichtigen, die Synagogenordnung aufrechthalten, die Rendantur verwalten und über die Mobilien und Immobilien der Gemeinde Buch führen. Da die Zahl der zum Repräsentantenamt qualifizierten Gemeindemitglieder zur Zeit der Abfassung des Statuts zu gering war, um neun Repräsentanten und zwei Stellvertreter zu wählen, wurde nach § 20 bestimmt, dass die Repräsentation aus sämtlichen stimmberechtigten Mitgliedern zusammengesetzt werden sollte. Unter dem Statut vom 31.10.1857 befinden sich ausdrücklich die Unterschriften der gewählten und von der Bezirksregierung bestätigten Repräsentanten: E. Goldberg, J. Goldstein, Samuel Frank, Feibes Goldberg, Leffmann Frank, das Handzeichen (XXX) des Th. Haas und das Handzeichen (XXX) des M. David, die von Goldstein beglaubigt wurden, sowie die Unterschriften von I. Frank, A. David, G. Haas, Rosenbaum, L. Goldschmidt und L. Hammerschlag.
1495 Der Etat für die Jahre 1856/57 der jüdischen Gemeinde von Rahden, den die Vorsteher Goldschmidt, Rosenberg und Goldstein durch den Amtmann von Czernicki der landrätlichen Behörde zu Ellerburg vorlegte, umfasste 291 Taler, wovon 188 Taler auf das Lehrergehalt, 48 Taler auf Sollzinsen für geliehenes Kapital, 30 Taler für Abschlagszahlungen auf Schulden, je ein Taler als Domainenabgabe für den Beerdigungsplatz, Esrog (Zitrusfrucht für das Laubhüttenfest) und Grundsteuern entfielen, 10 Taler für die Beleuchtung der Synagoge und 2 Taler für die Feuerversicherung veranschlagt waren.19 Im Jahre 1869 hatte der Etat ein Volumen von 395 Talern, im Jahre 1888 eine Höhe von 1.102 Mark.20 Da die jüdische Gemeinde von Rahden von 1836 bis 1925 zahlreiche Elementarschullehrer auf Gemeindekosten fest anstellte, waren ihre Ausgaben höher als die der Gemeinde von Preußisch Oldendorf. Im Jahre 1905 zahlten 14 Steuerzahler 1.450 Mark, im Jahre 1909 18 Zensiten 2.300 Mark und im Jahre 1913 finanzierten 25 Steuerzahler einen Etat von 3.000 Mark.21
1496 Obwohl in Levern seit 1813 eine Synagoge besucht wurde und sich an diesem Ort seit 1822 eine Synagogengemeinde gebildet hatte, zog sich die Konstituierung einer Synagogengemeinde als Korporation des öffentlichen Rechts bis zum Jahr 1897/98 hin. Diese Verzögerung hatte mehrere Gründe. Erstens war die Zahl der wahlfähigen jüdischen Mitglieder in Levern selbst zu klein, wenn sich nicht weitere Mitglieder aus den Ämtern Wehdem und Dielingen bereit erklärten, sich der Synagogengemeinde Levern anzuschließen. Tatsächlich besuchten die Mitglieder der Familie Sauer aus Wehdem seit den 1830er Jahren die Synagoge in Levern, während sich die Familie Coblenzer in Wehdem mit der Synagogengemeinde im hannoverschen Lemförde verbunden hatte 19 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 303
1497 20 Vgl. StdtA Rahden, A 415
1498 21 Vgl. Handbücher der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistische Jahrbücher 1905, 1909, 1913) 17., 19., 21. Jg. Hg. v. Bureau des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Berlin
1499 148
1500 und die Familie Buchthal eine indifferente Haltung hinsichtlich der kultischen Zugehörigkeit einnahm.22 Die in Dielingen lebenden jüdischen Familien Spanier, Meier, Lipper, Goldschmidt und Herzfeld wandten sich mit folgendem Schreiben vom 25.1.1861 an das Ministerium für geistliche Angelegenheiten in Berlin gegen die Entscheidung des Oberpräsidiums von Westfalen, wonach sie der Synagogengemeinde Levern zugeschlagen werden sollten:
1501 „Wir sind Eingesessene der Ortschaft Dielingen 1½ Meile von Levern entfernt, und dessen ungeachtet sind Anordnungen getroffen, wonach wir zur einzurichtenden Levernschen Synagogen-Gemeinde beitreten, und verhältnismäßig zu den desfallsigen Kosten beitragen sollen. Wie können wir aber bei einer solchen großen Entfernung von der projectierten Einrichtung Gebrauch machen, da wir nach der mosaischen Glaubenslehre am Sabbath einen Weg über ¼ Meile nicht zurücklegen dürfen? Wie ist es möglich zur Andacht in der Synagoge zu Levern rechtzeitig und ohne große Ermüdung zu erscheinen, da die Andacht nach unserer Glaubenslehre um 9 Uhr Morgens beginnen soll? Unsere Kinder können den Religions-Unterricht wegen der großen Entfernung in Levern selbstredend gar nicht empfangen. Aber auch abgesehen von der Unmöglichkeit, die Synagoge in Levern von hier aus zu benutzen, und von der eventuell eintretenden Übertretung unserer Glaubensgesetze, so streitet schon eine solche Zwangs-Theilnahme wider den § 15 der Verfassungs-Urkunde, und beziehen wir uns auf den Inhalt des umstehenden, abschriftlichen Ministerial-Erlasses. Wir benutzen die ¼ Meile von hier entfernte Synagoge zu Lemförde, werden künftig, wenn es nothwendig wird, hierselbst solche Einrichtungen treffen, die nach Maßgabe unsrer Glaubenslehre genügend sein werden. Wir bitten daher unterthänigst: 'Hochgeneigtst uns von der Zwangs-Theilnahme an der Levernschen Synagogen-Einrichtung gänzlich zu befreien'."23
1502 Dieser Bitte wurde schließlich dahingehend entsprochen, dass der Synagogenbezirk nach dem Statut für die Synagogengemeinde Levern (genehmigt 11.1.1898) nur die Amtsbezirke Levern und Wehdem umfasste (§ 1).24
1503 Im Unterschied zu den Synagogengemeinden in Lübbecke und
1504 Preußisch Oldendorf konnte die Synagogengemeinde von Levern vor 1862 nicht zu einer Korporation öffentlichen Rechts erhoben werden, da diese Gemeinde erst in diesem Jahr einen eigenen Friedhof benutzte. Zuvor ließ die Gemeinde Levern ihre Toten auf dem alten Friedhof, Auf der Masch, der von der jüdischen Gemeinde Lübbecke im Dezember 1819 angekauft worden war, bestatten.25 Der Vorstand der Synagogengemeinde Levern sollte aus drei Mitgliedern und einem Stellvertreter bestehen (§ 9). In den Vorstandswahlen vom 23.8.1901 wurde Kaufmann Bernhard Löwenstein zum ersten, Viehhändler Abraham Sauer aus Wehdem zum zweiten Vorsteher und der Rentier Leffmann Rhee zum Stellvertreter gewählt.26 An die Stelle der Repräsentantenversammlung setzte das Statut die Generalversammlung, zu der alle wahlfähigen Gemeindemitglieder gehörten. Das Statut wurde von den zehn Gemeindemitgliedern, dem Kaufmann Bernhard Löwenstein, dem Rentier Leffmann Rhee, dem Viehhändler Simon Hurwitz, dem Rentier Ferdinand Boas, dem Viehhändler Isidor Hurwitz, dem Kommissionär Moses Horwitz, dem Viehhändler Karl Horwitz, dem praktischen Arzt Dr. med. Arnold Levy, dem Lehrer Siegmund Rosenbach und dem Kaufmann Alex Löwenstein unterschrieben. Außerdem waren die Viehhändler Abraham, Moses und Simon Sauer aus Wehdem Mitglieder der Synagogengemeinde Levern, hatten das Statut jedoch nicht unterschrieben. In den Wahlen vom 23.8.1901 wurde Ferdinand Boas zum Vorsitzenden der Generalversammlung, Alex Löwenstein zum Protokollanten und Isidor Hurwitz zum Rendanten gewählt. Da die Synagogengemeinde Levern von 1854-1921
1505 22 Vgl. Hillebrand, Stefanie: Jüdische Geschichte in Levern und Umgebung 1800-1938. Espelkamp 1996, S. 49-54 23 StADt, M 1 I L Nr. 255
1506 24 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 820
1507 25 Vgl. Hillebrand (1996), S. 64; StdtA Lübbecke, C II 13.4
1508 26 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 820
1509 149
1510 Lehrer anstellte, war der Etat entsprechend hoch. Im Jahre 1905 zahlten 12 Zensiten 1.180 Mark, 1909 12 Zensiten 1.463 Mark und 1913 8 Zensiten 1.618 Mark.27
1511 4.2 Die jüdischen Kleinstadtgemeinden und ihre Verfassungen im Kreise Halle i.W.
1512 Nach dem Statut für die Synagogengemeinde Halle i.W. (genehmigt 15.5.1856) umfasste der Synagogenbezirk die Stadt Halle i.W. und die Gemeinden Brockhagen, Steinhagen und Hörste (§ 1). Der Vorstand sollte aus drei Mitgliedern und einer nicht näher bestimmten Zahl von Stellvertretern (§ 13) bestehen. Im Jahre 1853 wurden der Pferdehändler Feidel Stern, der Handelsmann Bendix Goldschmidt und der Kaufmann Herz Wissbrunn aus Steinhagen zu Vorstehern und der Buchbinder David Rosenbaum zum Stellvertreter gewählt.1 Das Statut vom 15.5.1856 unterschrieben neben den genannten Vorstandsmitgliedern auch noch als Mitglieder der Repräsentation die Kaufleute Philipp Stern und Simon Goldstein aus Halle i.W., der Handelsmann Levi Kirschbaum aus Hörste und der Buchbinder Meier Rose aus Steinhagen. Auch in dieser Synagogengemeinde war man aus Mangel an Mitgliedern gezwungen, an Stelle einer neunköpfigen Repräsentantenversammlung eine Gemeindeversammlung zu setzen.
1513 In einem Schreiben an die Landratsbehörde vom 8.9.1856 beantragte der Vorstand der Synagogengemeinde Halle i.W., auf die Anstellung eines Lehrers und Geistlichen verzichten zu dürfen, da es in Halle nur zwei jüdische Familien mit Kindern gebe, die Kinder der jüdischen Familien in Brockhagen, Steinhagen und Hörste anderen Orts unterrichtet würden und der Kantordienst in Halle i.W. von dem früheren Viehhändler Bendix Goldschmidt ausgeübt werde. Die Ausgaben der Gemeindebedürfnisse wurden mit maximal 40 Talern veranschlagt, die von neun Gemeindemitgliedern aufgrund der Klassensteuerveranlagung aufgebracht wurden. Die Ausgaben für die Synagogenmiete wurden mit 14 rthl, Beleuchtung und Reparaturen mit 10 rthl und die Besoldung des Synagogendieners mit 6 rthl veranschlagt. Für die Instandhaltung des Friedhofs, Auf der Brandheide, wurden 10 rthl angesetzt, doch diese Summe verringerte sich, da auch jüdische Familien aus Werther den jüdischen Friedhof benutzten und zur Instandhaltung beitragen mussten. Der Vorstand bat ausdrücklich darum, weiterhin den Gottesdienst durch einen privaten Kultusbeamten ausüben lassen zu dürfen, auch wenn man sich der Tatsachen, dass Halle i.W. als Kreisstadt mit einem Amtsgericht zur Ableistung von Judeneiden berechtigte und als Ort, an dem es eine Synagoge und einen Friedhof für Juden gab, bewusst war.2
1514 Da sich die jüdische Gemeinde in Halle i.W. entschied, tatsächlich keine Schule zu eröffnen und keinen Lehrer fest anzustellen, sondern ihren Kindern durch einen Wanderlehrer Religionsunterricht erteilen ließ, und auch nach der Jahrhundertwende aus Mangel an männlichen Gemeindemitgliedern anstelle ihrer angemieteten Synagoge diejenige in Werther besuchte, blieb
1515 27 Vgl. Handbücher der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistische Jahrbücher 1905, 1909, 1913) 17., 19., 21. Jg. Hg. v. Bureau des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Berlin 1 StdtA Halle, A 611
1516 2 Vgl. ebd.
1517 150
1518 der Etat entsprechend bescheiden. Im Jahre 1905 belief sich der Gemeindeetat auf 15 Mark, im Jahre 1909 auf 20 Mark und für das Jahr 1913 wurde überhaupt kein Etat mehr angegeben. Die drei jüdischen Familien besuchten weiterhin die Synagoge in Werther.3
1519 Der Synagogenbezirk der Synagogengemeinde von Werther umfasste nur die Stadt Werther nach § 1 des Synagogenstatuts (genehmigt am 5.6.1856).4 Der Vorstand sollte aus drei Mitgliedern der Gemeinde und einem Stellvertreter gebildet werden (§ 11). Die Wahl von Aron Bendix Weinberg, Jesaias Greve und Simon Goldschmidt zu Vorstehern und von Joseph Meyerson zum Stellvertreter wurde von der Bezirksregierung in Minden am 8.12.1853 bestätigt. Am 10.1.1854 wurde dieser Vorstand in der Amtsstube des Bürgermeisters Riensch verpflichtet. Auch in der jüdischen Gemeinde Werther wurde beschlossen, aus Mangel an Mitgliedern keine neunköpfige Repräsentation zu bilden, sondern alle vorhandenen Mitglieder sollten als Repräsentanten angesehen werden. Das Statut vom 5.6.1856 unterschrieben die wahlfähigen Gemeindemitglieder Jordan Bendix Weinberg, Samuel Lilienthal, Salomon Goldstein, [Hesekiel] Neustaedter, Bendix Meyerson für Jacob Alexander, Heinemann Alexander, M[ichael] Greve und M[oses] Meyerson. Die jüdischen Gemeindemitglieder von Werther besaßen spätestens seit den 1780er Jahren eine eigene Synagoge, unterhielten spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs einen Kultusbeamten und Elementarschullehrer und kauften im Jahre 1889 ein Grundstück für einen eigenen Friedhof, An der Egge.5
1520 Der Gemeindehaushalt für die Jahre 1856/57 wurde auf 289 rthl veranschlagt.6 Die Einnahmen setzten sich 1. aus den Mietbeiträgen für die Synagogenstände zusammen (32 rthl), 2. aus den Zinsen der Legate Abraham Meyerson, Salomon Greve und Bendix Weinberg (12 rthl), 3. aus Schul- und Synagogengeldern (57 rthl), 4. aus der von jedem Mitglied zu zahlenden Gemeindesteuer (184 rthl), die „nach Verhältnis der Klassen- und Einkommensteuer umgelegt" (§ 22) wurde und anderen kleineren Einnahmequellen. Die Ausgaben wurden für das Gehalt des Lehrers und Kantors (240 rthl), Zinsschuldentilgung (19 rthl), Reparatur der Synagoge (5 rthl), Gehalt des Synagogendieners (hebr. Schammasch) (5 rthl), Beleuchtung der Synagoge (8 rthl) und Restaurierung der Thora (2 rthl) aufgewandt. Im Jahre 1905 finanzierten 12 Zensiten einen Gemeindehaushalt in Höhe von 1.200 Mark, 1909 zahlten 16 Steuerzahler 1.493 Mark und 1913 brachten 10 Zensiten einen Etat von 1.600 Mark auf.7
1521 Das Statut der Synagogengemeinde von Borgholzhausen (genehmigt am 14.7.1856) unterschrieben die Vorstandsmitglieder F[eidel] J[oseph] Steinfeld, N[achmann] S[amuel] Polly,
1522 3 Vgl. Handbücher der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistische Jahrbücher 1905, 1909, 1913) 17., 19., 21. Jg. Hg. v. Bureau des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Berlin 4 Vgl. StdtA Werther, A 76
1523 5 Vgl. StdtA Werther, A 74; StdtA Bielefeld, Handakte Ellerbrake
1524 6 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 306
1525 7 Vgl. Handbücher der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistische Jahrbücher 1905, 1909, 1913) 17., 19., 21. Jg. Hg. v. Bureau des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Berlin
1526 151
1527 A[braham] [Samuel] Hesse, [Abraham Bendix] Weinberg und die Repräsentanten Zacharias Polly, A[braham] J[acob] Hesse, A[braham] Maass und L.[efmann] Silberberg.8 Die jüdische Gemeinde von Borgholzhausen hatte sich im Jahre 1822 eine neue Synagoge für 1.035 rthl mit einem Schulzimmer im „Vorlokal" erbauen lassen.9 Da das Schulzimmer aber nicht ausreichend beheizbar war, wurden verschiedene Schulzimmer in der Folgezeit unter den Gemeindemitgliedern angemietet.
1528 Der Friedhof, Auf der Nollheide, der um 1750 angelegt worden sein soll und gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Versmold genutzt wurde 10 , war die zweite Immobilie, die erhalten werden musste. Obwohl sich der Friedhof (Flur 4, Nr. 272/152) spätestens seit 1877 ausschließlich im Eigentum der jüdischen Gemeinde von Borgholzhausen befand, waren die Versmolder Juden verpflichtet, ihre Gräber vermutlich auf eigene Kosten zu pflegen.11
1529 Der Etat der jüdischen Gemeinde Borgholzhausen belief sich im Jahre 1840 auf 146 rthl an Einnahmen und 121 rthl an Ausgaben.12 Zu den wichtigsten Einnahmequellen gehörten Mizwesgelder (i.e. Gelder für gottesdienstliche Ehrenfunktionen wie das Aussprechen von Gebeten und Segnungen) (34 rthl), Schulgelder (19 rthl), Gemeindesteuern (67 rthl) und Reparaturkostenbeiträge. Für den Gemeindeetat von 1840 wurden die Gemeindesteuern nach einem graduell, in fünf Steuerklassen abgestuften System, das vermutlich sowohl das Einkommen als auch das Grundvermögen der Steuerzahler berücksichtigte, erhoben. In die erste Steuerklasse fielen die Kaufleute Feidel Joseph Steinfeld und Abraham Bendix Weinberg, die jeweils 11 rthl, 7 Sgr, 6 d zahlten. Der Kaufmann Marcus Lefmann Rhee, der Pferdehändler Samuel Meyerson und Abraham Schoenbaum, die in die zweite Steuerklasse fielen, zahlten je 9 rthl. Der Pferdehändler Abraham Selig Maass und der Schlachter Abraham Hesse zahlten je 3 rthl, 27 Sgr, 6d Gemeindesteuern. Der Handelsmann Nachmann Polly und Simon senior zahlten je 13 Sgr und der Handelsmann Abraham Lefmann Kemper musste 1 Sgr, 15d aufbringen.
1530 Zu den wichtigsten Ausgabenposten gehörten im Jahre 1839/40 das Lehrergehalt (70 rthl), Zinsschuldentilgung (15 rthl), Reparaturen an der Synagoge (12 rthl) und die Schulmiete für Abraham Hesse (16.10.1839-16.4.1840) (7 rthl, 15 Sgr) und für Nachmann Polly (16.4.- 16.10.1840) (9 rthl).13
1531 Das Statut vom 14.7.1856 bestimmte, dass „die Kosten des Kultus und die übrigen Bedürfnisse der Synagogengemeinde [...] durch einen auf sechs Jahre angelegten Etat festgesetzt und auf die einzelnen Mitglieder der Gemeinde nach Verhältnis der Grund-, Einkommen- und Klassensteuer umgelegt" werden sollten (§ 25). Für das Jahr 1859 belief sich der Gemeindehaushalt nur auf 35 8 Vgl. ALBI New York, AR 3156, Hans Kronheim Collection
1532 9 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 441
1533 10 Vgl. Uthe, H. u. K.: „Um Deine Erziehung in den historischen Gebieten zu vergrößern.“ Dokumentation und Erinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte jüdischer Familien in Versmold. Heimatverein Versmold 1988, S. 16 11 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 816
1534 12 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 448
1535 13 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 448
1536 152
1537 rthl, 20 Sgr.14 Offensichtlich war in jenem Jahr kein Lehrer fest angestellt worden. Die wichtigsten Ausgabenzwecke waren die Beleuchtung der Synagoge (12 rthl), Reparaturen an der Synagoge (20 rthl) und die Einfriedigung des Friedhofes (20 rthl).
1538 Der Gemeindeetat hatte im Rechnungsjahr 1894/95 ein Volumen von ca. 500 Mark. Zu den Einnahmequellen gehörten die Zinseinkünfte aus einem hypothekarischen Darlehen von 9.000 Mark zu 4% p.a. Zinsen aus dem Legat der Eheleute Schoenbaum an einen Bauern in Wellingholzhausen, Gemeindesteuern in Höhe von 82 Mark, ein Geldgeschenk der Witwe Kemper aus Baltimore (25 Mark) und Mitzwesgelder (82 Mark). Der größte Ausgabenposten entfiel auf das Gehalt des Religionswanderlehrers David Baum (350 Mark).15
1539 Die Einbindung der kleinen Gemeinde in einen überregionalen und einen regionalen jüdischen Dachverband zeigten die Jahresbeiträge für den Deutsch-Israelitischen Gemeindebund (gegr. 1869 in Leipzig) und für den Verband der Synagogen-Gemeinden Westfalens (gegr. 1891 in Bielefeld) spätestens seit 1894.
1540 Ähnlich wie in der Gemeinde Halle i.W. konnte nach der Jahrhundertwende kein wöchentlicher Gottesdienst mehr in der Synagoge von Borgholzhausen abgehalten werden, da die Zahl der männlichen Juden mit 4-5 Personen zu klein geworden war. Spätestens seit 1905 fanden nur noch Gottesdienste an den hohen Feiertagen im Herbst in der Synagoge von Borgholzhausen statt, indem Kantoren von auswärts eingeladen wurden. Sie erhielten ein Honorar aus dem Schoenbaumschen Legat.16
1541 Im Jahre 1930 bestand die Synagogengemeinde von Borgholzhausen aus drei Familien (3 Männer, 4 Frauen und 3 Kinder unter 14 Jahren). Die Gemeindemitglieder in Borgholzhausen, Max Weinberg, Max Bauer und Jakob Hesse sowie Alfred Silberberg aus Bad Rothenfelde beschlossen am 8.2.1930, dem geschäftsführenden Vorstandsmitglied Max Weinberg eine Vollmacht zu erteilen, die baufällige Synagoge „meistbietend zu verkaufen".17 Die Gebetstände sollten unter Aufsicht eines Gemeindemitgliedes verbrannt werden und die Kultusgegenstände, insbesondere die Thorarollen, von dem Rabbiner in Bielefeld, Dr. Hans Kronheim, in Verwahrung genommen werden. Der Erlös aus dem Verkauf des Grundstücks, Flur 2 Nr. 61 in der Größe von 145qm, zu einem Preis von 650 RM sollte dem Preußischen Landesverband Berlin als Stammkapital überwiesen werden und die Zinsen zur Pflege des jüdischen Friedhofs verwendet werden. Es wurde bestimmt, dass das Kapital zurückfließen sollte, falls sich in der Zukunft eine neue, größere jüdische Gemeinde in Borgholzhausen mit dem Ziel bilden würde, wieder Gottesdienste abzuhalten. Die Bezirksregierung genehmigte den Beschluss der Synagogengemeinde von Borgholzhausen am 16.8.1930.
1542 14 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 306
1543 15 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 816
1544 16 Vgl. ebd. und Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistisches Jahrbuch 1905) 17. Jg. Berlin
1545 17 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 306
1546 153
1547 Obwohl sich die drei Familien der Brüder Weinberg in der Gemeinde Bockhorst im Jahre 1842 wegen persönlicher Streitigkeiten von der Synagogengemeinde in Versmold getrennt hatten, Privatandacht in ihren Häusern hielten und seit Beginn der 1850er Jahren einen Privatlehrer zur Unterrichtung ihrer Kinder angestellt hatten, umfasste der Synagogenbezirk der Synagogengemeinde zu Versmold laut Statut (genehmigt am 26.4.1856) die Stadt Versmold und die Bauerschaften Peckeloh, Oesterweg, Loxten, Bockhorst und Hesselteich (§ 1).18 Nach § 5 sollte der Vorstand aus drei Mitgliedern und drei Stellvertretern bestehen. Auch in dieser Gemeinde sollte anstelle einer Repräsentantenversammlung eine Gemeindeversammlung, die aus allen wahlfähigen Gemeindemitgliedern zusammengesetzt war, gebildet werden (§ 25). Das Statut unterschrieben die Vorsteher A[braham] Weinberg, Levi Weinberg und Bendix Heilbrun. Diese Vorsteher und der Stellvertreter Bernhard Steinfeld wurden am 23.1.1854 von dem Amtmann Friedrich Theodor Heuermann mittels Handschlag verpflichtet, nachdem ihre Wahl am 17.10.1853 durch die Gemeindemitglieder von der Bezirksregierung am 8.12.1853 bestätigt worden war. Vermutlich Anfang der 1830er Jahre ließ sich die jüdische Gemeinde von Versmold von dem Bauern Friedrich Wilhelm Klaus (Mattlage) aus Loxten ein Kottengebäude aus Fachwerk als Doppelhaus auf dem Land erbauen, in dem sowohl auf der einen Seite eine traditionelle Synagoge als auch auf der anderen eine Heuerlingswohnung eingerichtet wurden. Im Jahre 1899 entschied sich die Gemeinde, eine neue, steinerne, kirchenähnliche Synagoge an der Mittelstraße 12 in Versmold erbauen zu lassen, in der schließlich bis zum Novemberpogrom in der NS-Zeit Gottesdienste abgehalten wurden.
1548 Der Gemeindeetat für die Zeit 1857-62 belief sich auf 45 rthl, 19 Sgr, 9d. Die Einnahmequellen bestanden aus Kultussteuern (28 rthl, 4 Sgr, 9d), Mieteinnahmen für die Heuerlingswohnung und Zinseinnahmen für ein Darlehen in Höhe von 100 rthl an den Bauern Klaus zu einem jährlichen Zinssatz von 4½ %. Die Ausgabenzwecke setzten sich aus der Mietzahlung an den Bauern Klaus und Reparaturausgaben zusammen.19 In den folgenden Jahren hatte der Gemeindehaushalt ein Volumen von 327 Mark (1890-93), 480 Mark (1905), 600 Mark (1913) und 198 Mark (1928).20 Da die jüdische Gemeinde von Versmold im Unterschied zu der jüdischen Gemeinde von Werther wegen der kleinen Kinderschar keine jüdische Schule kontinuierlich zu unterhalten brauchte, sondern spätestens seit 1893 einen Wanderlehrer zur Unterrichtung ihrer Kinder im Fach Religion anstellte, verwundert es nicht, dass der Gemeindeetat nicht allzu umfangreich war.
1549 18 Vgl. StdtA Versmold, A 1238
1550 19 Vgl. ebd.
1551 20 Vgl. ebd.; Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1905; StADt, M 1 I L Nr. 306
1552 154
1553 4.3 Synagogen und Gottesdienste im Kreis Lübbecke
1554 Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich, teils in Analogie zu Entwicklungen im Protestantismus, vier unterschiedliche ideologische Richtungen im deutschen Judentum heraus. Das akademisch vorgebildete Rabbinat versuchte, neue Wege und Antworten auf Fragen der Gottesdienstgestaltung, der Interpretation der traditionellen Schriften und bei der Frage der Vereinbarkeit von jüdischer Tradition mit dem Leben in der mehrheitlich nichtjüdischen deutschen Gesellschaft, die sich zu industrialisieren und modernisieren begann, zu geben.
1555 Der neo-orthodoxe Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888) zielte mit seinem Konzept „Tora im derech erez“ (wörtlich: Thora zusammen mit dem Weg des Landes) darauf ab, das traditionelle Judentum, das sich an die Gesetze und die Lehre der überlieferten Schriften der Bibel und des Talmud hielt, „mit einem aktiven Leben in Staat und Gesellschaft" zu verbinden.1 Der Jude als „Mensch-Jissroeïl“ konnte nach Hirschs Vorstellungen seine jüdische Lebensweise mit einer allgemein menschlichen konfliktlos in Einklang bringen. Die alten jüdischen Bräuche wurden von Hirsch mit neuen Argumenten gerechtfertigt und nicht schon allein aus dem Grunde akzeptiert, weil sie von den Eltern in Ehren gehalten wurden.
1556 Der konservative Rabbiner Zacharias Frankel (1801-1875) versuchte in Analogie zu der protestantischen Vermittlungstheologie zwischen Glaube und historischer Kritik eine ausgleichende Position einzunehmen. Einerseits hielt er den Kern der jüdischen Religion für geoffenbart, andererseits betonte er die Innovationsfähigkeit des jüdischen Gesetzes. In Abgrenzung zur militanten Orthodoxie und radikalen Reform verstand er seine Aufgabe darin, die jüdische Religion im konservativen Sinne zu verbessern und fortzubilden. Frankel wurde im Jahre 1854 zum ersten Direktor des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau gewählt, das erste moderne Rabbinerseminar in Deutschland, in dem bis 1938 723 Rabbiner und Gelehrte ausgebildet wurden, u.a. der Historiker Heinrich Graetz und der Rabbiner Leo Baeck.2 Der gemäßigt reformorientierte Rabbiner Abraham Geiger (1810-1874) war der Ideologe des religiösen Fortschritts, für den seiner Vorstellung nach der jüdische Geist und nicht in erster Linie das jüdische Gesetz verantwortlich war. Geiger wurde im Jahre 1838 zum Rabbiner in Breslau gewählt und fungierte ab 1872 als Dozent in der von ihm eingerichteten Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin.3
1557 Während sich die gemäßigt reformorientierten Rabbiner für die zumindest teilweise Ersetzung des Hebräischen als gottesdienstliche Gebetssprache, die Einführung von Predigten, Choralgesang und Orgelmusik beim jüdischen Gottesdienst nach protestantischem Vorbild aussprachen, gingen die Forderungen des radikal reformorientierten Rabbiners Samuel Holdheim (1806-1860) insofern 1 Brenner, Michael; Jersch-Wenzel, Stefi; Meyer, Michael A.: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. Emanzipation und Akkulturation 1780-1871. München 1996, S. 146f
1558 2 Vgl. ebd.; Schoeps, Julius H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 1992, Artikel: „Frankel, Zacharias“, S. 151f; „Jüdisch-Theologisches Seminar, Breslau“, S. 246
1559 3 Vgl. Brenner/Jersch-Wenzel/Meyer: Deutsch-Jüdische Geschichte, Bd. II, S. 148ff; Schoeps, Neues Lexikon, Artikel: „Geiger, Abraham“, S. 163
1560 155
1561 weiter, als er sich in seiner Reformgemeinde in Berlin dafür einsetzte, den Sabbat auf den Sonntag zu verlegen, da immer mehr Juden gezwungen waren, am Freitag und Sonnabend zu arbeiten. Außerdem setzte er sich für die Abschaffung der Beschneidung jüdischer Knaben ein und für eine Reform der jüdischen Ehe- und Scheidungsgesetze. Auf der Rabbinerkonferenz in Braunschweig (1844) gehörte er mit Moses Hess zu den einzigen Konferenzteilnehmern, die im Unterschied zur Mehrheit die Mischehe zwischen Juden und Nichtjuden befürworteten. Das Gesetzesjudentum wollte er durch eine prophetische Moral des autonomen Individuums ersetzen.4
1562 Hinweise darauf, nach welchen Modellen sich der Gottesdienst in der Synagoge der jüdischen Gemeinde von Lübbecke entwickelte und auf welche Weise sich die Riten und Gebräuche, die in der Gemeinde gefeiert wurden, wandelten, finden sich in der jüdischen Presse, in der Bürgermeisterchronik und in den Erinnerungen des Lehrers Max Lazarus.
1563 Ein Artikel vom 27.7.1839 in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“, die seit 1837 von dem gemäßigten Reformprediger und späteren Rabbiner von Magdeburg, Ludwig Philippson (1811- 1889), herausgegeben wurde, berichtete darüber, dass vier Kinder in der jüdischen Gemeinde von Lübbecke am vergangenen Wochenfest (hebr. Shawuot) konfirmiert worden waren.5 Der
1564 Redakteur stellte den Lehrern und Geistlichen unter den Lesern der AZJ die rhetorische Frage, ob es nicht sinnvoll sei, aus Gründen der zeitlichen Vereinheitlichung, die „Konfirmationen" [sic; statt: Barmizwafeiern] jüdischer Kinder immer am Wochenfest durchzuführen. Da jedoch der gottesdienstliche Ritus am Wochenfest eine „ungemeine Länge" erforderlich mache, schlug der Redakteur vor, die „Religionsweihe der Kinder" auf den nachfolgenden Sabbat zu verlegen. Die Verwendung der Substantive „Konfirmation" und „Konfirmand" in diesem Artikel zeigte die sprachliche Akkulturationsbereitschaft der reformorientierten Zeitung an die protestantische Mehrheitskultur an.
1565 Inhaltlich gesehen waren Konfirmationen, die am Wochenfeste abgehalten wurden, sehr sinnvoll, da mit dem Fest seit rabbinischer Zeit die Erinnerung an die geoffenbarte Gesetzgebung am Sinai und die Erwählung Israels verbunden war.6
1566 Während der spätere Landesrabbiner von Münster, Abraham Sutro (1784-1869), der in der Zeit des Kasseler Konsistoriums (1808-13) als Rabbinatsadjunkt in Höxter in deutscher Sprache predigte, Orgelmusik und „die nach dem Vorbild der evangelischen Liturgie eingeführte Konfirmation der Knaben" akzeptierte, nach 1830 jedoch die Reinhaltung des jüdischen Ritus auf orthodoxe Weise praktizierte 7 , wurde dieser traditionelle Weg in Lübbecke offensichtlich von Lehrer Heinemann Leeser nicht gegangen. Es lässt sich quellenmäßig belegen, dass in der Dienstzeit des 4 Vgl. Schoeps, Neues Lexikon, Artikel: „Holdheim, Samuel“, S. 201; Meiring, Kerstin: Zwischen zwei Welten: Studien zur christlich-jüdischen Mischehe in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Diss. Bielefeld 1995, S. 32; Brenner/Jersch-Wenzel/Meyer: Deutsch-Jüdische Geschichte, Bd. II, S. 150f 5 Vgl. AZJ (3. Jg.) Nr. 77 vom 27.7.1839
1567 6 Vgl. Schoeps, Neues Lexikon, Artikel: „Schawuot“, S. 409f
1568 7 Vgl. Herzig, Arno: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973, S. 43f, Fußnote 16; S. 46ff
1569 156
1570 Lehrers Leeser auch Konfirmationen von Mädchen in der Gemeinde gefeiert wurden. Der jüdische Frauenverein von Lübbecke spendete im Jahre 1860 5 rthl, die zur Anschaffung von Kleidungsstücken für Schönchen Meier wegen ihrer „Konfirmation" (sic; statt: Batmizwafeier) Verwendung finden sollten.8 Die Tatsache, dass Batmizwafeiern in der Gemeinde Lübbecke abgehalten wurden, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Gemeinde reformorientiert war. Später, im Jahre 1897, führte der Lehrer Max Lazarus wieder Barmizwafeiern in den synagogalen Gottesdienst ein, wie es die von ihm früher verwaltete Gemeinde Meschede im Sauerland von ihm erwartet hatte.9
1571 Von 1835-40 und 1855-74 fungierte in Lübbecke Heinemann Leeser als Lehrer und Geistlicher. Er hatte im Jahre 1830 das jüdische Lehrerseminar in Münster und im Jahre 1833 als einziger jüdischer Hospitant das katholische Lehrerseminar in Büren besucht und seine Prüfungen an beiden Seminarien mit sehr guten Noten bestanden. Er besaß englische und französische Sprachkenntnisse und war Verfasser zweier Hebräischlehrbücher, nämlich „Hebräisches Lehr- und Übungsbuch für Schulen, 1. und 2. Kursus" (hebr. Titel: „Halichot loschen hakodesch") und „Hilfsbüchlein beim ersten Übersetzen des Pentateuch für israelitische Schulen".10 Bis in die 1860er Jahre blieb Heinemann Leeser seiner gemäßigt reformorientierten Einstellung treu. Der orthodoxe „Israelit“ berichtete am 29.4.1868 (5628) mit Empörung, dass auf Initiative und unter dem Vorsitz des ältesten Lehrers, Heinemann Leeser, sämtliche acht jüdischen Lehrer des Kreises Lübbecke zu einer Konferenz nach Lübbecke eingeladen worden waren, um über schulische und synagogale Fragen offensichtlich nicht nur mit der Absicht zu beraten, die jüdischen Interessen zu harmonisieren und zu vereinheitlichen, sondern auch, um die synagogalen Melodien zu „vereinfachen" und den jüdischen Gottesdienst zu „reformieren". Die Konferenzteilnehmer beabsichtigten, dreimal jährlich über Fragen des Schul- und Synagogenwesens eine Sonderkonferenz abzuhalten. Der Artikel des „Israelit“ endete mit den empörten Worten: „Wir glauben indeß, die Herren Lehrer und Lehrerchen thäten - falls keine nöthigeren und dringlicheren Vorlagen zu erledigen sind - viel besser, wenn sie zu Hause blieben!"11
1572 Auch die Verwendung eines Harmoniums in der Leverner Synagoge seit dem Jahre 1887 und in der Lübbecker Synagoge vor und nach dem Brand im Jahre 1897 weist daraufhin, dass die Gottesdienste in diesen Gemeinden liberal oder reformorientiert waren.12 Nach orthodoxer Sitte war es nicht erlaubt, am Sabbat Musik zu machen, da dies dem Arbeitsverbot widersprach. Außerdem war das Musizierverbot im Gottesdienst seit der Tempelzerstörung als Zeichen der
1573 8 Vgl. CAHJP, Inventory 6198
1574 9 Vgl. Lazarus, Max: Erinnerungen. Hg. v. Hans Chanoch Meyer. Dortmund 1967, S. 54f 10 Vgl. Nachruf von Salomon Blumenau in AZJ (38. Jg.) Nr. 14 vom 31.3.1874; Helga Becker-Leeser: Aus der Geschichte der Familie Leeser. o.O. 1987, S. 77-80. Ich danke Helga Becker-Leeser für ihre freundliche Zusendung einiger Kapitel aus ihrem damals noch unpublizierten Werk.
1575 11 Der Israelit Nr. 18 (IX. Jg.), Beilage vom 29.4.1868 (5628)
1576 12 CJA, 75 A Pr 3 Nr. 2; Lazarus, Max: Erinnerungen, S. 57
1577 157
1578 Trauer von den Orthodoxen akzeptiert und die Einführung von Orgelmusik als Nachahmung nichtjüdischer Gottesdienstformen angesehen worden.13
1579 Bürgermeister Strubberg charakterisierte den Kultus der jüdischen Gemeinde von Lübbecke schon für das Jahr 1844 als reformorientiert und sprachlich akkulturiert:
1580 „Die jüdische Gemeinde ist auf dem Wege der vernünftigen Reform vorgeschritten und hat manchen nicht mehr zeitgemäßen, auf den Vorschriften des Talmud beruhenden Gebrauch abgeschafft. So ist unter Anderem beim Gottesdienst jetzt deutsche Predigt, deutsches Gebet und deutscher Gesang eingeführt. Ihre Schule ist in einem ausgezeichneten Zustande."14
1581 Die erste nachgewiesene, von der jüdischen Gemeinde von Lübbecke benutzte Betstube befand sich im Jahre 1725 im Haus Nr. 54 des Schutzjuden Isaac Joseph, Vorsteher der Lübbecker und Oldendorfer Judenschaft. Die im Jahre 1742 benutzte Betstube befand sich im Haus Nr. 192 des Johann Hermann Farenkamp am Steinweg. Der Gemeinde war es nach einer Verordnung vom 24.9.1730 verboten worden, eine eigene Synagoge zu erbauen und einzurichten. Vermutlich schon seit 1744 hatte die Gemeinde eine andere Synagoge, die wahrscheinlich mit einer Schulstube verbunden war, gemietet. Sie befand sich in einem Gebäude auf dem Hofplatz des Westrupshof, den der Freiherr von der Recke schon 1624 erworben hatte, inmitten der Stadt Lübbecke. Im Jahre 1824 berichtete der Lehrer Baer Salomon dem Lübbecker Bürgermeister Carl Ludwig Sigismund Kind, dass „vor mehreren Jahren [auf dem Hofe der Familie von der Recke] eine neue Synagoge erbaut und eine neue Schulstube eingerichtet" und von der „hiesigen Judenschaft in Pacht genommen" worden sei.15
1582 Am 21.4.1854 schlossen die Kaufleute Enoch Rosenberg, M.N. Rosenberg, Nathan Steinberg, Samuel Hecht, Daniel Bendix Weinberg, Moses Bendix Weinberg, Levi Weiß, Levi Mergentheim, Joseph Mergentheim und der Fleischer Itzig Mansbach einen Vertrag mit dem Freiherrn von der Recke über den Kauf von drei Grundstücken, nämlich 1. Flur 8, Nr. 499/157, Bäckerstraße, Haus und Hof mit der Synagoge (ca. 432 m²), 2. Flur 8, Nr. 500/162, Bäckerstraße Haus und Hof (ca. 186 m²) und 3. Flur 8 Nr. 501/161, Bäckerstraße, Garten (ca. 1.241 m²) zu einem Preis von 3.000 Talern.16
1583 Die Parzellen 500/162 und 500/161 wurden laut Vertrag vom 2.1.1855 an den Pferdehändler Levi Vogel zu einem Kaufpreis von 1.500 Talern abgetreten, der diese Grundstücke laut Vertrag vom 18.9.1859 an den Gastwirt Heinrich Gottfried Wendt zu einem Preis von 2.500 Talern Courant weiterverkaufte.17 Da die Synagogengemeinde zu Lübbecke mit Genehmigung ihres Statuts vom 10.3.1858 Korporationsrechte erhalten hatte, wurde die Anleihe, die die Synagogengemeinde bei der Kreissparkasse Lübbecke zur Finanzierung ihres Synagogengrundstücks aufgenommen hatte, mittels Kultussteuerumlage von allen abgabepflichtigen Gemeindemitgliedern abgezahlt.
1584 13 Vgl. Schoeps, Neues Lexikon, Artikel: „Orgel“, S. 348
1585 14 StdtA Lübbecke, Chronik der Stadt Lübbecke, 1844, 32b
1586 15 Vgl. Pracht, Elfi: Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Teil III: Regierungsbezirk Detmold. Köln 1998, S. 389f; Zassenhaus, Dieter: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde Lübbecke. Vom Spätmittelalter bis ins frühe 19. Jahrhundert. Lübbecke 1988, S. 32; StdtA Lübbecke, B 63.4
1587 16 Vgl. StADt, D 23 B Nr. 25766
1588 17 Vgl. StADt, D 23 B Nr. 25767
1589 158
1590 In den Jahren 1854/55 ließ die Gemeinde ihre Synagoge, die mit einem Schulzimmer verbunden war, umbauen. Während dieser Zeit benutzte sie ein Zimmer des Hauses Langestraße Nr. 9, in dem der evangelische Bäcker Philipp August Meier eine Schenkwirtschaft betrieb, als vorläufige Betstube. Offensichtlich war das Ehepaar Philipp und Caroline Meier mit der jüdischen Gemeinde befreundet, sonst hätte es ihr keine Betstube zur Verfügung gestellt. Möglicherweise arbeitete auch eine Tochter des Ehepaars Meier als Dienstmagd beim Nachbarn Joseph Mergentheim im Haus Langestraße Nr. 7. Am Tag der Einweihung der umgebauten Synagoge, am Shabbat des 8. Siwan 5615 (Freitag, 25.5.1855), d.h. also am Wochenfest (hebr. Schawuot), wurden die Thorarollen in einem „feierlichen Zug" vom Haus Langestraße Nr. 9 vermutlich durch die Langestraße vorbei an den Manufakturwarengeschäften Moses Nathan Rosenberg (Nr. 14), Moses Enoch Rosenberg (Nr. 22), Markus Löwenstein (Nr. 36), Moses Bendix Weinberg (Nr. 40), Daniel Bendix Weinberg (Nr. 46), Levi Mergentheim (Nr. 51) und Friederike Hecht (Nr. 54) zur Synagoge, die sich am östlichen Ende der Langestraße, in der Bäckerstraße 1 (seit 1908: 23) befand, getragen. Dieser feierliche Zug wurde vermutlich von dem Lehrer Salomon Blumenau, der erst am 1.7.1855 seine Bielefelder Stelle antrat, und den Thoraträgern angeführt. Die Gemeinden im Bezirk Minden-Ravensberg hatten seit dem Tod des Oberrabbiners Moses L. Friedheim (9.4.1826) keinen neuen Rabbiner gewählt. Den Thoraträgern folgten vermutlich der jüdische Gemeindevorstand, Gäste und die jüdische Gemeinde. Vor der Synagoge wurde der Zug von dem Landrat Adolf von der Horst und dem Magistrat der Stadt Lübbecke empfangen. Anschließend fand ein feierlicher Gottesdienst statt.18
1591 Eine Beschreibung der äußeren und inneren Elemente der Synagoge, wie sie vor dem Brand im November 1896 aussahen, und eine Charakteristik des Gottesdienstes, findet sich in den Erinnerungen des Lehrers Max Lazarus, der seit Mai 1892 von der Gemeinde in Lübbecke angestellt worden war:
1592 „Das Grundstück, auf welchem sich der große Vorhof (Schulhof) und das Synagogengebäude befinden, wurde von einem Adligen in den [18]40er oder 50er Jahren käuflich erworben. Der Vorderteil des Gebäudes, den hauptsächlich Schule und Beratungszimmer und Flur zur Synagoge ausfüllen, ist massiv. Die Synagoge hat Fachwerkwände. Schmucklos, einfach sind die Wände, Fenster und das Gestühl des Synagogeninneren. Sitzreihen sind zu beiden Seiten, auch die Frauensitze, die unter dem Eingang liegen. Eine Frauenempore fehlt. Den Platz zwischen den Sitzreihen nehmen der Innenflur, der große Almemor [Betpult für die Lesung der Thora] und die erhöhte Stelle vor der Heiligen Lade ein, die ein schlichter Vorhang ziert. Vor der Heiligen Lade ist das Predigtpult. Eine schwarze Tuchdecke mit kostbarer Spitze schmückt den Almemor und das Predigtpult. Läufer und Teppiche bedecken den mit weißen und schwarzen Marmorplatten belegten Innenflur. Die Bänke ruhen auf Holzboden. Wertvolle Beleuchtungskörper älterer Zeiten zieren Decken und Wände.
1593 Nicht weniger als 11 Thorarollen birgt die Heilige Lade. Sie sind Stiftungen der Gemeinde und Einzelstiftungen von Familien und im erhabendsten Sinne Beweisstücke für geordnete Gemeindeverhältnisse. Eine Thorarolle muß mehrere Jahrhunderte alt sein, ihr Pergament ist vom Alter dunkel, ihre Schrift noch leserlich. Von unschätzbarem Wert ist die Chanukka-Menora, ein getreues Abbild des in der Thora beschriebenen goldenen Leuchters. Ihr Stifter ist ein Vorfahr einer noch am Platze lebenden Familie. Die Menora ist über 200 Jahre alt.
1594 Alllsabbatlich, an allen Festtagen, wochentäglich bei Jahrzeiten, an einigen Festtagen, Chanukka und Purim findet Gottesdienst statt. Mit Ausnahme des hier schon vor vielen Jahren eingeführten dreijährigen Zyklus der Thoravorlesung wird der Gottesdienst in traditionell alter Weise abgehalten. Nicht nur an den hohen Herbstfesttagen, auch an den drei Wallfahrtsfesten [Sukkot (Laubhüttenfest), Schemini Azeret, Simchat Thora] werden Piutim (besondere Festgebete) eingeschaltet. Die Gemeinde ist aktiv am Gottesdienst beteiligt."19 18 Vgl. StdtA Lübbecke, Chronik der Stadt Lübbecke, 1855, I, 7; B 84.25 V; Herzig (1973); S. 46f; Minninger, Monika: Salomon Blumenau aus Bünde (1825-1904). Lehrer, Kantor, Prediger, Freimaurer, Autor, in: Ravensberger Blätter, Heft 1, April 1988, S. 10; zur Umrechnung des 25.5.1855 in die jüdische Zeitrechnung siehe Mahler, E.: Handbuch der jüdischen Chronologie. o.O. 1916. Ich danke Helga Becker-Leeser für ihre freundliche Zusendung von einigen kopierten Seiten aus diesem Werk.
1595 19 Lazarus, Max: Erinnerungen, S. 17
1596 159
1597 Im Unterschied zu Heinemann Leeser hielt sich Max Lazarus enger an die Traditionen. Anstelle von Konfirmationsfeiern führte er wieder Barmizwafeiern ein. Das vom reformorientierten Verband der Synagogengemeinden Westfalens im Jahre 1894 eingeführte „Israelitische Gebetbuch" des Rabbiners Dr. Vogelstein kritisierte er, da es „den Opferkult, die Erinnerung an die Wiederaufrichtung des Tempels und Jerusalems und den Messiasglauben ausgemerzt" habe. Er fand es wichtig, nicht mehr ausgeübte Bräuche (hebr. Minhagim) wie Schabbatlichtanzünden, Kiddusch („Besonderes Gebet am Schabbath und Festtag, verbunden mit einem Segnungsspruch über Wein und Brot“), Benschen (dt. Segnen) der Kinder, Hawdala (Zeremonie am Ausgang des Sabbats) den jüdischen Familien wieder vertraut zu machen. Max Lazarus gab zu bedenken, dass der Verband sich im konservativen Sinne verhalten hätte, wenn er bei der Regierung vorstellig geworden wäre, um die Abschaffung der Viehmärkte an Feiertagen und der Viehablieferungstermine am Sabbat zu verlangen.20
1598 Als die Synagoge im November 1896 aufgrund einer nur zwei Meter entfernten in Brand geratenen Gerberei Feuer fing, gelang es Lehrer Lazarus, die Thorarollen aus der Heiligen Lade [hebr. Aron ha-kodesch] zu retten, während die städtische Feuerwehr den Brand löschte und die Polizei die Synagoge vor Plünderern schützte. Da das mit der Synagoge verbundene Schulhaus vom Brand verschont wurde, fanden die folgenden Gottesdienste bis zur Renovierung der Synagoge dort statt. Im nächsten Frühjahr nach Pessach wurden die in Fäulnis übergegangenen Wände der Synagoge durch massive Mauern ersetzt. Das Innere der Synagoge wurde u.a. dadurch verschönert, dass die alten Hausfenster durch acht neue, farbige, bleiverglaste Bogenfenster ersetzt wurden. Der jüdische Frauenverein spendete ein Fenster, ein neues Harmonium und weißseidene Thoramäntelchen.21
1599 Die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ berichtete über die von dem Lehrer Max Lazarus geleitete Einweihungsfeier und das Aussehen der neuen Synagoge wie folgt:
1600 „Am 28. v. Mts. [August 1897] fand die Einweihung der neurenovirten Synagoge statt, an welcher sich alle Gemeindemitglieder und viele ihrer Verwandten aus der Ferne betheiligten. Die Feier beschränkte sich auf einen Sabbathgottesdienst, verbunden mit einer Weiherede und mehrstimmigen deutschen und hebräischen Chorgesängen. In der Festpredigt, der die Textworte aus dem 2. Buch Mose 25, 8 zu Grunde lagen, wurde auf die erhabene Bedeutung des Gotteshauses hingewiesen, das, auf altem Fundament wieder errichtet, seine alte, hochheilige Bestimmung erfüllen möge, indem es fürder bleibe eine Pflanz- und Pflegestätte der wahren Frömmigkeit und Religiösität, des Friedens und der Eintracht, der Liebe und Gerechtigkeit. Das neugeweihte Gotteshaus, eine Zierde unserer Stadt, ist ein herrliches, ehrendes Denkmal des religiösen, hochherzigen und einträchtigen Sinnes der hiesigen, nur aus 15 Familien bestehenden Gemeinde. Wer es betritt, dem mögen wohl die Segensworte Bileams von den Lippen strömen. Ist doch sein Inneres mit solchem Schmucke ausgestattet, daß es würdig jeder größeren Synagoge sich anreihen darf. Wände und Decken zieren prächtige Malereien und Stuckatureinfassung. Reiche Ornamente schmücken die Ostwand. Die heilige Lade, vor welcher ein kostbarer Vorhang aus rothem, schwerem Sammet mit Goldstickerei prangt, umgiebt ein blaues Feld, reich mit Sternen besäet und dieses umschließt wiederum ein kunstvoller Bogen, ruhend auf zwei vergoldeten Säulen. Acht große, bunte Bogenfenster gewähren dem Gottesdienste einen herrlichen Lichteindruck. Es bleibt noch zu erwähnen, daß alle Gemeindemitglieder sämmtliche Ausgaben für die innere Ausschmückung der Synagoge durch freiwillige Stiftungen, die einen recht hohen Betrag ergeben, gedeckt haben; gewiß ein beredtes Zeugnis wahrer Religiösität und Opferwilligkeit und die sicherste Bürgschaft des besten Friedens und der unerschütterlichen Eintracht in hiesiger Gemeinde."22
1601 20 Vgl. ebd., S. 40f; 210f
1602 21 Vgl. Lazarus, Max: Erinnerungen, S. 51f; 56f
1603 22 AZJ, Beilage zu Nr. 38 vom 17.9.1897. Von 1926-1928 wurde der Innenraum der Synagoge zu Lübbecke von einem Neffen des Lehrers Max Lazarus aus Trier gleichen Namens neu ausgemalt. Er ersetzte den Sternenhimmel über dem Thoraschrein durch die Dekalogtafeln, malte die Decke als Himmelsgewölbe aus und stellte darin ‚das Waschbecken der Priester, (den) Tisch mit den Schaubroten, (die) Tempelleuchter, die Bundeslade und das ganze liturgische Jahr‘ dar. Zitiert nach Brocke, Michael (Hg.): Feuer an Dein Heiligtum gelegt. Zerstörte Synagogen 1938: Nordrhein-Westfalen.
1604 160
1605 Wie oben schon angedeutet, erwarb die Judenschaft zu Preußisch Oldendorf vom ehemaligen Kämmerer Schwarzmeyer, Besitzer der Meierstätte Nr. 17, im Jahre 1797 ein Heuerlingshaus mit einem kleinen Garten und Nutzungsrechten an einem Brunnen zu einem Kaufpreis von 400 Talern Kurant.23 Die jüdische Gemeinde beabsichtigte, den Kotten in eine Synagoge umzubauen, da ein solch wichtiges kultisches Versammlungsgebäude noch fehlte. Offensichtlich hatte sie bis zu dieser Zeit Betstuben angemietet oder in ihren Privathäusern Gottesdienste abgehalten. Am 18.7.1797 genehmigte die Regierung in Berlin den Kauf eines Nebengebäudes der Schwarzmeyerschen Stätte mit einem dahinter liegenden zwanzig Fuß langen Platz und den Umbau dieses Nebengebäudes in eine jüdische Schule unter der Bedingung, dass die Judenschaft 1. eine Heuerlingswohnung in dem neuen Schulgebäude einrichtete, 2. das Kaufgeld in Höhe von 400 Talern an das Amt Limberg zahlte und 3. alle Nebengebäude, die mit der Hauptstelle verbunden waren, übernahm. Offensichtlich wurde der angekaufte Kotten nachfolgend so umgebaut, dass eine Synagoge darin Platz fand. In dem Nebengebäude wurden ein Schulraum, eine Mietwohnung sowie eine Schlafkammer und eine Wohnstube für einen unverheirateten Lehrer eingerichtet. Dieses Gebäude lag direkt an der Straße nach Lübbecke.24
1606 Seit Ende 1857 wurde von der jüdischen Gemeinde von Preußisch Oldendorf erwogen, die Synagoge renovieren zu lassen.25 Da sich das Gebäude jedoch in einem baufälligen Zustand befand, wurde entschieden, den Maurer und Zimmermeister W. Hunke aus Lübbecke zu beauftragen, Zeichnungen zum Bau einer neuen Synagoge anzufertigen. Zuvor schrieb Hunke dem Vorstand der Synagogengemeinde am 18.2.1858:
1607 „Auf Ihren Wunsch habe ich die Synagogen zu Cöln und Crefeld besucht, habe selbige aber so großartig gefunden, daß Sie schwerlich werden daran denken können, ähnlich - wenn auch im kleinen Maaßstabe - zu bauen. Gestern war ich in Rahden und habe auch die dortige Synagoge besucht, die ich recht einfach, und bis auf einzelne Sachen - practisch und zweckmäßig fand. Bevor ich jedoch ein Bauproject für Ihre Gemeinde anfertige, muß ich zunächst wissen, wie groß Ihre Gemeinde ist, wie viel Sitze angebracht werden müssen, und ob die Frauen unten in der Kirche ?sic? oder auf einer Empore untergebracht werden sollen. In Rahden ist letztere Anordnung gewählt, ebenso in Crefeld, was mir auch am besten gefällt, und was auch wohl am meisten im Character Ihrer Kirche liegt."26
1608 Die erhaltenen Bauzeichnungen Hunkes zeigen jedoch, dass sich die Gemeinde in Oldendorf insofern an die Inneneinrichtung der Synagoge von Lübbecke gehalten hatte, als sie auf eine Empore für die Frauen zugunsten je zwei breiterer Sitzreihen am westlichen Ende der Synagoge verzichtete. Die neue, massive, aus Backsteinen gemauerte Synagoge hatte einen nahezu quadratischen Grundriß, war mit einer gewölbten Decke und einem Satteldach versehen und sollte 1.000 Taler kosten. Die eingeschossige Kleinstadtsynagoge war beidseitig mit acht Sitzreihen ausgestattet, auf die das Licht aus je zwei großen Rundbogenfenstern der Seitenwände und zwei Rundbogenfenstern der Ostwand fiel. Die mittig angelegte Bima wirkte traditionell, wurde jedoch von einem Predigerpult vor dem Toraschrein ergänzt, der sich in einem Anbau an der Ostwand
1609 Bochum 1999 (5760), Artikel „Lübbecke“, S. 349f
1610 23 Vgl. CAHJP, Pr. Oldendorf S/319/2
1611 24 Vgl. CAHJP, Pr. Oldendorf S/319/2
1612 25 Vgl. Pracht, Elfi: Jüdisches Kulturerbe in NRW, Teil III (1998), S. 416; CAHJP, Pr. Oldendorf S/319/1 26 CJA, Archiv 1, 75 A Pr 3 Nr. 6
1613 161
1614 befand. Der Eingang in die Synagoge führte durch einen an der Westseite angebrachten Anbau mit Pultdach, in dessen Mitte ein „rundbogiges Portal aus kassetiertem Eichenholz, das von zwei sehr kleinen Rundbogenfenstern flankiert war", eingesetzt war. Auch der westliche Giebel hatte ein kleineres Rundbogenfenster. Die halbtonnige Decke war vermutlich in verschiedenen Feldern ausgemalt und mit vergoldeten Metallsternen versehen. Die neue Synagoge soll am 1. August 1863 (Shabbat Nachamu, 16. Av 5623) eingeweiht worden sein. Sie befand sich als separates Gebäude hinter der Schule und war „von der Straße aus durch ein Gittertor und über einen schmalen Weg am Schulgebäude entlang zu erreichen [...]“27
1615 Die Ordnung des synagogalen Gottesdienstes wurde idealtypischerweise von dem „Synagogen-Reglement für die Synagogen-Gemeinde Oldendorf", das am 27.3.1860 von der Bezirksregierung genehmigt wurde, geregelt.28 Nach § 1 fungierte der jeweils gewählte Gemeindevorstand gleichzeitig auch als Synagogenvorstand. Unentschuldigtes Fernbleiben eines Vorstandsmitglieds beim Hauptgottesdienst wurde mit einer Geldstrafe geahndet. Der Gottesdienstbeginn wurde vom Vorstand „festgesetzt und bestimmt" (§ 2). Ungebührliches Verhalten der Kinder und Erwachsenen während des Gottesdienstes wurde mit Strafgeld belegt (§ 3). Das Recht zum Vorbeten war nach § 4 dem jeweils gewählten Kultusbeamten und den Gemeindemitgliedern, die Jahrzeit hatten, d.h. des Todestages eines Verwandten gedachten, vorbehalten. Während der Thoralesung war es bei Geldstrafe verboten, die Synagoge zu verlassen oder zu betreten (§ 5). Nach § 6 sollten alle zwei Jahre zwei Mitglieder und ein Stellvertreter aus dem Vorstande und aus der Gruppe der Repräsentanten gewählt werden, deren Aufgabe darin bestand, die Ehrenfunktionen beim Gottesdienst (wie z.B. Lesung der Thoraabschnitte, Gebete und Segnungen) unter den Gemeindemitgliedern nach einer bestimmten Reihenfolge zu verteilen. Die Synagoge wurde traditionellerweise insofern als Miniaturtempel angesehen, als die Reihenfolge des Aufrufs zur Thoralesung von dem Kriterium abhing, ob das betreffende Gemeindemitglied dem Stamm der Kohanim (der Priester) oder dem der Lewiim (der Priestergehilfen) angehörte oder ob es zu den gewöhnlichen Mitgliedern zu zählen war. Eine Kopie des Anhangs zur Synagogenordnung, die von den Vorstandsmitgliedern J. Löwenstein und L. Neustädter am 29.4.1860 beglaubigt wurde, bestimmte, dass die Gemeindemitglieder H. Cahen, B. Cahen, W. Cahen und der Lehrer Wolf Katzenstein zu den Kohanim zu rechnen waren. Simon Ehrlich wurde als Levit angesehen, und W. Löwenstein, L. Neustädter, E. Schutz, D. Löwenstein, M. Rhee, A. Goldschmidt, J. Löwenstein, S. Heidelberg, H. Stein, S. Goldschmidt, N. Goldschmidt, A. Rhee, Georg Levi, M. Neustädter gehörten zu den gewöhnlichen Israeliten.
1616 Die Thoralesung findet in Gegenwart von mindestens zehn Männern statt, die Bar Mitzwa sein müssen. Am Sabbatmorgengottesdienst sind sieben Gemeindemitglieder aktiv an der Thoralesung 27 Brocke, Michael (Hg.): Feuer an Dein Heiligtum gelegt. Bochum 1999, Artikel: Preußisch-Oldendorf, S. 437; vgl. Pracht, Elfi: Jüdisches Kulturerbe in NRW, Teil III (1998), S. 416f
1617 28 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 303
1618 162
1619 beteiligt.29 Der erste Teil der Lesung geht also an die Nachkommen der Priester, der zweite Teil an die der Leviten und der dritte Teil an die gewöhnlichen Israeliten. Den jeweils aufgerufenen Personen wurde von dem Aufrufenden (hebr. Segan) eine Karte (Billet) überreicht. Ausnahmen ließ die Synagogenordnung nur am ersten Neujahrstag, am Versöhnungsfest, am achten Tag des Laubhüttenfestes, am letzten Tag des Pessach und am zweiten Tag des Wochenfestes zu, da an diesen Festtagen „die ältesten Mitglieder der Gemeinde das Vorrecht zum Aufrufen zur Thora" hatten. Ausnahmen bei der idealtypischen Reihenfolge der zur Thora Aufzurufenen ließ das Synagogenreglement auch bei Neuverlobten, Neuverheirateten, bei Vätern neugeborener Kinder, bei Vätern am Tage der Namensgebung ihrer Kinder, bei dem Beschneider (hebr. Mohel) und Gevatter am Tage der Beschneidung (hebr. Berit Mila) eines Kindes, bei Konfirmanden und ihren Vätern, bei Trauernden und Jahrzeithabenden vor. Da die Thora von einem erhöhten Ort, nämlich der Bima oder dem Almemor (arab. al-minbar) verlesen wurde, sprach man davon, dass der Aufgerufene zur Thora hinaufgeht (hebr. Alija [Singular]; Aljot [Plural? = dt. Aufstieg[e]).
1620 Für das Verlesen eines Segensspruches durch den Vorbeter musste das aufgerufene Mitglied mindestens sechs Pfennige bezahlen (§ 7). Freiwillige Spenden der Aufgerufenen sollten in Form von Marken, deren Wert 2 Silbergroschen, 1 Silbergroschen oder 6 Pfennigen entsprach, in einem Kasten verwahrt werden. Dieser Kasten wurde vierteljährlich geöffnet, die Marken vom Vorstande gezählt und der Rendant der Gemeinde mit der Hebung der Gelder beauftragt. Die Spendenzahlungen bei der Verlesung der Thora und dem Aussprechen von Segensspüchen und Gebeten diente also zur Verbesserung des Gemeindeetats.
1621 Nach § 8 wurden auch am letzten Tag des Laubhüttenfestes (hebr. Simchat Thora) Ehrenrechte im Gottesdienst der Synagogengemeinde Preußisch Oldendorf verkauft, da dieses Brauch geworden war.
1622 Die Sitzordnung in der Synagoge wurde nach § 9 und § 12 so geregelt, dass ein Gemeindemitglied, das keinen „eigenthümlichen" Sitz hatte, keinen anderen Sitz einnehmen durfte als denjenigen, der ihm von dem Vorstand zugewiesen worden war. Ausgenommen von dieser Regelung waren nur die Trauernden. Mit dieser Regelung beabsichtigte man, Streitigkeiten wegen des Stettegeldes zu vermeiden. Alle Plätze in der Synagoge waren nummeriert.
1623 Nach § 10 musste jeder männliche Synagogenbesucher am achten Tag des Pessachfestes, am zweiten Tag des Wochenfestes (hebr. Schavuot), am achten Tag des Laubhüttenfestes (hebr. Schemini Azeret) „für den an diesen Tagen zu vertheilenden Segensspruch" sechs Pfennige in Form von Marken zahlen. Von den Eltern wurde erwartet, dass sie für ihre männlichen Kinder diesen Beitrag entrichteten.
1624 Fremde Juden, die keine Mitglieder der Synagogengemeinde von Preußisch Oldendorf waren, durften am Gottesdienst teilnehmen, wenn sie jährlich einen Taler zur Gemeindekasse beitrugen (§ 11).
1625 29 Vgl. Schoeps, Julius H. (Hg.): Neues Lexikon, Artikel: „Parascha oder auch Sidra“, S. 355
1626 163
1627 Derjenige, der die Synagoge verließ und dadurch die Mindestzahl von zehn anwesenden konfirmierten Männern störte, wurde mit einer Geldstrafe belegt (§ 13).
1628 Neben gottesdienstlichen Verhaltensweisen regelte die Synagogenordnung auch die Kleiderordnung der Gottesdienstbesucher (§ 15), von denen ab dem 18ten Lebensjahr erwartet wurde, beim Morgengottesdienst mit einem schwarzen Hut und nicht mit einer Mütze zu erscheinen. Die Höhe der Gebühren für die Bestattung von Juden, die nicht zur Synagogengemeinde von Preußisch Oldendorf gehörten, nämlich vier Taler für eine Erwachsenenleiche und zwei Taler für eine Kinderleiche, setzte § 14 fest. Nach § 16 waren alle Gemeindemitglieder verpflichtet, sich für die Wache bei sterbenden und toten Gemeindemitgliedern zur Verfügung zu stellen. Allerdings war es möglich, sich für diese Aufgabe vertreten zu lassen. Offensichtlich gab es um 1860 in Preußisch Oldendorf keine separate Bestattungsgesellschaft (hebr. Chewra Kaddischa), sondern ihre als heilig angesehen Handlungen wurden von den Mitgliedern der ganzen Gemeinde (hebr. Kehilla) ausgeübt. Die Judenschaft von Preußisch Oldendorf besaß seit 1740 einen eigenen Friedhof außerhalb des Ortes an der Bergstraße, der in den Jahren 1821 und 1889 durch Zukauf von Grundstücken erweitert wurde.30 Als die jüdische Gemeinde von Preußisch Oldendorf im Juni 1890 aufgefordert wurde, dem geplanten Verband der Synagogengemeinden Westfalens beizutreten, wurde dem Bielefelder Vorstand die Antwort gegeben, dass dieser Schritt für die Gemeinde Oldendorf kaum gangbar sei, weil seit Jahren (1883) kein Lehrer und Kultusbeamter mehr angestellt worden sei und der Gottesdienst aufgrund der zu kleinen Zahl der Teilnehmer - außer an den hohen Festtagen - ausfallen müsse.31
1629 Die Gottesdienste in der jüdischen Gemeinde von Rahden wurden in einem für jährlich 10 rthl gemieteten Zimmer im zweiten Stockwerk eines Anbaus, das dem Landwirt Bremer in der Steinstraße gehörte, bis zum Brand vom 8.7.1850 abgehalten. Vor Einweihung der neuen Synagoge der jüdischen Gemeinde von Rahden am Freitag, dem 10. September 1852 (5612), feierte die Gemeinde ihren Gottesdienst vermutlich in einem Zimmer des Viehhändlers Goldschmidt im Haus Nr. 64 in der Steinstraße. Hier sollen die jüdischen Kinder auch ihren Religionsunterricht erhalten haben.32 Eine erste Synagogenordnung vom 7.5.1835 versuchte, gemeinschaftliche Ordnungsvorstellungen mittels Geldstrafen für karitative Zwecke durchzusetzen. Sie umfasste zunächst sieben Punkte:
1630 30 Vgl. CJA, Archiv 1, 75 A Pr 3 Nr. 1; CAHJP, Pr. Oldendorf S/319/2. Die Genehmigungsurkunde zur Anlegung eines jüdischen Friedhofes für die Preußisch Oldendorfer Juden datiert vom 4. Oktober 1740. Zuvor beerdigten die Oldendorfer Juden ihre Toten auf dem alten Friedhof von Lübbecke, Auf der Masch, in einem Feuchtgebiet an der Feldmark. Die 14 Taler, die die Oldendorfer Juden für ihren neuen Friedhof zahlen wollten, sollten zur Reparatur des Küsterhauses Verwendung finden. Der älteste Grabstein für drei Geschwister stammt aus dem Jahr 1742. Vgl. Hans-Joachim Karrasch: Der jüdische Friedhof Preußisch Oldendorf. Broschüre. Espelkamp 2000, S. 10, 13-15, 23, 35. 31 Vgl. CJA, Archiv 1, 75 A, Pr 3 Nr. 2
1631 32 Vgl. Pracht, Elfi: Jüdisches Kulturerbe in NRW, Teil III (1998), S. 419; Ester-Hartke, Ursula: Sie lebten mitten unter uns. Spurensuche Juden in Rahden. Ein Projekt der Geschichtswerkstatt der Hauptschule Rahden. Rahden 1997, S. 16
1632 164
1633 Tabelle 53: Die Synagogenordnung der jüdischen Gemeinde Rahden vom 7.5.1835
1634 "1. Wer plaudert bezahlt eine Geldgabe in der Armen Casse von 5 Sgr
1635 2. Wer von einer Stelle zur andren sich begiebt 2 [Sgr] 6d
1636 3. Wenn sich merere auf einer Stelle versammeln jeder 2 [Sgr] 6[d]
1637 4. Wer sich entfernt weil [sic] die Thora vorgelesen wird 5 [Sgr]
1638 5. Die ihre Geböte [sic] so hoch verrichten das man den vohr böhter
1639 nicht hören kann wird verhältnismaßig in einer Geldgabe verrechnet.
1640 6. Haben die Eltern für Ruhe ihrer Kinder zu sorgen oder die auf Ihnen
1641 zugerechnete Geldgabe von die Eltern gevordert und bezahlen müssen
1642 7. ist von semtlicher gemeinde solches alle dem vohr steher überlassen und hat hier über zu ordnen."
1643 Quelle: StdtA Rahden, A 415
1644 Punkt 6 wurde in einem Nachtrag insofern geändert, als es dem Vorsteher der Gemeinde überlassen sein sollte, störende Kinder von dem Gottesdienst auszuschließen oder von den Eltern wegbringen zu lassen. Diese erste Synagogenordnung wurde von den Gemeindemitgliedern Ruben Hahn, Goldberg, B. Frank, J. Goldschmidt, Wolf Rosenberg und dem Vorsteher S. Goldschmidt unterschrieben.33
1645 Nachdem am 17. Oktober 1851 (21. Tishrei 5612) der Grundstein zu einer neuen Synagoge aus Backstein an der Langen Straße gelegt worden war, wurde sie ein Jahr später, am 10. September 1852 (26. Elul 5612), vier Tage vor Rosh Hashana 5613, mit einem festlichen Gottesdienst eingeweiht. Zwar hatte Landrat Freiherr Adolf von der Horst sein Fernbleiben von der Zeremonie wegen einer Erkältung beim stellvertretenden Amtmann Otto Ahlemann am 9. September schriftlich entschuldigt, doch soll Pastor Hartog bei der Einweihungsfeier gesprochen haben, was ihm vom Superintendenten einen „scharfen Verweis" eintrug und er später „vom Konsistorium von seinem Posten suspendiert" wurde.34
1646 Nach dem erhaltenen Festprogramm sollte die Feier um 14.30 Uhr nachmittags beginnen. Die Thorarollen wurden zunächst - ähnlich wie bei der Einweihung der umgebauten Synagoge von Lübbecke drei Jahre später – „im feierlichen Zuge mit Musikbegleitung" von dem alten Bethaus abgeholt und zur neuen Synagoge gebracht. Die Gebrüder Hochfeld und Carsoh aus Minden hatten die landrätliche Erlaubnis erhalten, bei der sakralen Einweihungsfeier und der profanen, nächtlichen Nachfeier im Pettenpohlschen Gasthaussaal Musik zu machen. Sie hatten zwar keinen Gewerbeschein beantragt, erhielten aber dennoch die Erlaubnis, Musik zu machen, da sie sich bereit erklärt hatten, unentgeltlich zu spielen.
1647 Nachdem der feierliche Zug mit den Thorarollen vor der Synagoge angekommen war, wurde der Choral „Wie lieblich seid Herr Zebaoth" (Vers 1 und 2) angestimmt. Danach überreichte der amtierende Geistliche Levy Leffmann (aus Sendenhorst/Kreis Beckum) dem Stellvertreter des 33 Vgl. StdtA Rahden, A 415
1648 34 Vgl. ebd.; Pracht (1998), S. 420; Ester-Hartke (1997), S. 17
1649 165
1650 Landrates, also vermutlich Otto Ahlemann, den Schlüssel. Die Thoraträger traten nun vor die Heilige Lade, worauf der Choral „Ma tau wu..." (dt. „Wie schön sind deine Zelte, oh Jacob...“) gesungen wurde. Danach sang der Geistliche einen Segensspruch, worauf der Chor mit „Amen" antwortete. Während der Prediger die Heilige Lade öffnete, sang ein Trio „Waihi binzoa..." (dt. „Trete hervor, oh Gott! Mögen Deine Feinde zerstreut werden, und Deine Feinde fliehen vor Dir!“) Zum Verständnis dieser Zeremonie schrieb Walter Hoffmann: „Diese beiden Lieder werden immer gesungen, wenn der Aron Hakodesch geöffnet und die Tora zur wöchentlichen Vorlesung am Schabbat herausgenommen wird.“ Die Bundeslade blieb solange geöffnet, bis der Chor „Seu scheorim..." (dt. „Dies sind unsere Pforten...“) gesungen hatte. Vor der Predigt wurde „O! Gebet Gott die Ehre" intoniert. Vor und nach dem Gebet wurden Verse des Chorals „Herr, nur Dir allein" und zum Schluss die Festhymne „Heilig, heilig, Gott der Welten" gesungen. Danach folgte der gewöhnliche Sabbatgottesdienst.35
1651 Anschließend wurde im Pettenpohlschen Saale die Feier zur Einweihung der Synagoge, vermutlich unter reger Teilnahme der nichtjüdischen Bevölkerung, fortgesetzt. Gegen eine Gebühr von 2 Talern erteilte der stellvertretende Amtmann Ahlemann die Erlaubnis, am 10. September bis 1 Uhr morgens und am 11. September bis Mitternacht zu feiern, während ein Gendarm und ein Polizeidiener abgestellt wurden, um „Ruhe und Ordnung" aufrecht zu erhalten.36
1652 Der Inhalt der Synagogenordnung für die Synagogengemeinde Rahden vom 17. Juli 1857 war derjenigen der Synagogengemeinde von Preußisch Oldendorf ähnlich. Die Synagogenordnung, die den gottesdienstlichen Kultus in der neuen Synagoge von Rahden regelte, wurde von den Vorstehern Goldschmidt, S. Goldstein und J. Ginsberg und den Stellvertretern Hammerschlag und Simon Goldstein sowie von den Repräsentanten I. Frank als Vorsteher und F. Goldberg, S. Frank, G. Haas, Th. Haas, A. David, Rosenbaum und L. Hammerschlag unterschrieben. Das Handzeichen (XXX) des Gemeindemitglieds Meyer David attestierte der amtierende Lehrer und Kantor Wolf Blumenreich. Offensichtlich wollte oder konnte Meyer David weder hebräisch noch deutsch unterschreiben. Im Unterschied zu den neuen Synagogen in Lübbecke und Preußisch Oldendorf gab es in der neuen Synagoge von Rahden eine Frauenempore, denn nach § 4 der Synagogenordnung sollten die Türen der Synagoge und der Priechen während der Thoralesung geschlossen bleiben.37 Der Begriff „Prieche" ist ein „norddeutscher Ausdruck für einen emporenartigen hölzernen Einbau in der Kirche".38 Die Synagoge zu Rahden hatte 72 Sitzplätze auf den seitlich angebrachten Bänken, auf denen später Frauen und Männer gemischt gesessen haben sollen.39 Die Sitzordnung in der Synagoge in Rahden hatte sich also im Laufe der Zeit insofern liberalisiert, als das separate Sitzen von Männern und Frauen während des
1653 35 Vgl. StdtA Rahden, A 415; briefliche Mitteilungen von Walter Hoffmann an Verfasser 36 Vgl. ebd.
1654 37 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 303
1655 38 Vgl. Pawlik, Johannes; Straßner, Ernst; Straßner, Fritz: Bildende Kunst. Begriffe und Reallexikon. Köln 1982, 7. Aufl., S. 299
1656 39 Vgl. Ester-Hartke, Spurensuche (1997), S. 17
1657 166
1658 Gottesdienstes irgendwann aufgegeben wurde. Die Frauen durften ihre Plätze auf der Empore verlassen und bei ihren Männern Platz nehmen.
1659 Die Sitzordnung der Männer in der neuen Synagoge entsprach ihrem Alter, Status und Vermögen. Denn nach § 12 der Synagogenordnung vom 17. Juli 1857 erhielten die ältesten stimmberechtigten Männer zu Beginn jedes Jahres die besten Plätze, die sich am nächsten vor der Heiligen Lade an der Ostwand befanden. Die zweitbesten Plätze wurden denjenigen Männern zugewiesen, die nach dem 31. März 1850 stimmberechtigtes Mitglied der Synagogengemeinde von Rahden geworden waren. Die drittbesten Plätze erhielten die nicht stimmberechtigten Gemeindemitglieder in der Reihenfolge ihres Alters. Die hinteren Plätze wurden den Zahlungsunfähigen und Unterstützungsbedürftigen vom Vorstand angewiesen.
1660 Die Tatsache, dass sich die jüdische Gemeinde von Levern als letzte von allen Synagogengemeinden im Kreis Lübbecke dazu entschied, eine eigene neue Synagoge in Verbindung mit einer Lehrerwohnung und einem Schulzimmer im Jahre 1873 erbauen zu lassen, erklärt Hillebrand mit dem langsamen jüdischen Bevölkerungsanstieg der Gemeinde, der seinen Höhepunkt erst im Jahre 1880 mit neun Familien und sechzig Personen oder 5% der allgemeinen Einwohnerschaft des Ortes erreichte.40 Zuvor hatte die Gemeinde Betlokale angemietet, so im Jahre 1847 im Wohnhaus des Schuhmachers Heuer, später vermutlich in einem der Häuser Löwensteins.41 Die Kosten für die neue Synagoge sollten nach einem Voranschlag des Zimmermeisters Funke vom 15. Januar 1873 2.714 Taler betragen.42 Funke erläuterte das geplante Kultgebäude wie folgt:
1661 „Die nachstehend veranlagte neue Sinnagoge der Israelitischen Gemeinde zu Levern soll nach beifolgenden Bauplan eine Länge von 48 [Fuß] = 15 Meter und eine Breite von 21 [Fuß] = 6,67 Meter und 17½ [Fuß] = 5,47 m in Lichten hoch, theils massiv, theils von Fachwerk mit Ziegelsteinen u Kalkmörtel ausgeführt werden.
1662 Die Sinnagoge ist so gemessen, das [sie] mit der darin angebrachte[n] Gallerie für cirka 40 Personen Raum gewährt. Die sonstige Einrichtung des Bauplans ist zur Lehrerwohnung und über derselben das Schulzimmer angebracht worden. Die Bedachung ist mit Pfannen in Kalk verlegt. [...]"43
1663 Die Grundsteinlegung der neuen Synagoge soll am Mittwoch, dem 16.4.1873 (19. Nisan 5633) stattgefunden haben.44 Die Synagoge, Haus Nr. 98, befand sich an der höchsten Stelle der Dorfstraße in der Nähe der evangelischen Kirche, ohne allerdings die Nachbarhäuser zu überragen.45 Die staatskonforme, konservative Gesinnung der Synagogengemeinde von Levern verdeutlichte ein Schild über dem Eingang der Synagoge mit der Aufschrift: „Gott schütze unseren geliebten König und Kaiser Wilhelm I." Die Inneneinrichtung der neuen Synagoge verband traditionelle Elemente wie Thoraschrein, Gewölbe und Frauenempore mit liberalen oder kirchenähnlichen Elementen wie Sitzbänke und ein Harmonium. Im Jahre 1843 wurde auf eine
1664 40 Vgl. Hillebrand (1996), S. 56
1665 41 Vgl. ebd., S. 57, Fußnote 304
1666 42 Vgl. CJA, Archiv 1, 75 A Le 2, Nr. 1
1667 43 CJA, Archiv 1, 75 A Le 2, Nr. 1
1668 44 Vgl. Hillebrand (1996), S. 56
1669 45 Vgl. Hillebrand, Stefanie: Jüdische Geschichte in Levern 1800-1938. M.A. Osnabrück 1992, S. 63f
1670 167
1671 offizielle Anfrage der Behörden, ob es unterschiedliche religiöse Parteien in der Gemeinde gebe, geantwortet, dass alle Juden ‚altgläubige‘ seien.46 Die Leverner Juden waren insofern reformorientiert, als sie ihren Gottesdienst seit 1887 mit Harmoniummusik begleiteten und deutsche Gesänge, auch im Chor, sangen. Sie bewahrten aber auch traditionelle Elemente des Judentums hinsichtlich der rituellen Gestaltung ihrer Gottesdienste und - in reduzierter Form - im Haushalt hinsichtlich der Beachtung der Speisegesetze.47
1672 4.4 Synagogen und Gottesdienste im Kreis Halle i.W.
1673 Am 1. Dezember 1842 berichtete der Uhrmacher Feidel Stern dem Haller Bürgermeister Sprenger, dass er schon seit mehreren Jahren ein Betlokal bei dem Metzger Landwehr (Lange Straße 39) für die jüdische Gemeinde von Halle i.W. gemietet habe. Da aber ein schriftlicher Vertrag zwischen ihm und den Benutzern des Betlokals fehle, einige Interessenten sich zudem weigerten, überhaupt etwas zur Miete der Synagoge beizutragen, forderte Feidel Stern den Bürgermeister auf, die jüdischen Interessenten Philipp Stern, David Rosenbaum, Selig Weinberg, Jakob Sternberg und Bendix Goldschmidt aus Halle i.W., Nachmann Bergfeld und Salomon Wissbrunn aus Brockhagen, Levy Kirschbaum aus Hörste und Moses Wissbrunn und Meier Rose aus Steinhagen vorzuladen, um von ihnen eine definitive Erklärung zu verlangen, ob sie das gemietete Betlokal in Halle i.W. benutzen wollten und bereit seien, zur Miete beizutragen.1
1674 Am 26. Dezember 1842 erschienen acht jüdische Interessenten vor dem Bürgermeister in Halle i.W. und erklärten sich alle bis auf einen bereit, die Miete für ihre Synagogenplätze in Zukunft zu zahlen, vorausgesetzt, dass ihre Beiträge proportional zu ihren individuellen Vermögensverhältnissen erhoben würden.
1675 Bendix Goldschmidt aus Halle i.W. war nicht bereit, einen Platz für 1 Taler zu mieten, der ihm von Feidel Stern angeboten worden war, sondern nur einen für 18 Silbergroschen. Levy Kirschbaum aus Hörste äußerte sich dahingehend, dass er zahlungswillig sei, wenn alle Gemeindemitglieder ihren Beitrag leisteten, doch nur unter der Voraussetzung, dass die Synagoge immer geöffnet bleibe.
1676 Jakob Sternberg war auch zur Zahlung eines seinen Vermögensverhältnissen entsprechenden Betrags bereit, doch forderte auch er, „die seit einem halben Jahr verschlossene Synagoge zu eröffnen". Die zu Protokoll genommen Antworten von Selig Weinberg aus Halle i.W. und Salomon Wissbrunn aus Brockhagen hatten den gleichen Inhalt. Moses Wissbrunn aus Steinhagen erklärte, dass er seinen Beitrag immer entrichtet habe.
1677 Der Buchbinder David Rosenbaum aus Halle i.W. wollte sowohl seine rückständigen als auch seine zukünftigen Beiträge zahlen. Da auch er wie alle anderen vorgeladenen Gemeindemitglieder seine persönliche Erklärung an einem Sabbat zu Protokoll geben musste, weigerte er sich, seine 46 Vgl. Hillebrand (1996), S. 58
1678 47 Vgl. ebd., S. 59; vgl. dieselbe (1992), S. 67; Pracht (1998), S. 425f
1679 1 Vgl. StdtA Halle, A 611
1680 168
1681 Unterschrift zu leisten. Offensichtlich war David Rosenbaum sehr konservativ eingestellt, da nach orthodoxer Einstellung das Schreiben am Sabbat dem Schreibverbot unterliegt.
1682 Nur der Kaufmann Nachmann Bergfeld aus Brockhagen gab zu Protokoll, dass er die Synagoge in Halle i.W. nie besucht habe, sondern immer diejenigen in Gütersloh oder in Harsewinkel. Aus diesem Grund brauche er auch nicht zur Miete der Synagoge in Halle i.W. beizutragen. Am 11.10.1847, als die Juden im Amte Halle i.W. aufgrund des Gesetzes vom 23.7.1847 erneut von dem Bürgermeister Sprenger vorgeladen wurden, um sich zur Bildung einer Synagogengemeinde zu äußern, erklärte Kaufmann Nachmann Bergfeld aus Brockhagen, dass er künftig die Synagoge in Bielefeld besuchen wolle.
1683 Am 1.7.1843 berichtete Bürgermeister Sprenger dem Landrat August zur Hellen:
1684 „In Halle hat die Judenschaft eine gemiethete Synagoge zum Gottesdienste und zwar ohne Wissen der Staatsbehörden, in welcher auch die gerichtlichen Eides-Abnahmen statt finden; es ist jedoch niemand gezwungen, sich zu dieser Synagoge zu halten. In der Regel wird sie von sämmtlichen in hiesigem Bezirk vorhandenen Juden besucht."2
1685 Da die Gemeinde keinen Lehrer angestellt hatte, fanden zu dieser Zeit nur unregelmäßig Gottesdienste statt. Die Kinder wurden „zur Konfirmation in die Nachbarstädte" geschickt. Predigten wurden im Gottesdienst nicht gehalten, und die deutsche Sprache wurde beim Gottesdienst nicht verwendet.
1686 Nachdem die jüdische Gemeinde von Halle i.W. Korporationsrechte erhalten hatte, mietete sie sich eine neue Synagoge an der Viehstraße 24, die am Sonnabend (Shabbat), den 14.5.1859 (10. Iyar 5619) eingeweiht wurde. Außer der gottesdienstlichen Einweihung sollen auch ein Konzert und ein Ball stattgefunden haben.3 Die massive, zweistöckige Synagoge war angeblich 10,5 Meter lang und 7 Meter breit, soll eine Sandsteinfassade und einen Fußboden aus Steinplatten gehabt haben und unterschied sich äußerlich nicht von einem Wohnhaus.4 Nach dem Gemeindeetat für das Jahr 1856/57, der sich auf 60 Taler belief, machten die Mietausgaben für die Synagoge 20 Taler aus.5
1687 Wie Bendix und Simson Aron Weinberg in einem Schreiben vom 19.5.1837 der Polizeibehörde versicherten, hatte die jüdische Gemeinde von Werther ihre Synagoge „schon über 50 Jahre im Besitz". Sie konnten zwar keinen schriftlichen Kaufvertrag vorlegen, waren aber in der Lage, ihren
1688 2 StdtA Halle, A 611. Zu den kleineren Einnahmequellen für die Synagogengemeinden Lübbecke und Halle i.W. dürften die Gebühren für die Ableistung von Thora-Eiden (Reinigungseide) und Mischna-Eiden (Erfüllungseide) in den Synagogen durch ortsfremde Juden gehört haben. Thora-Eide mussten vom Beklagten „zur Beseitigung eines begründeten Verdachts“, Mischna-Eide vom Kläger „zu dessen Entlastung bei Beweisschwierigkeiten“ geleistet werden. Siehe Schoeps (Hg.) (1992), Eintrag: „Eid“, S. 126f; vgl. Statut der Synagogengemeinde Lübbecke vom 10.3.1858, Abschnitt X, § 36, in: StdtA Lübbecke, C I 13.1
1689 3 Vgl. Heckert, Uwe: Vortrag „175 Jahre Juden in Halle i.W.“ vom 28.2.1996; Meise, Heinrich: Die Stadt Halle in Westfalen. Halle i.W. 1968, S. 77
1690 4 Vgl. Heckert, Vortrag, S. 5; Buck, Albert: Die Haller Juden, in: 100 Jahre Haller Kreisblatt. Unsere Heimat im Spiegel der Geschichte. Halle i.W. 1982, S. 55; Pracht (1998), S. 66. Die Synagoge von Halle i.W. wurde nach Pracht schon im Jahre 1903 aus Mangel an einem Minjan, d.h. zehn männlichen Betern, die Bar Mizwa sein müssen, geschlossen. 5 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 306
1691 169
1692 Besitzanspruch mittels Zeugenaussagen nachzuweisen.6 Die Synagoge befand sich auf der Stätte Nr. 21, für die der Viehhändler Salomon Marcus Grewe am 4.12.1820 1.350 Taler gezahlt hatte.7 Auf dieser Stätte befanden sich im Jahre 1820 ein Wohnhaus, ein Nebenhaus und eine Scheune. Möglicherweise war es dieses Nebenhaus, das schon seit längerer Zeit als Bet- und Versammlungshaus (hebr. Bet haTefilla, Bet haKnesset) für die jüdische Gemeinde von Werther diente. Das Haus Nr. 21 wurde 1838 vom Viehhändler Jesaias Greve erworben, ging im Jahre 1862 an den Handelsmann Moses Wallach aus Wiedenbrück, im Jahre 1864 an den Goldarbeiter Carl Nieshöhner und am 8.11.1872 an den Handelsmann Moses Alexander.
1693 Im Jahre 1839 entschied sich die jüdische Gemeinde von Werther, ihre Synagoge umbauen und von 432 [42,6 m²] auf 600 Quadratfüße [59,2 m²] vergrößern zu lassen. Der Umbau kostete 550 Taler. Der Grundriss der neuen Synagoge war nahezu quadratisch. Es gab eine Empore für die Frauen der Gemeinde in ihrem Innern mit 18 Sitzplätzen. Die Zahl der Sitze mit Pulten für die Männer betrug 44. Die Baukosten wurden zumindest teilweise von den Erben des Aron Bendix Levischen und Abraham Meyersonschen Legats bestritten, deren Gelder für einen Synagogenneubau bestimmt waren, denn nach dem Etat für die Periode 1856/61 schuldete die gesamte Synagogengemeinde Bendix Meyerson und Aron Bendix Weinberg je zur Hälfte Zinsen in Höhe von 19 Talern 23 Silbergroschen und 3 Pfennigen für einen gemeinsamen Kapitalvorschuss von 395 Talern 15 Sgr, der am 12.2.1849 gegeben worden war.8 Der christliche Obrigkeitsstaat, vertreten durch die Bezirksregierung, genehmigte zwar den Umbau, mahnte aber architektonische Bescheidenheit an:
1694 „Auf dem Grund der anliegend zurückerfolgenden Verhandlungen, wollen wir zwar den Neubau der Synagoge der Juden-Gemeinde zu Werther in der von der Gemeinde beschlossenen Art genehmigen, bedingen jedoch ausdrücklich hierbei, daß das neue Gebäude auf der nämlichen Stelle, worauf die abzubrechende alte Synagoge gestanden, wieder aufgerichtet, auch äußerlich nicht durch Inschriften oder auf sonstige Art als Synagoge bezeichnet werde. Zugleich setzen wir voraus, daß die Communal-Behörde nichts gegen die Anlage zu erinnern hat und daß solche nicht in zu großer Nähe der christlichen Kirche liegt, um die Störung des Gottesdienstes in letzterer befürchten zu müssen.
1695 Was nun die in Ihrem Bericht vom 16t Juny c. erwähnte zweckmäßigere Verbindung des Bethauses mit einem Schulzimmer betrifft, so kann von der Verwaltungsbehörde hierauf um so weniger eingewirkt werden, als bei Ueberreichung des Bauplatzes durch den H. S. Greve die Errichtung eines Schul-Unterrichts-Lokals auf demselben nach § 3 des Contracts vom 28. März c. ausdrücklich ausgeschlossen ist. Es kann daher in dieser Beziehung die jüdische Gemeinde nur auf ihr eigenes Interesse und auf die mit der Anlage eines Schulzimmers verbundenen Ersparnis der bisherigen Miethe aufmerksam gemacht werden. In derselben Art überlassen wir Ihnen, der Gemeinde die nach Ihrer Ansicht zu beschränkende Größe des Gebäudes und die damit verbundene Kostenersparnis bemerklich zu machen."9
1696 Tatsächlich verzichtete die Synagogengemeinde darauf, die neue Synagoge mit einem Schullokal zu verbinden, sondern ließ ihre Kinder wie zuvor in gemieteten Räumen unterrichten. Als die Synagogengemeinde von Werther, vertreten durch ihre Vorsteher Bendix und Joseph Meierson, dem Amtmann Riensch am Donnerstag, den 10. September 1840 eine schriftliche Einladung zukommen ließ, an dem feierlichen Einweihungsfest am Freitag und Sonnabend, den 11./12. September 1840 (13./14. Elul 5600) teilzunehmen und einen Gendarm „beauftragen zu 6 Vgl. StdtA Werther, A 74
1697 7 Ich danke Dipl. Ing. Ulrich Maaß, Werther, für seine freundliche Erlaubnis, seine Forschungen zur Geschichte des jüdischen Haus- und Grundbesitzes in Werther i.W. einsehen und zitieren zu dürfen. 8 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 306; StdtA Werther, A 72; Pracht (1998), S. 84 9 KAGT, H 2 H LR1 169.1 (A 116)
1698 170
1699 wollen, zur Vermeidung etwaiger Störung der Ruhe und Ordnung, gegenwärtig zu sein", war der Bürgermeister unsicher, wie er sich verhalten sollte, obwohl es so einfach gewesen wäre, die Einladung anzunehmen. Nachdem Riensch beim Landrat zur Hellen Rücksprache wegen dieser Angelegenheit gehalten hatte, wurde ihm geraten, sich an die „Ministerialbestimmungen in den von Kamptzschen Annalen der Preußischen inneren Staatsverwaltung" zu halten. Aus seiner Antwort vom 11. September ging jedenfalls hervor, dass er die Einladung der jüdischen Gemeinde ausschlug, außerdem nicht bereit war, für Polizeischutz sorgen und darüber hinaus das Verbot aussprach, zu der neuen Synagoge Fahnen zu tragen und Musik zu machen.10
1700 Kurz vor den Doppelfeierlichkeiten aus Anlass des Geburtstages und der Inthronisierung des neuen Monarchen Friedrich Wilhelm IV., die bei Tagesanbruch des 15. Oktober 1840 in Werther wie in den anderen kleinen Orten des Kreises Halle i.W. „mit lebhaftem Kanonendonner" begannen und daraufhin morgens in allen Kirchen und Synagogen Gottesdienste stattfanden, war die Einweihung der neuen, kleinen Synagoge in Werther i.W. im Unterschied zu den Einweihungsfeiern der neuen Synagogen in Bielefeld (1847), Rahden (1852), Lübbecke (1855) und Versmold (1900) ohne Beteiligung der Ortsbehörden, ohne Ortspolizisten und vermutlich auch ohne einen öffentlichen Umzug abgelaufen. Die Hoffnungen der Juden, unter der neuen Regentschaft die bürgerliche Gleichstellung zu erlangen, entpuppten sich bald als illusorisch, nicht zuletzt, weil der konvertierte Jude Friedrich Julius Stahl (1802-1861) mit seinen Schriften die herrschende Staatsideologie des evangelisch-lutherischen, absolutistischen Obrigkeitsstaates rechtfertigte und die Begründungen dafür lieferte, die Juden in Preußen als zweitrangige Bürger zu behandeln und die jüdische Religion „auf einen dauernden und absolut minderwertigen Platz zu verweisen."11
1701 Über die Form und den Ablauf der Gottesdienste in der Synagoge zu Werther erfahren wir etwas Negatives aus einem Beschwerdebrief vom 3.12.1821 des für die kultischen Belange der jüdischen Gemeinden im Kreis Halle i.W. zuständigen Oberrabbiners Moses Liebmann Friedheim (18.6.1757-9.4.1826), der in Bielefeld residierte:
1702 „Seit der von Königl. Hochlöbl. Regierung unterm 12ten Novbr. 1817 ergangenen gnädigen Verfügung zur Abhülfe der zur selben Zeit bey Hochdenenselben eingelaufenen Beschwerden, wegen der damals an einigen Orten entstandenen Unruhen in den Synagogen während des Gottesdienstes, habe ich Ursache mit den sämptlichen Israelitischen Gemeinden meines Rabbiner Bezirks in dieser Hinsicht zufrieden zu seyn, nur die Israelitische Gemeinde zu Werther macht hierin eine Ausnahme, woselbst seit geraumer Zeit trotz aller meiner bereits deshalb gethanen schriftlichen und mündlichen Verwarnungen die häufigen Unruhen in deren Synagoge während des Gottesdienstes kein Ende nehmen wollen, so sind erst den 24ten des verflossenen Monats bedeutende Unruhen in der Synagoge daselbst fast bis zum Schlagen wegen einiger Synagogen Stände vorgefallen. Ich halte mich deshalb gemüsigt, Einer Königlich Hochwohllöblichen Regierung unterthänigst zu bitten, zur Abhülfe dieser religionswidrigen Handlung an dieser Gemeinde nicht nur einen derben Verweis für das Verflossene gnädigst ergehen zu lassen, sondern auch für denjenigen der inskünftige als Urheber sich ein solches Vergehen zu schulden kommen läßt, mit einer bedeutenden Geld Strafe zu belegen, oder wenn auch dieses durch Verschweigung wie bisher nicht hinlangen sollte, Hochdieselben zur Strafe der sämptlichen Gemeinde die Verschließung deren Synagoge auf vier Wochen gnädigst zu verordnen prüfen möchten. Mit aller Verehrung erharre ich. [gez.] Rabbiner Friedheim"12
1703 10 Vgl. StdtA Werther, A 72
1704 11 Vgl. Wolf, Karl: Freud und Leid im Kreise Halle i.W. 1800-1905. Halle i.W. 1905, S. 34; Katz, Jacob: From Prejudice to Destruction: Anti-Semitism, 1770-1933. Cambridge/Mass. 1980, S. 195-202; Brenner, Michael; Jersch-Wenzel, Stefi; Meyer, Michael A.: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. Emanzipation und Akkulturation 1780-1871. München 1996, S. 191-193
1705 12 StADt, M 1 I L Nr. 265
1706 171
1707 Infolge dieser Beschwerde sollte vermutlich das schwächste Glied der Gemeinde, der Handelsmann Moses Goldschmidt, drei Tage lang in Arrest genommen werden, da eine Geldstrafe wegen Armut nicht einzufordern war. Die Ursachen des Streits in der Synagoge lagen wahrscheinlich darin begründet, dass das ärmste Gemeindemitglied sich nicht mit einem der schlechtesten Plätze in der Synagoge, die am weitesten von der Heiligen Lade entfernt aufgestellt waren, zufriedengeben wollte. Die Konflikte, die Moses Goldschmidt durchlebte, waren psychologischer Natur. Nicht genug, dass er zu den ärmsten Gemeindemitgliedern gehörte; seiner Frömmigkeit und seinem Wunsch, innerhalb der Synagoge einen besseren Platz oder einen der Ehrenplätze vor der Heiligen Lade zugewiesen zu bekommen, kam der Vorstand nicht entgegen. Im Unterschied zur Synagogenordnung von Rahden wurden die Plätze in der Synagoge von Werther nach der Synagogenordnung vom 9.4.1854 nicht in erster Linie aufgrund der Kriterien Alter und Status zugewiesen, sondern die Männer- und Frauenplätze wurden alle drei Jahre meistbietend versteigert. Denjenigen Gemeindemitgliedern, die bei der Versteigerung nicht mithalten konnten, wurde zweifellos einer der billigeren, hinteren Plätze vom Vorstand zum Preis von einem Taler (später 20 Sgr) pro Jahr zugewiesen.13 Es ging bei dem Streit um Synagogenplätze nicht nur darum, wieviel Geld ein Gemeindemitglied zahlen konnte, um einen guten Platz zu bekommen, sondern auch um die Ehre, die jedes Gemeindemitglied glaubte, Gott schuldig zu sein. Landrat Friedrich von der Decken, der die Ursachen des Streits in der Synagoge möglicherweise nicht durchschaute, kommentierte die Eingabe des Oberrabbiners am 29.12.1821 mit einem Satz, der zeigte, dass er bei dem Philosophen Kant Halt suchte: „Vorstellungen und Ermahnungen fruchten bei diesem Völkchen wenig, allein der Cathegorische Imperativ thut gleich Wunder."14 Solange die Sitzordnung in der Synagoge von Werther ausschließlich die Vermögensverhältnisse der Gemeindemitglieder widerspiegelte und nicht auch Kriterien wie Alter und Bildung der Synagogenbesucher berücksichtigt wurden, war reinen polizeilichen Mitteln der Ortsbehörde wenig Erfolg beschieden, die synagogalen Konflikte zu schlichten. Die Bezirksregierung machte allerdings den Landrat am 9.1.1822 darauf aufmerksam, dass die Aufgabe des Bürgermeisters lediglich darin bestehe, die polizeiliche Ordnung aufrechtzuerhalten, nicht jedoch, sich in die Kultusangelegenheiten der jüdischen Gemeinde einzumischen.15
1708 Während die Bezirksregierung im Oktober 1837 ihre Zuständigkeit bei der Beaufsichtigung des Kultus und die Sanktionierung der Strafen der von der jüdischen Gemeinde von Werther durch den Bürgermeister und den Landrat eingesandten Statuten ablehnte, beschränkte sie sich nach dem Erlass des Gesetzes vom 23.7.1847 darauf, die Vorstandswahlen zu leiten und zu bestätigen, den Gemeindeetat zu beaufsichtigen und die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.16 Als die
1709 Synagogengemeinde Werther der Bezirksregierung in Minden neben dem am 5.6.1856 vom 13 Vgl. StdtA Werther, A 76
1710 14 StADt, M 1 I L Nr. 265
1711 15 Vgl. ebd. und § 51 des Gesetzes vom 23.7.1847
1712 16 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 265
1713 172
1714 Oberpräsidium genehmigten Statut auch ihre Synagogenordnung einreichte, nahm die Bezirksregierung von ihr lediglich Notiz, ohne dass sie einer Genehmigung bedurfte.17 Die Synagogenordnung vom 9.4.1856, die von den Vorstehern Aron Bendix Weinberg, Jesaias Greve und Simon Goldschmidt unterschrieben wurde, regelte das Verhalten und die Kleiderordnung der Gottesdienstbesucher, die Anfangszeiten der Gottesdienste am Sabbat, die Verteilung der Ehrenfunktionen und der Synagogenplätze.18
1715 Der Bürgermeister von Borgholzhausen, Christian Bloebaum, beantwortete am 23.5.1843 dem Landrat August zur Hellen in Halle i.W. einen detaillierten Fragekatalog der Bezirksregierung vom 7.4.1843 über das jüdische Kultus- und Schulwesen hinsichtlich der Synagoge in Borgholzhausen wie folgt:
1716 „Im Jahre 1822 ist von den hiesigen Israeliten mit einem Kosten-Aufwand von 1035 rthl 5 Sgr 3 d eine Synagoge [Im Klingenhagen Nr. 74] erbaut, jedoch ohne Lasten und Willen der Stadtverwaltung. Im Vorlokale derselben ist auch ein Schulzimmer angebracht, seiner Unzweckmäßigkeit wegen wird jedoch darin kein Unterricht erteilt, sondern dazu ein Lokal gemiethet. Zu der hiesigen Synagoge gehören keine fremden Ortschaften und wird solche nur von den frei wohnenden volljährigen und selbständigen Juden besucht und schließt sich von derselben keiner aus."19
1717 Seit dem Tode des Oberrabbiners Moses Liebmann Friedheim (1826) gab es keine höhere jüdische Aufsichtsinstanz mehr für die Gemeinde von Borgholzhausen. Der Lehrer Julius Eichwald (aus Herzfeld/Kreis Beckum) vereinigte in seiner Person die Funktionen als Religionslehrer, Kantor und Schullehrer. Eichwald hatte seine Abschlussprüfung am jüdischen Lehrerseminar der Marks-Haindorfschen Stiftung im Juli 1838 abgelegt und im August desselben Jahres sein Examen am evangelischen Lehrerseminar in Soest bestanden.20 Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde würden von nichtjüdischen Gerichten entschieden. In kultischer Hinsicht gebe es keine Spaltungen, da die Juden in Borgholzhausen nach Meinung des Bürgermeisters „fast sämmtlich auf einer hohen Bildungsstufe" stünden und „noch alle den Altgläubigen" angehörten. Im Gegensatz zu dieser Beschreibung charakterisierte Bloebaum den jüdischen Gottesdienst aber als durchaus reformorientiert, da die deutsche Sprache, die Predigt, Chorgesänge und die Konfirmation der Kinder Eingang gefunden hätten:
1718 „Die deutsche Sprache ist im Gottesdienste nichts Auffallendes mehr. Das Gebet und der Segen für König und Vaterland und für die Gemeinde, die sabbathlichen Vorlesungen der Propheten, geschehen in deutscher Sprache. Auch wird an den Freitagen gepredigt und ist die Confirmation der Kinder ganz dem jetzigen Zeitgeist gemäß und wird dies alles von der jüdischen Gemeinde gewünscht, so daß noch vieles zu bewirken wäre, ohne Spaltungen dadurch hervorzurufen. Auch viele Chor- und Choralgesänge haben Aufnahme gefunden, welches übrigens durchzuführen deshalb schwer bleibt, weil das laute Dazwischenrufen hemmend entgegen tritt. Im Übrigen ist in Bezug auf Nachahmen christlicher Riten nichts zu bemerken."21
1719 Spätestens nach der Jahrhundertwende war die Zahl der Juden in Borgholzhausen so klein geworden, dass nur an den hohen Festtagen zusammen mit der seit 1886 in Bad Rothenfelde wohnenden Familie des Schlachters Silberberg Gottesdienste abgehalten werden konnten, indem
1720 17 Vgl. StdtA Werther, A 76
1721 18 Vgl. StdtA Bielefeld, Handakte Ellerbrake
1722 19 StdtA Borgholzhausen, A 441
1723 20 Vgl. KAGT, H 2 H LR1 169.3
1724 21 StdtA Borgholzhausen, A 441
1725 173
1726 auswärtige Prediger engagiert wurden. So quittierten beispielsweise am 27.4.1905 Georg und Leopold Rosenthal, siebzehn Mark für ihre Synagogendienste am Pessachfeste von Samuel Hesse erhalten zu haben.22 Am selben Tag bestätigte Karl Rosenthal, möglicherweise ein Bruder von Hugo Rosenthal (ab 1939: Josef Yashuvi <1887-1980>)23 , „für Leitung der Gottesdienste am 7. u. 8. Ostertag einundzwanzig Mark u. 50 Pf" von Samuel Hesse erhalten zu haben. Für ihre Synagogendienste am Neujahrs- und Versöhnungstage erhielten Josef Isenberg und Georg Rosenthal am 9. Oktober 1905 in Borgholzhausen einunddreißig Mark und zwanzig Pfennige.24 Josef Isenberg, Karl, Georg, vermutlich auch Leopold Rosenthal waren alle Schüler des Lehrerseminars der Haindorf- Stiftung in Münster, dessen religiöse Ausrichtung liberal bis konservativ war. Josef Isenberg (geb. 6.5.1890 in Halle i.W., gef. 26.8.1914) fungierte als Lehrer in Levern von 1910-13, später fiel er als Soldat im Ersten Weltkrieg.25 Auch Georg Rosenthal gehörte zu den jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs.26 Karl Rosenthal, für den sein Kollege Max Lazarus am letzten Pessachtag 1915 den Festgottesdienst in Hörde bei Dortmund abhielt, weil er als Soldat diente, wurde später Reformrabbiner in Berlin.27 Auch in den folgenden Jahren hielten Prediger aus Münster und Detmold die Festtagsgottesdienste an den hohen Feiertagen in der Synagoge zu Borgholzhausen ab.
1727 Die Verfügung der Bezirksregierung vom 12.11.1817 an den Oberrabbiner Moses Liebmann Friedheim in Bielefeld bestätigte die disziplinarischen Aufsichtsbefugnisse, die das Israelitische Konsistorium unter Israel Jacobson den jüdischen Gemeindevorstehern schon im Jahre 1810 bekannt gegeben hatte. Den Gemeindevorstehern wurde nach der Verfügung vom 12.11.1817 das Recht zugestanden, Geldstrafen in Höhe von 8 guten Groschen bis zu einem Taler von denjenigen Gemeindemitgliedern zu erheben, die den Gottesdienst störten oder zu Gemeindeversammlungen nicht erschienen. Am Ende jedes Monats sollten die gesammelten Strafgelder dem Landrat übersandt werden, der dafür Sorge zu tragen hatte, die Hälfte der Gelder der Israelitischen Armenkasse zugute kommen zu lassen und berechtigt war, über die andere Hälfte nach den bestehenden Gesetzen zu verfügen.28
1728 Vermutlich durch diese Verordnung ermutigt, wandte sich Rabbiner Friedheim am 18. April 1822 mit folgendem Schreiben an den Bürgermeister Anton Daniel Delius in Versmold:
1729 „Es ist mir in Erfahrung gekommen, daß bey den Israeliten daselbst in der Synagoge während des Gottesdienst mehrere Unruhen vorzufallen pflegen; da nun diesem Unfug anders nicht als durch Anstellung eines Kirchen Vorsteher[s] in der Gemeinde abzuhelfen sey, so sehe ich mich genöthigt, Euer Wohlgeborn gehorsamst zu bitten, die Geneigtheit zu haben, die kleine Israelitische Gemeinde daselbst zu diesem Ende vorladen zu laßen, um einen Kirchen Vorsteher an zusetzen, welcher als dann vermöge einer Verordnung der Königlichen Hochlöblichen Regierung vom 12 Nov. 1817 ermächtigt ist, nach vorher gegangener Vermahnung die Ruhe in der
1730 22 Vgl. StdtA Borgholzhausen, B 62.4.1
1731 23 Vgl. Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung. Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825-1942). Paderborn 1997, S. 190f, Fußnote 73 24 Vgl. StdtA Borgholzhausen, B 62.4.1
1732 25 Vgl. Hillebrand (1996), S. 62; Freund (1997), S. 281, Fußnote 531; Lazarus, Erinnerungen, S. 176, 209 26 Vgl. Freund, S. 281, Fußnote 531
1733 27 Vgl. Lazarus, Erinnerungen, S, 172, 231
1734 28 Vgl. StdtA Versmold, A 246
1735 174
1736 Synagoge von 8 ggr bis zu einem rthl Strafe zu gebieten und glaube ich, das Binnes Heilbronn sich am besten dazu eignen [wird]. Mit aller Hochachtung erharre ich [gez.] Rabbiner Friedheim"29
1737 Daraufhin ließ Bürgermeister Delius am 26. April 1822 die Familienväter Samuel Aron Weinberg, Itzig Nathanson, Benjamin Sternberg und Bendix Heilbronn vorladen, um einen so genannten Kirchenvorsteher wählen zu lassen. Diese Wahl fiel auf Bendix Heilbronn. Der neue Synagogenvorsteher wurde auch gleich aktiv und beschwerte sich bei Rabbiner Friedheim darüber, dass zwei Gemeindemitglieder sich das Vorbeten in der Synagoge anmaßten. Am 5. September 1822 forderte Friedheim Bürgermeister Delius schriftlich auf, diese Streitsache mittels Strafandrohung zu schlichten:
1738 „Es ist unseren Religionsgesetzen zu wider, daß jemand sich eigenmächtig ohne Einwilligung der mehrsten Mitglieder der Gemeinde das Vorbeten in der Synagoge gewaltsamer Weise anmaßt, welches sich nach einer eingereichten Beschwerde des dortigen Israelitischen Kirchen Vorstehers Binnas Heilbrunn und Itzig Nathan im Namen der übrigen Mitglieder der Gemeinde der Samuel Aron Weinberg und sein Stiefsohn daselbst dermal zu schulden kommen lassen, das nun zu befürchten sey, daß durch diese religionswidrige Anmaßung an unsern gegenwärtig sich anmahnenden Neues Jahres Fest und des langen Fast und Bet-Tage so gar Unruhen und Störung des Gottesdienstes entstehen könnten und vorerwähnter Weinberg und sein Sohn gegen alle meine gütlichen Vermahnungen sich äußerst widerspenstig betragen, so sehe ich mich genöthigt, um vorerwähnten Unfug vorzubeugen, Einen Wohllöblichen Herrn Bürgermeister ganz ergebenst zu bitten, dem Weinberg und seinem Sohn alles ohne Einwilligung der mehreren Mitglieder der Gemeinde gewaltsame Vorbeten in der Synagoge bey einer angemeßenen Strafe gänzlich untersagen zu laßen geruhen möchten. Mit ergebenster Hochachtung erharre ich [gez.] Rabbiner Friedheim"30
1739 Als Bürgermeister Anton D. Delius am 13. September 1822 den Vorsteher Bendix Heilbrunn sowie Itzig Nathanson, Samuel Aron Weinberg, Benjamin Sternberg und Nathan Sternberg vorladen ließ, verlangten der Vorsteher und Itzig Nathanson, dass Samuel Aron Weinberg und sein Stiefsohn Levi zukünftig das Alenu-Gebet nicht mehr vorbeten sollten. Bei dem Alenu-(leshabbeach <dt. Es obliegt uns zu preisen>) handelt es sich um ein „hymnisches Gebet am Ende der drei Gebetszeiten des täglichen Gottesdienstes".31 Samuel Aron Weinberg sah die Kritik an seinem
1740 29 Ebd.
1741 30 StdtA Versmold, A 246
1742 31 Maier, Johann; Schäfer, Peter: Kleines Lexikon des Judentums. Stuttgart/Konstanz 1987, 2. Aufl., Eintrag: „‘Alenu leshabbeach“, S. 14. Jeffrey L. Seif gibt folgende Übersetzung und Strukturierung des jüdischen Aleynu-Gebetes in englischer Sprache in seinem Buch: The Evolution of a Revolution. Reflections on Ancient Christianity in its Judaistic, Hellenistic and Romanistic Expressions. Lanham 1994, S. 126f:
1743 „(1.) It is for us to praise the Lord of all things, to acclaim the author of all existence. (a.) He did not make us like the heathen of the earth; (b) He did not fashion us like the pagans of the world. (c.) Our portion is not like theirs, our lot is not like that of their multitudes. (2.) We bend the knee, bow down, and acclaim the supreme King of Kings, the Holy One, praised be He. (3.) It is He who stretched forth the heavens and laid the foundations of the earth. (a.) His glorious presence is in the heavens above, the dominion of His might is in the loftiest heights. (b.) He is our God; there is none else. (c.) He is our King; there is none other. (d.) As it is written in His Torah: and you shall know this day and meditate in your heart, that the Lord is Master in the heavens above and on the earth beneath. (e.) There is none else. (4.) We therefore hope in Thee o Lord of God, that we shall soon behold the triumph of Thy might, when idolatry will be uprooted from the earth and falsehood will utterly be destroyed. (5.) We hope for the day when the world will be perfected under the dominion of the Almighty and all mankind learn to revere Thy name; when all the wicked of the earth will be drawn into penitence unto Thee. (6.) O may all the inhabitants of the earth recognize that unto Thee every knee must bend, every tongue pledge loyalty. (7.) Before Thee, O Lord our God, may they bow down in worship, and give honor to Thy glorious name. (8.) May they all acknowledge Thy kingdom, and may Thy dominion be established over them speedly and forevermore. (a.) For sovereignty is Thine and unto all eternity Thou wilt reign in glory. (9.) As is written in Torah: The Lord will reign forever and ever. (a.) And it is further written: The Lord will be acknowledged as King over all earth; on that day will the Lord be One and His name One.“ Den Tenor und den Zukunftswert dieses Gebetes für die jüdische Gemeinschaft charakterisiert Seif mit den folgenden Sätzen: „With a vision of a future exaltation for Gold and vindication for Israel, the covenant people are encouraged by the ‚Aleynu‘ to live proleptically – i.e., as though the believed for future was already here. Jehovah, the God of Israel, is in reality the Lord of all creation – though only Israel knows it at present. Jews, who are unlike the Gentiles, must carry the standard – the Torah; Jews are
1744 175
1745 Verhalten nicht ein und forderte seinerseits von dem Vorsteher, die Kassenführung korrekt nachzuweisen. Schließlich kamen die anwesenden jüdischen Gemeindemitglieder überein, zukünftig nur dem Samuel Aron Weinberg das Vorbeten zu erlauben und einen christlichen Einwohner mit der Führung der Armen- und Strafgelderkasse zu beauftragen.
1746 Nach dem Tod des Oberrabbiners Friedheim (1826) stand die Wahl eines neuen Oberrabbiners für den Regierungsbezirk Minden an. Während sich die Judenschaft des Fürstentums Minden und des Kreises Brakel im Fürstbistum Paderborn für den amtierenden Landrabbiner Abraham Sutro entschieden, fiel die Wahl der Judenschaft der Grafschaften Ravensberg und Rietberg und des Fürstbistums Paderborn mit Ausnahme des Kreises Brakel und des Fürstentums Corvey auf den lippischen Hofkommissär und Bankier Aron Solmson (1817-59). Während die Bezirksregierung keine Schwierigkeiten hatte, die Wahl des orthodoxen Landrabbiners Sutro zu genehmigen, lehnte sie es ab, die Wahl des Bankiers Solmson zu bestätigen, ohne Gründe zu nennen. In einer Verfügung vom 5.3.1827 machte die Bezirksregierung deutlich, dass sie es für „angemessen" hielte, wenn die Juden im Kreis Halle i.W. sich auch für den Landrabbiner Sutro entschieden. Alle selbständigen Juden der Ämter Versmold und Halle i.W. sollten am 12.3.1827, Morgens 11 Uhr, auf dem Kreisbüro in Halle i.W. erscheinen, um aus ihrer Mitte pro Gemeinde je einen Deputierten zu wählen, die wiederum am 14. März 1827 einen neuen Oberrabbiner wählen sollten. Bürgermeister Friedrich Wilhelm Eduard Körner aus Versmold teilte dem Landrat Friedrich von der Decken am 8.3.1827 mit, dass sich alle Juden des Verwaltungsbezirks Versmold für den Landrabbiner Sutro entschieden hätten und darum bäten, am 12. März nicht in Halle i.W. erscheinen zu müssen.32 Obwohl die einzelnen jüdischen Gemeinden als geduldete Privatvereine nicht verpflichtet waren, den Rat des Landesrabbiners anzunehmen, mussten sie doch bei ihm um die Ausstellung von Zeugnissen nachsuchen, wenn sie Eheschließungen und Scheidungen vornehmen oder sich einzelne Mitglieder ihre Befähigung zum Koscherschlachten attestieren lassen wollten.33 Sutro stellte Abraham Weinberg aus Versmold am 22.11.1829 z.B. folgendes Zeugnis aus:
1747 „Wenn Nathan Sternberg aus Versmold von dasiger Behörde die Erlaubnis zu heirathen hat, dann wird dem Herrn Abraham Weinberg daselbst hiermit die Erlaubnis ertheilt, ihn nach den Gesetzen Mosche und Israel trauen zu dürfen."34
1748 persecuted for doing so. God is faithful; He will vindicate His people when He vindicates His name.“ Seif, a.a.O., S. 127. Ich danke Dr. Lore Shelley für ihre freundliche Zusendung dieses Buches, worum ich Sie gebeten hatte. 32 Vgl. StdtA Halle, A 609; StdtA Versmold, A 246; Guenter, Michael: Die Juden in Lippe von 1648 bis zur Emanzipation 1858. Detmold 1973, S. 167f. Ein weiterer Bewerber um das vakante Rabbinat in Minden-Ravensberg war der reformorientierte Lehrer Levi Bamberger (1769-1851) aus Gütersloh. Doch seine Bewerbung wurde vom Wahlkomitee abgelehnt. Allerdings wurde Levi Bamberger zur Beratung des Gesetzes vom 23.7.1847 im Jahre 1846 zusammen mit Professor Alexander Haindorf, Landrabbiner Abraham Sutro, Kaufmann A. Levison aus Minden, Obervorsteher L. Hellwitz aus Soest und dem Rabbinatsadjunkt Dr. Salomon Friedländer aus Brilon nach Münster eingeladen. Vgl. Herzberg, Kurt: Levi Bamberger und die jüdische Elementarschule in Gütersloh, in: Gütersloher Beiträge zur Heimat- und Landeskunde, Heft 36/37 (1974), S. 745
1749 33 Vgl. Brilling, Bernhard: Das Judentum in der Provinz Westfalen 1815-1945, in: Hegel, E.; Stupperich, R.; Brilling, B.: Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Provinz Westfalen. Münster 1978, S. 107 34 StdtA Versmold, A 244
1750 176
1751 Obwohl die jüdische Gemeinde von Borgholzhausen im Jahre 1822 - wenn auch „ohne Lasten und Willen der Stadtverwaltung" - ihre neue Synagoge erbauen lassen konnte, stellten sich der für 1830 geplanten Errichtung eines Kottengebäudes aus Fachwerk – „außerhalb des Orts [Versmold] über 100 Schritt von öffentlichen Wegen" -, in dem sowohl eine Synagoge als auch eine Wohnung für eine Heuerlingsfamilie eingerichtet werden sollten, unerwartete Schwierigkeiten von Seiten des preußischen Königs und seiner Regierungspolitik entgegen. Die Bezirksregierung teilte Landrat von der Decken in Halle am 27.1.1830 Folgendes mit: „Des Königs Majestät haben, wie Ihnen auf den Bericht vom 17ten v. M. u. J. die Auswirkung der allerhöchsten Genehmigung zur Erbauung einer Synagoge in Versmold betreffend, zum Bescheide geruht, sich bei mehreren Veranlassungen auf das bestimmteste dahin auszusprechen geruht, daß solche kleinen jüdischen Gemeinden die Errichtung eigentlicher Synagogen, statt der seither benutzten Betstuben nicht zu gestatten sei. Es muß daher sein Bedenken finden, für das Gesuch der Judenschaft zu Versmold allerhöchsten Orts einen Antrag auszuwirken."35 Trotz dieser ablehnenden Haltung der Bezirksregierung war die jüdische Gemeinde von Versmold von ihrem Bauvorhaben nicht abzubringen. Denn in einem Vertrag vom 18.6.1830 hatten sich die Gemeindemitglieder Samuel Aron Weinberg, Benjamin Sternberg, Itzig Nathan, Bendix Heilbronn und Levi Weinberg verpflichtet, dem Bauern Friedrich Wilhelm Klaus (Mattlage) aus der Bauerschaft Loxten als Bauherrn des Kottengebäudes auf jeden Fall ein Kapital von 100 rthl zu zahlen, auch wenn sie - aus welchen Gründen auch immer - die zukünftige Synagoge in dem Fachwerkgebäude (Im Esch 132, heute Hohlweg 4) nicht mieten oder benutzen durften.36 Außerdem hatte sich die jüdische Gemeinde in diesem Vertrag verpflichtet, von dem Bauern Klaus den neu zu erbauenden Kotten mit einem Scheffel Ackerland (ca. 1.702 m²) auf 30 Jahre für 30 Taler jährlich zu mieten. Da die jüdische Gemeinde wegen der neuen Bauhindernisse die Auszahlung der zweiten Hälfte des in dem Vertrag vereinbarten Kapitals in Gesamthöhe von 100 Talern bis April 1831 hinausgezögert hatte, obwohl sie in der Verpflichtung stand, diese Summe zu Michaelis und Weihnachten 1830 zu zahlen, legte Bauer Klaus vor dem Land- und Stadtgericht zu Halle i.W. eine Klage wegen Nichterfüllung des ausgehandelten Vertrags vom 18.6.1830 ein. Samuel Aron Weinberg wurde von demselben Gericht mit Schreiben vom 19.4.1831 aufgefordert, am 11.5.1831 morgens 11 Uhr zu erscheinen, um die Klage des Bauern Klaus „mit Angabe und Beibringung der Beweismittel zu beantworten." Im Falle des Nichterscheinens würde Exekution verhängt.37
1752 Am 6.4.1830 erschienen die jüdischen Familienväter (hebr. Baalebattim) vor dem Bürgermeister Friedrich Wilhelm Eduard Körner und baten darum, ihre geplante Synagoge nach Art und Weise einer Bauzeichnung, die sie vorlegten, erbauen lassen zu dürfen, obwohl die Bezirksregierung mit ihrer Verfügung vom 27.1.1830 ihre negative Haltung hinsichtlich eines Neubaus zum Ausdruck gebracht hatte. Die jüdischen Familienväter erklärten, dass sie mit dem Bauern Klaus übereingekommen seien, ihm 400 Taler für den von ihm abgetretenen Boden und für die Erbauung 35 StdtA Versmold, A 246
1753 36 Vgl. ebd.
1754 37 Vgl. ebd.
1755 177
1756 des Kottengebäudes zu zahlen, vorausgesetzt er halte sich an die Vorgaben der Bauzeichnung. Schon letzte Weihnacht hätten sie die erste Hälfte des vertragsmäßig vereinbarten Kapitalvorschusses von 50 Talern an Klaus gezahlt. Nachdem ihnen nun die Bauerlaubnis entzogen worden sei, habe die jüdische Gemeinde versucht, den Klaus dazu zu bewegen, vom Vertrag zurückzutreten. Doch das habe der Bauer genauso abgelehnt wie den Plan, ein anderes Gebäude erbauen zu lassen, das die jüdische Gemeinde auf eigene Kosten zu einem Wohngebäude einrichten wolle, falls der Synagogenbau definitiv verhindert werden würde. Dennoch hofften die jüdischen Familienväter immer noch, dass ihnen der Bau des neuen Bethauses gestattet werden würde. Sie versprachen, ihren Gottesdienst wie eh und je zu feiern und nach ihrer Verfassung zu leben.
1757 Dass die jüdischen Familienväter dieses Versprechen vor dem Bürgermeister betonten, hatte seinen Grund. Denn schon am 25.6.1829 hatte die Bezirksregierung dem Landrat Friedrich von der Decken und dem Bürgermeister Körner in einer Verfügung mitteilen lassen, dass der König „keine von dem herkömmlichen Ritus abweichende Neuerungen" unter den Juden dulde, um Sektenbildungen vorzubeugen.38 Die Verfügung der Bezirksregierung bezog sich auf ein Edikt aus dem Jahre 1823. Nicht ausgesprochen wurde in dem Schreiben der Bezirksregierung, dass der evangelisch-lutherische Obrigkeitsstaat mögliche Neuerungen im jüdischen Kultus verhindern wollte, weil er befürchtete, dass sie auch liberale Tendenzen oder möglicherweise Spaltungen unter den Christen befördern könnten. Der protestantische Obrigkeitsstaat hoffte außerdem, dass ein durch Regierungsedikte künstlich traditionell gehaltenes Judentum die Konversionswilligkeit zum Christentum unter den Juden fördern würde.39
1758 Schließlich rangen sich Bürgermeister Körner und Landrat von der Decken zu dem absurden Beschluss durch, zwar den Bau, aber nicht die Benutzung der zu erbauenden Synagoge zu genehmigen. In einer Marginalie zum Grund- und Aufriss der neuen Synagoge heißt es:
1759 „Da die hiesige Judenschaft erklärt hat, vorgezeichnetes Gebäude nach der Erbauung nicht als Synagoge zu benutzen, so wird auf ausdrücklichem Befehl des Herrn Landrath von der Decken vom 6t d. M. die Ausführung des Baus nach vorstehender Zeichnung von Polizeywegen hiermit erlaubt. Versmold, den 16. April 1830. Der Bürgermeister Körner"40
1760 Die Bauzeichnung zeigt eine aus Fachwerk zu erbauende Synagoge mit nahezu quadratischem Grundriss und traditioneller Inneneinrichtung. Es gab eine mittig angelegte, quadratische Bima, ein Podest, mit je einer Stufe an der Nord- und Südseite und dem Pult zur Verlesung der Thora an der Ostseite; die Heilige Lade als Behälter der Thorarollen an der Ostwand; eine Frauengalerie an der Westseite und Bänke längs der Nord-, Süd- und Ostseite. Die Nord- und Südwände waren sechsfachig konstruiert und mit je zwei Fenstern im zweiten und fünften Fach ausgestattet. Auch die Ostwand sollte zwei große Fenster im zweiten und vierten Fach aufweisen, während die Westwand des Kottens vier kleinere Fenster, je zwei im zweiten und vierten Fach für den
1761 38 Vgl. StdtA Versmold, A 246
1762 39 Vgl. Brenner, Michael; Jersch-Wenzel, Stefi, Meyer, Michael A.: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. Emanzipation und Akkulturation 1780-1871. München 1996, S. 111f
1763 40 StdtA Versmold, A 246
1764 178
1765 Synagogensaal und für die Frauengalerie erhalten sollten.41 Aus dem Grund- und Aufriss der geplanten Synagoge von 1830 geht nicht hervor, wo sich die später eingerichtete Wohnung für den Heuerling befunden haben könnte. Vermutlich wurde eine Art von Doppelkotten errichtet mit dem Bethaus auf der einen und der Heuerlingswohnung auf der anderen Seite.
1766 Die konservative Einstellung der Versmolder Juden zeigte sich nicht nur darin, dass die angemietete Betstube traditionell eingerichtet war, sondern auch in der Gestaltung ihres Gottesdienstes. Bürgermeister Friedrich Theodor Heuermann berichtete dem Landrat des Kreises Halle, August zur Hellen, am 3. Juli 1843:
1767 „Die deutsche Sprache hat bei dem Gottesdienst hierselbst keinen Eingang gefunden, auch wird nicht gepredigt, eben so wenig findet eine die Konfirmation in der christlichen Kirche nachgebildete Aufnahme der Kinder in die Gemeinde statt."42
1768 Nachdem die Brüder Moses, Selig und Joseph Weinberg in Bockhorst seit 1843 wegen persönlicher Meinungsverschiedenheiten nicht mehr am Synagogenkultus in Versmold teilnahmen, sondern Privatandacht in ihrem Haus hielten, ergab sich das Problem, die Gemeindeausgaben, nämlich 18 Taler für die Synagogenmiete, 6 Taler für Kerzenlichter, 2 Taler für Reparaturen, einen Taler für Wein und 7 Taler für durchreisende arme Juden ausgewogen auf die acht verbliebenen Versmolder Gemeindemitglieder neu zu verteilen. In einer Sitzung vom 30.6.1843 vor Bürgermeister Heuermann wurde der Beschluss gefasst, dass Familienoberhäupter jährlich 4 Taler oder monatlich 10 Silbergroschen zahlen sollten, die konfirmierten, aber wirtschaftlich unselbständigen Söhne des Benjamin Sternberg jedoch nur 1 Taler jährlich. Levi Weinberg wurde mit der Hebung der Beiträge betraut, und Nathan Sternberg, der zum Vorsteher gewählt wurde, war für die allgemeine Kassenführung und die Verwaltung der Armenkasse verantwortlich. Die monatlichen Beiträge sollten Levi Weinberg ins Haus gebracht werden. Wer in den ersten acht Tagen jedes Monats nicht zahlte, gegen den sollte mit Hilfe des Bürgermeisters Exekution verhängt werden. Diese Vereinbarungen sollten drei Jahre lang Gültigkeit haben. Wer die Kultusgemeinde vorher verlassen wollte, sollte 10 Taler Konventionalstrafe zahlen. Diese Regelungen unterschrieben die Gemeindemitglieder Abraham Weinberg, Bendix Abraham Ganz, Benjamin Sternberg, Bendix Heilbrun, Bernhard Steinfeld, Levi Weinberg in lateinischer und Itzig Nathanson und Nathan Sternberg in hebräischer Schreibschrift.43
1769 Aus den Etataufstellungen für die Synagogengemeinde, die nach dem Statut vom 6.2.1856 die Stadt Versmold und die Bauerschaften Peckeloh, Oesterweg, Loxten, Hesselteich und Bockhorst umfasste, ist jedenfalls ersichtlich, dass a) tatsächlich eine Synagoge und eine Synagogenwohnung am Hohlweg erbaut wurde und dass b) die jüdische Gemeinde vertraglich mit dem Bauern Klaus bis in die 1880er Jahre insofern verbunden blieb, als sie Miete an ihn für die Synagogenbenutzung zahlte, ihrerseits aber wiederum eine Wohnung neben der Synagoge an 41 Vgl. StdtA Versmold, A 246
1770 42 StdtA Versmold, A 246
1771 43 Ebd. Ich danke Professor Robert Allan Weinberg für seine freundliche Transliteration der in jüdischdeutscher Kursivschrift abgefassten Namen.
1772 179
1773 einen Heuerling vermietete. Obwohl keine Verträge hinsichtlich dieser Untervermietungen erhalten sind, kann doch angenommen werden, dass dieser Heuerling - ähnlich wie derjenige, der die Wohnung in der jüdischen Schule in Preußisch Oldendorf mietete - Wartungs- und Reinigungsaufgaben auszuführen hatte. Andererseits musste Bauer Klaus das von der Synagogengemeinde an ihn dargeliehene Kapital von 100 Talern zu 4½ % pro Jahr verzinsen, eine Summe, die logischerweise als kleiner Einnahmeposten im Etat der Synagogengemeinde aufgeführt wurde.44
1774 Als sich die Synagogengemeinde von Versmold im Jahre 1899 entschied, eine neue, größere Synagoge aus Stein an der Mittelstraße 12 in Versmold erbauen zu lassen, wiederholte sich die lokalbehördliche Verzögerungspolitik bei der Genehmigung dieses Jahrhundertprojekts. Am 28.7.1899 schrieb Amtmann Ernst Graßhof an den Landrat Clemens August Graf von Korff-Schmising:
1775 „Die israelitische Gemeinde Versmold beabsichtigt, in der kleinen Stadt eine neue Synagoge, die 8,40 m lang, 6,40 m breit und 5 m hoch werden soll, zu erbauen. Mir ist nicht recht klar, ob zum Bau dieser Synagoge die Genehmigung der Königlichen Regierung eingeholt werden muß, oder ob, was ich bei der geringen Bedeutung dieses Baues wohl annehmen zu dürfen glaube, die polizeiliche Genehmigung zum Bau der Synagoge genügt, und bitte ich hiernach um eine diesbezügliche Verfügung."45
1776 Die Antwort des Landrates ist unbekannt. Jedenfalls schien die Bauerlaubnis irrtümlicher-weise voreilig vom Amtmann gegeben worden zu sein mit der Folge, dass die Bezirksregierung den Bau unterbrechen ließ. Während der Bau ruhte, sollen besonders unter Frauen, Kindern und Ungebildeten Gerüchte kursiert haben, die den Blutaberglauben mit weiteren Zerrbildern bereicherte. Auf welche Weise die Brüder Carl und Oscar Bergfeld auf diese ruf- und geschäftsschädigenden Verleumdungen und Gerüchte reagierten, soll im Kapitel 5.2.3 dargestellt werden.
1777 An der Einweihung der neuen Synagoge am Freitag und Sonnabend, den 14./15.9.1900 (20./21. Elul 5660), nahmen von den geladenen Nichtjuden Landrat von Korff-Schmising, Amtmann Graßhof und das gesamte Stadtverordnetenkollegium teil. Die neue Synagoge hatte einen fast quadratischen Grundriss mit einer Seitenlänge von 8,80 m. Die Inneneinrichtung wirkte insofern kirchenähnlich, als je fünf hintereinander angeordnete Sitzbänke auf jeder Seite des Mittelganges aufgestellt waren. Die kleine Synagoge bot maximal 32 Personen Platz. Eine zentral angelegte Bima oder eine Frauengalerie gab es nicht mehr. Die Sicht der Synagogenbesucher war auf den Aron ha-kodesh in der Nische der Ostwand und auf die Thoralesung gerichtet. Vermutlich wurde der Gottesdienst mit Orgel- und Chormusik verschönert. Die Einweihungsfeier wurde von dem Bielefelder reformorientierten Rabbiner Dr. Felix Coblenz geleitet.46
1778 44 Vgl. StdtA Versmold, A 1238
1779 45 StdtA Versmold, A 1077
1780 46 Vgl. StdtA Versmold, A 1077; Pracht (1998), S. 82. Vgl. AZJ vom 28.9.1900, S. 3: „Versmold i. Westf., 23. September. Unsere kleine Gemeinde hat am 14. und 15. d. M. ihr neuerbautes Gotteshaus durch Herrn Rabbiner Dr. Coblenz-Bielefeld einweihen lassen. Zu dieser Feier waren der Landrath Graf v. Korf-Schmiesnig [sic], der Amtmann Graßhof von hier und das gesammte Stadtverordnetenkollegium erschienen. An der Pforte des neuen Gotteshauses sprach die kleine Else Weinberg aus Bockhorst, welches zu unserer Gemeinde gehört, ein hübsches Gedicht und überreichte dem Herrn Landrath den Schlüssel, welcher solchen dem Herrn Amtmann übergab, der alsdann denselben
1781 180
1782 4.5 Das jüdische Schulwesen in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W. im 19. und 20. Jahrhundert
1783 Bevor der preußische Staat im Jahre 1824 die Aufsicht über das jüdische Schulwesen übernahm und die Schulpflicht für jüdische Kinder im Alter von fünf bis vierzehn Jahren einführte, erhielten die jüdischen Kinder in den Gemeinden der Kreise Lübbecke und Halle i.W. entweder ausschließlich Unterricht von jüdischen Lehrern oder sie besuchten gleichzeitig die örtliche nichtjüdische Volksschule oder sie erhielten Privatunterricht von örtlichen nichtjüdischen Lehrern in den Elementarschulfächern.
1784 Der jüdische Kinderlehrer des älteren Typs (hebr. Melamed) war nicht in Westfalen ausgebildet worden, sondern hatte möglicherweise eine Talmudschule in seiner Heimat (z.B. in Litauen, Posen, Oberschlesien, Westpreußen, Rußland) besucht und war dann als unverheirateter Junglehrer (hebr. Bachur) nach Westen gereist, um als Gemeinde- oder Privatlehrer eine Anstellung zu finden.1 In Lübbecke beispielsweise erteilte der Lehrer Baer Salomon, der angeblich aus Biala in Litauen stammte, den jüdischen Kindern seit 1821 Religions- und Hebräischunterricht, während zwei Jungen von insgesamt sechs jüdischen Schülern die örtliche evangelische Schule besuchten.2 Außerdem erfüllte Baer Salomon die synagogalen Funktionen. Nachdem die Bezirksregierung in Minden mit der Verordnung vom 16.3.1825, die auf die „Verbesserung" des jüdischen Elementarschulwesens abzielte, den evangelischen Superintendenten Helle zu Dielingen beauftragt hatte, die im Kreis Lübbecke tätigen jüdischen Lehrer Baer Salomon in
1785 dem Herrn Rabbiner reichte. Das Gotteshaus macht trotz seiner Einfachheit in Bau und Ausführung einen würdigen, wohlthuenden Eindruck. Nach dem Gesang des „Ma Tauwu“ von Herrn Kantor Proskauer-Bielefeld fand das feierliche Anzünden des ewigen Lichtes durch Herrn Dr. Coblenz statt. Der Chor sang abermals ein Lied, worauf Herr Dr. Coblenz die heilige Lade öffnete und die Thorarollen einstellte. Hierauf begann die Festpredigt, die auf alle Hörer einen tiefen Eindruck machte. Das Gebet für Kaiser und Reich, die Stadt und Behörden schloß sich an. Nachmittags fand ein gemeinsames Mittagessen im Hotel Bütröwe statt, wobei der Herr Amtmann als Ehrengast der Gemeinde das Hoch auf den Kaiser ausbrachte. Die Feier dürfte allen Theilnehmern eine unvergeßliche Erinnerung bleiben.“
1786 Der Wortlaut der Predigt, die Dr. Felix Coblenz bei der Einweihungsfeier der neuen Synagoge in Versmold hielt, ist vermutlich nicht überliefert. Doch wurde die Predigt, die er bei der Einweihung der neuen Bielefelder Synagoge an der Turnerstraße 5-7 am 20.9.1905 hielt, publiziert. Diese endete mit den Worten: „Meine Andächtigen! Israels Propheten, diese gottbegeisterten Schöpfer der optimistischen Weltanschauung, haben mit kühnem Seherblick in die Zukunft der Zeiten geschaut und den Tag verkündet, da Gotteserkenntnis und Menschenliebe die Erde erfüllen, wie Wasser die Meerestiefen bedecken. Wann dieser Tag uns erstehen wird, ich weiß es nicht, kein Mensch kann es wissen. Jahrtausende mögen noch dahinrauschen im Strome der Zeit, ehe das große Prophetenwort sich erfüllt. Aber das eine weiß ich ganz gewiß: nicht durch ein Wunder wird die Stunde uns geboren, nicht auf ein göttliches Geheiß ersteht sie uns über Nacht. Wir müssen sie selber vorbereiten im Gange der natürlichen Entwicklung. Wir sitzen selber am Webstuhl der Zeit und helfen des Schicksals Fäden spinnen. Und ob der einzelne auch nur wenig vermag, im kleinen Kreise müssen wir alle wirken. Denn auf der Arbeit des einzelnen ruht der Erfolg des Ganzen. Wer unter uns möchte die Verantwortung tragen, wenn einst über unser Geschlecht geurteilt würde: es hat der Menschheit großen Zwecken nicht gedient! Drum laßt uns pflegen, was wir haben, drum laßt uns halten, was wir finden: unser Leben sei Religion! Unsere Religion sei Leben! Dann gilt’s von jeder Stätte, wo wir ein gutes Werk vollbringen, dann gilt’s von unserem Herzen, unsere Seele: Fürwahr, hier ist ein Gotteshaus, hier ist die Pforte, die den Himmel öffnet, die Pforte der Ewigkeit! Amen.“ Zitiert nach Coblenz, Felix: Predigten gehalten in der Synagoge zu Bielefeld. Neue Folge. Frankfurt a.M. 1907, S. 134
1787 1 Vgl. die Biographie des Lehrers Salomon Cohn, geb. 1817 in Kempen (Posen), der nach Detmold in Lippe reiste, um sich weiterzubilden. In: Richarz, Monika (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte. 1780-1871. New York 1976, Bd. I, S. 356-359
1788 2 Vgl. StdtA Lübbecke, B 63.4
1789 181
1790 Lübbecke, Herz Kohn und Israel Marcus in Preußisch Oldendorf, Ephraim Goldberg in Rahden und Marcus Selig in Levern in allen Elementarschulfächern „mit Ausnahme der Religion" zu prüfen, zog es Baer Salomon offensichtlich vor, die Gemeinde und den Kreis Lübbecke zu verlassen. Obwohl Baer Salomon im April und Mai 1822 von dem Oberrabbiner Moses Liebmann Friedheim in Bielefeld geprüft worden war, scheute sich der Lehrer möglicherweise aus dem Grund davor zurück, sich einer Zusatzprüfung durch einen nichtjüdischen Geistlichen zu unterziehen, weil er kein nichtjüdisches Lehrerseminar besucht hatte oder seine Deutschkenntnisse unzureichend waren.3 Seit 1825 unterrichtete Baer Salomon in der jüdischen Gemeinde Werther im Kreis Halle i.W. acht Mädchen und vier Jungen und war - wie üblich - auch als Vorsänger und Geistlicher tätig.4 Im Januar 1826 wurde es ihm von der Bezirksregierung gestattet, in der Nachbargemeinde in Halle i.W. als Religionslehrer und Vorsänger tätig zu werden, da die jüdischen Kinder dort in der örtlichen Elementarschule in allen anderen Fächern Unterricht erhielten.5
1791 Das Verhalten von Baer Salomon war zweifellos nicht einmalig, da es auch der Lehrer Marcus Selig, der in Levern als Religionslehrer angestellt worden war, vorzog, sich der Nachprüfung zu entziehen und Levern im Frühjahr 1825 zu verlassen, so dass der Landrat die jüdischen Eltern aufforderte, ihre Kinder in die christliche Ortsschule zu schicken.6
1792 Der jüdische Lehrer des älteren Typs machte seine Schüler mit den Grundlagen der jüdischen Tradition vertraut, d.h. er lehrte sie in der hebräischen Ursprache und in deutscher Übersetzung die wichtigsten Gebete, Segenssprüche, die wöchentlichen Thoraabschnitte aus den fünf Büchern Mose, Psalmen, Propheten und Sprüche der Väter (Mischna).7 Weder die jüdischen Elementarlehrer des älteren, noch des neueren Typs, die z.B. das jüdische Lehrerseminar der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825-1925)8 besucht und dort ihre Abschlussprüfungen abgelegt und anschließend z.B. an den evangelischen Lehrerseminaren in Soest oder Petershagen oder den katholischen Lehrerseminaren in Büren oder Werl (seit 1901) ihre erste Lehramtsprüfung bestanden hatten, konnten als bloße Fachlehrer gelten. Denn der jüdische Lehrer wurde in erster Linie als Geistlicher angesehen und musste in der Gemeinde, von der er angestellt und bezahlt wurde, die unterschiedlichsten kultischen Rollen spielen und Funktionen erfüllen. Als beispielsweise in der Gemeinde Lübbecke im Jahre 1885 ein neuer Lehrer und Kultusbeamter mittels Stellenanzeige in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ gesucht wurde, legten die Gemeindemitglieder mehr Wert auf die gute Stimme des Vorbeters und seine
1793 3 Vgl. Archiv des Kirchenkreises Lübbecke, A 45; StdtA Lübbecke, B 63.4. Vgl. von Rönne, Ludwig; Simon, Heinrich: Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates; eine Darstellung und Revision der gesetzlichen Bestimmungen über ihre staats- und privatrechtlichen Zustände. Breslau 1843, S. 167-169
1794 4 Vgl. StdtA Werther, A 72; StADt, P 2 Nr. 123
1795 5 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4015
1796 6 Vgl. Hillebrand, Stefanie: Jüdische Geschichte in Levern und Umgebung 1800-1938. Espelkamp 1996, S. 60
1797 7 Vgl. Linner, Barbara: Lernen und Lehren im Ostjudentum, in: Licharz, Werner (Hg.): Lernen und Lehren im Jüdischen Lehrhaus. Arnoldshainer Texte Bd. 38. Frankfurt a.M. 1985, S. 48f
1798 8 Vgl. Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung. Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825-1941). Paderborn 1997
1799 182
1800 Gottesdienstgestaltung als auf sein pädagogisches Geschick. Der neue Kultusbeamte wurde schließlich aufgrund eines Probegottesdienstes und nicht einer Probeunterrichtsstunde eingestellt.9 Die Gemeindemitglieder erwarteten von dem jüdischen Lehrer und Kultusbeamten, dass er sie segnend und tröstend von der Geburt bis zum Tode begleitete. Der jüdische Lehrer hielt nicht nur die Gottesdienste als Kantor, Vorbeter, Prediger, Haftara- und Parschat-haSchawua- (dt. Propheten- und Thoraabschnitt) Vortragender. Er leitete die Beschneidungs- und Trauzeremonien und Bestattungsfeiern. Bis in die 1830er Jahre fungierten die jüdischen Lehrer auch als rabbinisch approbierte Schächter (hebr. Schochetim), um die Gemeinde, die sich an die Speisegesetze hielt (hebr. Kaschrut), mit koscherem Fleisch versorgen zu können. Beispielsweise wurde im Jahre 1824 der 71jährige Lehrer Isaak Meyer, der aus Breslau stammte und zuletzt in der Nachbargemeinde in Borgholzhausen tätig gewesen war, als Lehrer und Schächter für ein Jahr mit einem Jahresgehalt von 20 rthl von der Gemeinde Versmold angestellt. (Zum Vergleich: um 1830 war der Nettojahresverdienst eines Spinners in Minden-Ravensberg auch nicht höher als 20-40 Taler, ein Weber mit einem Webstuhl konnte aber schon einen Nettojahresverdienst von ca. 110 Talern erzielen.) Lehrer Meyer hatte angeblich im Laufe seiner Karriere von elf Landrabbinern Konzessionen erhalten, die letzte von Oberrabbiner Friedheim in Bielefeld im März 1823.10 Die Tragik dieser Lehrerkarriere bestand nicht nur darin, dass Lehrer Meyer seine Stellen bis ins hohe Alter dauernd wechseln musste, sondern auch darin, dass seine Leistungen im Vergleich zu denen seiner jüdischen Kollegen noch bescheidener honoriert wurden. So wurde Jeremias Sachs (geb. 1772 in Großglogau, Oberschlesien) für seine Tätigkeiten als Lehrer, Vorsänger und Schächter ein vierteljährliches Gehalt in Höhe von 35 Reichstalern, allerdings ohne Kost und Logis, von den Familienvorständen der Gemeinde Lübbecke in einer „Übereinkunft" vom 31.12.1829 schriftlich zugesichert.11 Sein Nachfolger, Benjamin Wolff (geb. ca. 1771), erhielt laut Vertrag vom 23.12.1840, der eine Laufzeit von drei Jahren hatte, ein jährliches Gehalt von 150 rthl, ein Kostgeld von 60 rthl und eine freie möblierte Wohnung.12
1801 Die jüdischen Lehrer konnten ihr Gehalt allerdings dadurch aufbessern, dass sie zu Purim die Schriftrolle (hebr. Megilla) Esther und zu Schawuoth die Rolle Ruth gegen eine Gebühr verlasen. Manche Lehrer fungierten auch als Beschneider (hebr. Mohelim) der jüdischen Knaben, d.h. sie waren dazu rabbinisch approbiert worden. Jüdische Knaben müssen nach Ablauf von sieben Tagen beschnitten werden. Die Beschneidung gilt als Zeichen für den Bund Gottes mit dem Erzvater Abraham. Von den in Werther angestellten Lehrern wurde auch bis in die 1860er Jahre erwartet, dass sie für die verstorbenen Gemeindemitglieder Meyer Abrahamson und Salomon Greve ein tägliches Gebet oder einen Segensspruch in den Häusern der Verstorbenen 9 Vgl. Inserat in der AZJ vom 8.9.1885; StdtA Lübbecke, C I 13.3
1802 10 Vgl. StdtA Versmold, A 246. Zu den stagnierenden Realeinkommen der Unterschichten und unteren Mittelschichten im Vormärz in Minden-Ravensberg siehe: Jarren, Volker: Schmuggel und Schmuggelbekämpfung in den preußischen Westprovinzen 1818-1854. Paderborn 1992, S. 217f
1803 11 Vgl. StdtA Lübbecke, B 63.3
1804 12 Vgl. ebd.
1805 183
1806 aussprachen oder auch täglich und nach beendigtem Gottesdienst am Sabbatnachmittag einen religiösen Vortrag (hebr. Schiur) hielten. Für diese zusätzlichen geistlichen Dienste erhielten die Vorsänger einen bestimmten Zinsbetrag aus den Legaten der Verstorbenen.13
1807 In Lübbecke erfüllten die Lehrer Benjamin Wolff und Salomon Blumenau insofern eine weitere emanzipatorische Funktion, als sie die Pflicht hatten, nach der offiziellen Einführung der Westfälischen Landgemeindeordnung (1843) den Bürgereid der jüdischen Neubürger der Stadt Lübbecke abzunehmen, der nach einer Kabinettsorder vom 5.11.1833 wie folgt begann: „Ich N.N. schwöre bei Adonai, dem Gotte Israels, daß [...]“14
1808 Die soziale Abhängigkeit des jüdischen Lehrers älteren Typs bestand in dem Einjahresvertrag, der Einrichtung des Wandeltisches, wodurch der Lehrer gezwungen wurde, an den Tischen der Eltern seiner Schüler Mahlzeiten einzunehmen - mit allen mehr oder weniger erfreulichen Begleiterscheinungen; in der Tatsache, dass ihm freier Wohnraum gestellt wurde und ihm ein so geringes Gehalt gezahlt wurde, dass es nicht ausreichte, um eine Familie zu ernähren oder Rücklagen für Krankheitsfälle und für das Alter zu bilden.15 Noch im Anstellungsvertrag für den Lehrer und Kultusbeamten Wolf Katzenstein, der vom Vorstand der Gemeinde Preußisch-Oldendorf am 13.11.1859 unterzeichnet wurde, heißt es in § 15: „Herr Katzenstein verzichtet für immer auf jeden Anspruch einer Pension seitens der Gemeinde." Allerdings wurde im § 16 festgehalten, dass der Lehrer „von allen Lasten und Abgaben der Synagogen-Gemeinde befreit" war.16 Lehrer Jesaias Mayer, der mit der Gemeinde Rahden am 8.5.1863 einen Anstellungsvertrag abgeschlossen hatte, kündigte seine Stelle schon am Ende desselben Jahres, weil ihm das vereinbarte Jahresgehalt in Höhe von 300 rthl abzüglich 40 rthl Miete für ihn selbst und seine Familie als zu gering erschien und weil die Gemeinde Rahden von ihm vertraglich verlangt hatte, auf jegliche Pensionsansprüche zu verzichten.17
1809 Eine Pensionskasse für jüdische Lehrer in Gemeinden, die Mitglieder in dem Verband der Synagogengemeinden Westfalens (gegr. 1891) waren, wurde erst im Jahre 1898 auf Initiative seines Vorsitzenden, Bankier Moritz Katzenstein (Bielefeld), gegründet. Der liberale und reformorientierte Rabbiner Dr. Felix Coblenz (Bielefeld), Gründer des Verbandes der Synagogengemeinden Westfalens, sorgte im Jahre 1912 dafür, dass die Verbands-Pensionskasse der Westfälischen Provinzialhauptkasse in Münster angeschlossen wurde. Durch die Beiträge, die die jüdischen Gemeinden an die Westfälische Provinzialhauptkasse abführten, erhielten die jüdischen Lehrer Pensionsberechtigungen wie die Kommunalbeamten und Lehrer an städtischen Privatschulen.18
1810 13 Vgl. StdtA Werther, A 74; StADt, M 1 II B Nr. 4015
1811 14 Vgl. StdtA Lübbecke, B 4.7
1812 15 Vgl. StdtA Lübbecke, B 63.4; Richarz, Monika: Jüdische Lehrer auf dem Lande im Kaiserreich, in: TAJB, Bd. XX (1991), S. 181f.
1813 16 Vgl. CAHJP, Pr. Oldendorf S/319/2
1814 17 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4000
1815 18 Vgl. Lazarus, Max: Erinnerungen. Hg. v. Hans Chanoch Meyer. Dortmund 1967, S. 74f; StADt, M 1 I L Nr. 255
1816 184
1817 Schon im Jahre 1856 war in Hamm der Verein israelitischer Elementarlehrer für Westfalen und die Rheinprovinz mit der Zielsetzung gegründet worden, das jüdische Schul- und Kultuswesen zu verbessern und „vor allem [...] aus Krankheits- oder Altersgründen arbeitsunfähige Lehrer [zu] unterstützen."19 Eine Weiterentwicklung dieses Vereins bildete die 1861 gegründete Unterstützungs-Kasse für hülfsbedürftige israelitische Elementarlehrer beider Provinzen, resp. deren Witwen und Waisen, „die in Not geratenen Mitgliedern oder deren Witwen und Waisen eine jährliche Beihilfe gewährte."20
1818 Die Abhängigkeit zahlreicher jüdischer Lehrer sowohl des älteren wie des jüngeren Typs zeigte sich auch darin, dass die Gemeindemitglieder bzw. Schulinteressenten besonders der Gemeinden Rahden und Werther nicht willens waren, ihre Lehrer und Kultusbeamten längerfristig zu beschäftigen. Für die Gemeinde Werther lassen sich nicht weniger als 21 Personen nachweisen, die in der Zeit von 1809-1914 als Lehrer an der privaten Elementarschule und als Kultusbeamten engagiert wurden.21 Benjamin Stiefel (geb. 1872 in Abterode), der seine beiden Prüfungen am jüdischen Seminar in Kassel abgelegt hatte, wurde für den längsten Zeitraum angestellt, nämlich von 1892-1904. Obwohl auch Kreisschulinspektor Stegelmann seine definitive Anstellung empfahl, scheiterte dieses Vorhaben, weil die jüdische Gemeinde Werther trotz mehrfacher Versuche im 19. Jahrhundert, ihre Privatelementarschule in eine öffentliche umwandeln zu lassen, keinen Erfolg in dieser Hinsicht bei der Schulaufsichtsbehörde erzielte. Während sich die jüdische Gemeinde Kostenvorteile versprach, weil öffentliche Schulen Zuschüsse erhalten konnten und die jüdische Gemeinde nur ihre eigene Volksschule hätte finanzieren und nicht auch noch zur Finanzierung aller anderen öffentlichen Schulen am Ort hätte beitragen müssen, lehnte die politische Gemeinde Werther und die Bezirksregierung diesen Plan mit der Begründung ab, dass die Leistungsfähigkeit des 76jährigen Hauptsteuerzahlers als jüdischer Schulinteressent zukünftig nicht gesichert sei und die Kinder der anderen Schulinteressenten bald aus der Volksschule entlassen würden. Der eigentliche Hauptgrund des negativen Bescheids war jedoch der, dass die kleine jüdische Gemeinde in Werther, deren Anteil an der Einwohnerschaft am Ende des 19. Jahrhunderts ca. 3% betrug, mehr als 10% der gesamten lokalen Schulsteuern zahlen musste.22 Erst im Jahre 1905 gewährte die Schulgemeinde Werther der jüdischen Gemeinde einen Zuschuss von 400 Mark. Im gleichen Jahr zahlte die jüdische Gemeinde Werther allerdings 1.677 Mark Schulsteuern, so dass der Zuschuss lediglich 23,8% ausmachte.23
1819 Der ständige Wechsel der Lehrer in der Gemeinde Rahden war noch markanter ausgeprägt als der in der Gemeinde Werther. Innerhalb von 100 Jahren stellten die Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Rahden nicht weniger als 28 Lehrer und Kantoren ein, von denen jeder einzelne 19 Freund, S. 155
1820 20 Ebd., S. 155
1821 21 Vgl. StdtA Werther, A 72, 75, 76, 77; StADt, M 1 II B Nr. 4015, 4016
1822 22 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4015
1823 23 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4016
1824 185
1825 also durchschnittlich 3,6 Jahre dort tätig war.24 Tatsächlich behielten aber einige Lehrer ihre Stellung nur ein Jahr, während einigen anderen, aufgrund fehlender Qualifikation, noch nicht absolviertem Militärdienst oder weil sie aus der Provinz Posen kamen, die Aufnahme ihrer Lehrtätigkeit und ihres Kantorats behördlicherseits verwehrt wurde.
1826 Mit der Bekanntmachung vom 16.3.1825 verordnete die Bezirksregierung in Minden im § 3, Abs. 4, dass jüdische Lehrer „nicht auf Kontraktsfristen, sondern auf jährige oder halbjährige Kündigung" eingestellt werden sollten und behielt sich ausdrücklich das Recht vor, eventuelle Kündigungen von seiten der jüdischen Gemeinden zu genehmigen oder nicht.25 Daher muss davon ausgegangen werden, dass der besonders häufige Wechsel der Lehrer in den Gemeinden Werther und Rahden mit der Genehmigung der Bezirksregierung erfolgte. Die Initiative zur Kündigung des Anstellungsvertrags konnte vom Lehrer selbst oder auch von einigen Mitgliedern der Gemeinde ausgehen. Der Lehrer Abraham Dannenberg in Borgholzhausen, der zu einem jährlichen Honorar von 75 rthl und einem halbjährlich wechselnden Rundtisch bei 5 Gemeindemitgliedern angestellt worden war, zog es z.B. im Herbst 1849 vor, die lukrativere Tätigkeit der Branntweinbrennerei seines Vaters zu übernehmen, als weiterhin die „böswillige[n] Störungen des öffentlichen Gottesdienstes Seitens einiger übelgesinnter, ihm feindlicher Mitglieder" zu ertragen.26 Der Lehrer stand vor dem Dilemma, dass ihn drei Gemeindemitglieder von Borgholzhausen unterstützten, drei aber gegen ihn eingestellt waren.
1827 Lehrer Baruch Alge Elson, der aus Kornik in Posen stammte, wurde von der politischen Gemeinde in Werther im Jahre 1839 die Niederlassung verweigert, weil es die jüdischen Schulinteressenten ablehnten, ihn als Lehrer und Kantor auf Lebenszeit einzustellen. Der Gemeinderat befürchtete, dass sich die Zahl der „armen Handelsjuden" in der Stadt Werther vermehren würde, wenn die jüdische Gemeinde die Stellung des Lehrers kündigte. Deshalb musste dieser Lehrer mit seiner Familie und seiner Schwester die Kleinstadt Werther nach der feierlichen Einweihung der neuen Synagoge am 11./12. September 1840 verlassen.27
1828 Der erste Elementarschullehrer, der circa acht Jahre lang zunächst nur einen Teil der schulpflichtigen jüdischen Schüler von Großendorf und Kleinendorf im Lesen und Schreiben der deutschen und jüdischen Schrift, im Rechnen und in der Bibel- und Religionskunde unterrichtete, hieß Bendix Heine. Er wurde am 14.5.1815 in Schildesche bei Bielefeld geboren, hatte von Ostern 1830 bis Neujahr 1833 Unterricht in Hebräisch und Deutsch von dem Bielefelder Lehrer Joachim Posener erhalten und war von Neujahr 1830 bis April 1834 als Hilfslehrer an der jüdischen Elementarschule in Bielefeld beschäftigt worden. Außerdem hatte Bendix Heine das Bielefelder Gymnasium von Ostern 1830 bis Neujahr 1833 besucht. In seinem Gesuch um Genehmigung einer Hauslehrerstelle in Rahden legte er außer einem Zeugnis von Lehrer Posener und einem des
1829 24 Vgl. StdtA Rahden, A 417; StADt, M 1 II B Nr. 4000
1830 25 Vgl. Rönne; Simon (1843), S. 168
1831 26 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 3957; KAGt, H 2 H LR1 169.3
1832 27 Vgl. StdtA Werther, A 77
1833 186
1834 Gymnasiums von Bielefeld auch einen Lebenslauf bei, der seinen Familienhintergrund und die Sozialisationsformen in seiner Kindheit und wenig glücklichen Jugend zeigte:
1835 „Am 14. Mai des Jahres 1815 ward ich Bendix Heine zu Schildesche bei Bielefeld geboren. Mein Vater, Handelsmann Heinemann Heine, erzeugte mit meiner Mutter Therese Heine, geb. Wiedenhoff aus Werther vier Söhne und drei Töchter. Drei meiner Geschwister starben in früher Jugend, und meine Eltern wandten nun ihre Sorgfalt auf die übriggebliebenen. Wir wurden sämmtlich in die Schule geschickt und mußten das dort Erlernte unter der Eltern Aufsicht wiederholen: Hier wurde ich in den Elementarkenntnissen unterrichtet, Religions- und Bibel-Unterricht genoß ich hingegen von einem Privat-Lehrer und von meinem Vater. Die Zeit, in welcher man die unschuldigen Freuden der Jugend ungestört genießen kann, ist gewiß die schönste unsres Lebens. Ich hatte leider nicht das Glück, dieselben in ihrer Reinheit zu genießen, eine langwierige Krankheit fesselte mich an das Bette. Besonders wurden mir jene Freuden getrübt, da meine Mutter nach langwieriger Krankheit am 4. März 1826 gestorben. Dieser Schlag war für uns sehr hart, denn die Vermögensumstände des Vaters hatten sich durch die Krankheit der Mutter sehr vermindert; zudem erlaubten ihm seine jetzt auswärts habenden Geschäfte nicht, gehörig auf die Erziehung seiner Kinder Acht zu geben. Er suchte daher zwei von ihnen bei Verwandten unterzubringen, und nur noch zwei, mich und einen älteren Bruder im Hause zu behalten. Getreu als von einer Mutter und liebenden Geschwistern fand ich nur noch im Lesen Nahrung. Mein Vater mochte diese Neigung und verschaffte mir Kampes Robinsohn und Reisebeschreibungen, Schröcks Weltgeschichte und einige religiöse Schriften, deren Inhalt mir Trost und Beruhigung verschafften. Die Lust zum stillen Lesen ward bei mir immer größer, und es kostete mir [sic] Überwindung, ein gesehenes Buch ungesehen zu lassen. In meinem vierzehnten Jahre ward ich konfirmiert. Da ich aber zu dem Handelsgeschäfte meines Vaters gar keinen Trieb zeigte, so ließ mich derselbe noch fortwährend die Schule besuchen. Mein ältester Bruder, Philipp Heine, der sich als Elementarlehrer ausgebildet und in Bünde die Stelle übernommen hatte, riet meinem Vater, mich in Bielefeld zu Herrn Posener, dessen Privatunterricht ich schon früher genossen, gänzlich hinzugeben. Von Ostern 1830 besuchte ich auch das Gymnasium zu Bielefeld. In Quinta trat ich ein und stieg in einem Zeitraum von 2 3/4 Jahren bis Sekunda. Ohne eine Bestimmung vor Augen zu haben, hatte ich mit Lust und Freude gearbeitet, und machte mir schon im Stillen die Hoffnung, einst Universitäten besuchen zu können. Im Rathe der göttlichen Vorsehung war es anders beschlossen. Mein Bruder, durch dessen alleinige Unterstützung ich hier gelebt, ging am 2. Juni 1832 zu den Seeligen über, und ich stand abermals verwaist da. Herr Posener rieth mir, ich sollte mich als Elementarlehrer auszubilden suchen, und erlaubte mir, in seiner Schule mich im Unterrichten zu üben. Da mein Vater die Kosten am Gymnasium nicht bestreiten konnte, so mußte ich, nachdem ich drei Monate in Sekunda gesessen, dasselbe verlassen, und zog zu Herrn Posener. Allhier lernte ich und lehrte ich zugleich. Derselbe gab mir einige pädagogische
1836 Werke, als: Niemeyer, Dolz, Schwarze, Büdinger, P. Baer zum Selbststudium. In Erholungsstunden las ich einiges aus den deutschen Klassikern. Ich rechnete bei ihm aus Ehrlichs Heften, Brüche und [...]; zur Übung der deutschen Sprache benutzte ich: Splittergarb, Heusius und Heise, zur Geschichte: Bredow, Kohlrausch und Vormbaum; zur Physik: Nikolais Lehren von den natürlichen Dingen; zur Geographie: Gaspari und Volper; zum hebräischen Unterricht: Grammatik von Gesenius und von Cohn, und übersetzte ich fast die ganze Heilige Schrift aus dem Urtexte. Da mir gegenwärtig eine Hauslehrerstelle bei den Gebrüdern Goldschmidt in Rahden angeboten ist, so wage ich die gehorsamste Bitte, mir den Unterricht zu erlauben, und wünsche ich, mich zur nächsten Prüfung in einer unserer Provinzial-Seminarien examinieren zu lassen.“28
1837 Auf Empfehlung des Bielefelder Superintendenten Johann Scherr genehmigte die Bezirksregierung am 23.9.1834, dass Heine zunächst als Hauslehrer den Kindern der Gebrüder Goldschmidt in Rahden Unterricht erteilen dürfe, wenn er zum nächsten Termin eine Prüfung am evangelischen Seminar in Soest oder katholischen Seminar in Büren ablegte. Am 7.8.1835 bestand Bendix Heine seine Prüfung am Seminar in Büren vor einer Kommission, der offensichtlich auch der Schulreformer und Leiter des Seminars von Soest, Christoph Bernhard Ludwig Natorp, angehörte, mit einem Zeugnis Nr. III. Im selben Jahr besuchten von 28 schulpflichtigen jüdischen Schülern aus Großen- und Kleinendorf 12 die jüdische Schule.29 Ein Jahr später wurde es Heine gestattet, als Elementarschullehrer allen jüdischen Kindern von Kleinen- und Großendorf Unterricht zu erteilen.
1838 Nachdem der jüdische Lehrer der Schulaufsichtsbehörde einen Stundenplan vom 30.4.1836 eingereicht hatte, kritisierte diese, dass der Lehrer es versäumt habe, den Sachunterricht - Naturgeschichte, Geschichte und Geographie („Realien") - in seiner Unterrichtsplanung zu berücksichtigen. Außerdem sollten auch die Kleinsten (Klasse II) Bibelunterricht erhalten. Wenn sie noch nicht lesen könnten, sei Heine verpflichtet, ihnen aus Moses Büdingers deutschsprachiger Kinderbibel („Der Weg des Glaubens"<Derech Emunah>) vorzulesen. Heine gab beim Einreichen 28 StADt, M 1 II B Nr. 4000
1839 29 Vgl. StdtA Rahden, A 417; StADt, M 1 II B Nr. 4000. Siehe auch den Artikel von Karl-Ernst Jeismann über das Leben und das Werk von Christoph Bernhard Ludwig Natorp (1774-1846) in: Westfälische Lebensbilder. Hg. v. Robert Stupperich. Bd. XV. Münster 1990, S. 108-134
1840 187
1841 seines Stundenplans beim Landratsamt zu bedenken, dass wichtige Lehrmittel, Bücher und besonders eine Karte von Palästina fehlten, außerdem die Kinder noch nicht reif für den Sachunterricht seien. Die Schulaufsichtsbehörde forderte daraufhin den Landrat von Lübbecke auf, die Eltern der Schüler in Rahden anzuhalten, für die erforderlichen Lehrmittel zu sorgen.30
1842 Erst nach Gründung des „Vereins zur Beförderung von Handwerken unter den Juden und zur Einrichtung einer Schulanstalt, worin arme und verwaisete Kinder unterrichtet und künftige jüdische Schullehrer gebildet werden sollen" in Münster (28.11.1825) unter der Leitung des reformorientierten Nervenarztes und Universalhistorikers Alexander Haindorf und mit der
1843 Tabelle 54: Jüdische Lehrer in Rahden (1824-1925)
1844 Name Herkunftsort
1845 (Dienstorte)
1846 Funktionen (Zeit) Qualifikationen Honorar
1847 1. Ephraim Goldberg (Rahden; 1824:
1848 Borgholzhausen)
1849 Lehrer, Kantor,
1850 Schächter (1824)
1851 Zeugnis von Oberrabbiner
1852 Friedheim
1853 46 rthl p.a.; freie Kost und
1854 Logis
1855 2. Samuel Levi MILASLAWE/Posen
1856 (Rahden)
1857 Religionslehrer
1858 (1826/27)
1859 Zeugnis von Oberrabbiner
1860 Friedheim
1861 ?
1862 3. Bendix Bonn (Rahden) Religionslehrer bei J.
1863 Goldschmidt/W.
1864 Rosenberg (1829)
1865 Ausgebildet beim
1866 Rabbiner in Detmold
1867 50 rthl p.a.; kein freies Logis
1868 4. Caspar A. Weinberg SCHÖNLANKE/Posen
1869 (früher: Hausberge)
1870 Religionslehrer (1830) Atteste der jüd.
1871 Gemeinde Hausberge
1872 ?
1873 5. Wolf Joseph Prager GROßGLOGAU/Oberschlesien
1874 Religionslehrer
1875 (1830-?)
1876 Zeugnis eines
1877 Oberrabbiners; soll
1878 Nachprüfung bei
1879 Superintendent
1880 Müller/Blasheim
1881 machen
1882 ?
1883 6. Bendix Heine SCHILDESCHE
1884 (Rahden; seit 1844
1885 Herford)
1886 Zunächst Hauslehrer
1887 bei Gebr.
1888 Goldschmidt;dann
1889 Gemeindelehrer
1890 (1834-42)
1891 3 Jahre Gymnasium in
1892 Bielefeld; Prüfung am
1893 kath. Seminar in Büren
1894 ?
1895 7. Abraham Wolf (Rahden) Lehrer (1842) Ungeprüfter Kandidat
1896 des Seminars in
1897 Münster
1898 ?
1899 8. Aron Kaufmann TELGTE (früher:
1900 Castrop)
1901 Lehrer, Kantor
1902 (1842-1843)
1903 Examen am ev.
1904 Seminar in Soest
1905 (9.8.1839)
1906 80 rthl p.a.; freie Kost und
1907 Logis
1908 9. Levy Hellborn LICHTENAU Lehrer, Kantor
1909 (1843-1845)
1910 Examen am ev.
1911 Seminar in Soest
1912 (11.8.1842)
1913 70 rthl p.a.
1914 10. Lion Cahn OTTWEILER Lehrer, Kantor
1915 (1849-1852?)
1916 ? ?
1917 11. Levy Leffmann SENDENHORST Lehrer, Kantor
1918 (1852-1854)
1919 Ein Heft mit Attesten ?
1920 12. Wolf Blumenreich WARENDORF(früher:
1921 Lüthorst, Einbeck)
1922 Lehrer, Kantor
1923 (1854-1857)
1924 Examen am ev.
1925 Seminar in Soest
1926 188 rthl p.a.
1927 13. Philipp Leeser KERPEN (früher:
1928 Rüthen)
1929 Lehrer, Kantor
1930 (1857-1861)
1931 Zeugnis von Oberrabbiner
1932 Bodenheimer;
1933 Examen am ev.
1934 Seminar Soest
1935 ?
1936 14. Samuel Roos AHLEN Lehrer, Kantor
1937 (1861-1863)
1938 Abgangszeugnis
1939 Geldern
1940 300 rthl p.a.;
1941 2 Wochen Ferien
1942 15. Jesaias Mayer TELGTE
1943 (früher: Werther)
1944 Lehrer, Kantor
1945 (1863)
1946 Abschlussprüfung am
1947 Seminar Münster;
1948 Examen am ev.
1949 Seminar in Soest
1950 300 rthl. p.a.
1951 16. Elieser
1952 Liepmansohn
1953 RIETBERG
1954 (früher: Horn;
1955 Mönchengladbach)
1956 Lehrer, Kantor
1957 (1864)
1958 Besuchte das Seminar
1959 in Münster
1960 ?
1961 30
1962 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4000
1963 188
1964 17. Leffman Hope OELDE Lehrer, Kantor (1864) ? ?
1965 18. B. Silberberg OERLINGHAUSEN Lehrer, Kantor
1966 (1865-1870?)
1967 Attest der Regierung
1968 Arnsberg
1969 ?
1970 19. Mendel COESFELD Lehrer, Kantor
1971 (1870-1872)
1972 ? ?
1973 20. M. Neustädter ? geht nach Leipzig zur
1974 Weiterbildung
1975 Lehrer, Kantor
1976 (1872-1875)
1977 ? ?
1978 21. Joseph
1979 Liepmansohn
1980 OLFEN Lehrer, Kantor
1981 (1875-?)
1982 ? 1.020 Mark p.a.
1983 22. Julius Heimburg
1984 PADBERG
1985 (später: 6 Wochen
1986 Militärdienst)
1987 Lehrer, Kantor
1988 (?-1879)
1989 ? ?
1990 23. Louis Eber KERPEN Lehrer, Kantor
1991 (1879-1881)
1992 ? 1.000 Mark p.a.
1993 24. Leopold Mendel FAHR/Neuwied Lehrer, Kantor
1994 (1882-1883)
1995 Prüfung am Seminar
1996 Langenhorst
1997 900 Mark p.a.
1998 25. Julius Ransenberg CALLE (1882-83: Pr.
1999 Oldendorf)
2000 Lehrer, Kantor
2001 (1883-1888?)
2002 Examen am Seminar in
2003 Rüthen
2004 1.000 Mark p.a.
2005 26. Samuel Neuhaus BAUMBACH Lehrer, Kantor
2006 (1888-1892?) ? ?
2007 27. Moritz Friedländer ?; später: Posen Lehrer, Kantor
2008 (1892-1893)
2009 ? zunächst 900 Mark; dann
2010 1.050 Mark p.a.
2011 28. Max Rhein DORTMUND Lehrer, Kantor
2012 (1894-1925)
2013 1. Examen im Seminar
2014 Soest; 2. Examen am
2015 Seminar Petershagen
2016 1.505 Mark (1908)
2017 2.400 Mark (1919)
2018 20.000 Mark (1922)
2019 Quellen: StdtA Rahden, A 417; StADt, M 1 II B Nr. 4000; StdtA Borgholzhausen, A 441; Freund (1997) finanziellen Hilfe seines Schwiegervaters Elias Marks wurde dieses Lehrerseminar mit angeschlossener Übungsschule ein Zentrum der Ausbildung jüdischer Lehrer in Westfalen.31
2020 Die Finanzierung der Ausbildung jüdischer Lehrer und Handwerker in diesem Institut basierte allerdings hauptsächlich auf den freiwilligen Spenden jüdischer und christlicher Förderer.32 Die Vereinsarbeit wurde von Anfang an von dem Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, einem persönlichen Freund Professor Haindorfs, Ludwig von Vincke, der sowohl als Präsident dieses Vereins (1834-44) fungierte als auch Mitglied in der 1822 gegründeten Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden in den königlich-preußisch-westfälischen Gebieten war, wohlwollend gefördert. Landräte und Bürgermeister wurden angehalten, die Vereinsarbeit mit Hilfe von Ortspolizisten oder jüdischen Geschäftsführern, die Subskriptionslisten kursieren ließen, zu unterstützen. Im Kirchspiel Wehdem beispielsweise wurden im Jahre 1835 (3 rthl, 7 Sgr, 6 Pf), 1837 (4 rthl, 8 Sgr, 11 Pf) und 1839 (6 rthl, 16 Sgr, 9 Pf) unter nichtjüdischen Spendern für den Verein in Münster gesammelt 33 , während die erste vom Landrat und Bürgermeister für Lübbecke und Gehlenbeck im Dezember 1825 initiierte Spendensammlung mittels Subskriptionsliste für den Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden, der sich in Minden gebildet hatte, negativ verlief.34
2021 Auch die jüdischen Gemeinden in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W. waren dem Verein in Münster bis 1835 als Mitglieder beigetreten.35 Die jüdische Gemeinde Lübbecke z.B. unterstützte
2022 31 Vgl. Freund, S. 35, 38, 43f; Herzig, Arno: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973, S. 58f 32 Vgl. Freund, S. 53ff
2023 33 Vgl. Wiegel, Bert: Chronik von dem Kirchspiel Wehdem 1819-1879. Espelkamp 1994, S. 105, 110, 117 34 Vgl. Zassenhaus, Dieter: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde Lübbecke. Vom Spätmittelalter bis ins frühe 19. Jahrhundert. Lübbecke 1988, S. 63-66
2024 35 Vgl. Freund, S. 54, Fußnote 222
2025 189
2026 die Marks-Haindorf-Stiftung von 1876-93 mit einem jährlichen Betrag von 30 Mark aus ihrer Gemeindekasse.36
2027 Auf Kosten des Vereins in Münster wurden von 1825-71 insgesamt 346 jüdische Lehrlinge so weit gefördert, dass sie in den Provinzen Westfalen und in der Rheinprovinz eine Lehre aufnehmen konnten.37 Gleichzeitig begannen nach Freund von 1826-71 insgesamt 276 Lehramtskandidaten ihre Ausbildung im Seminar der Marks-Haindorfstiftung, von denen schließlich 244 ihre Abschlussprüfung ablegten.38 Nach Herzig wurden bis zum Tode Haindorfs (1862) in dem von ihm gegründeten Verein 200 Lehrer ausgebildet und 300 Handwerker in Lehrverhältnisse vermittelt.39 Da das Seminar der Marks-Haindorf-Stiftung im Unterschied zu der ihr angeschlossenen Elementarübungsschule und zu den jüdischen Lehrerseminaren in Kassel (gegr. 1824) und Hannover (gegr. 1848) niemals öffentlich-rechtlich anerkannt wurde und nicht prüfungsberechtigt war, waren seine Lehrerkandidaten gezwungen, an nichtjüdischen Seminaren ihre erste Lehrerprüfung zu absolvieren.40 Den quantitativen Erfolg des Lehrerseminars in Münster kann man daran erkennen, dass das Lehrer-Schülerverhältnis an jüdischen Schulen im Jahre 1847 in Preußen 1:27 betrug, in Westfalen aber ca. 1:16, während an christlichen Elementarschulen auf einen Lehrer 50 Schüler kamen.41 Während im Jahre 1847 im Regierungsbezirk Minden 63% der jüdischen Schüler jüdische Schulen besuchten und dieser Prozentsatz bis 1850 auf über 64% stieg, besuchten in ganz Preußen im Jahre 1847 nur 50%, im Jahre 1864 nur noch 47% der jüdischen Schüler im Pflichtschulalter jüdische Elementarschulen.42 Möglicherweise kann man aus diesen Zahlen schließen, dass die jüdischen Volksschulen in den ländlichen Gebieten Westfalens bei den jüdischen Eltern auf größere Akzeptanz stießen als in den preußischen Großstädten.
2028 Qualitativ gesehen bedeutete der Besuch des Seminars der Marks-Haindorf-Stiftung für die jüdischen Lehrer, dass sie im Vergleich zu einer Talmud Schule in einem erweiterten Fächerkanon ausgebildet wurden. Der Lehrplan für das Schuljahr 1833/34 umfaßte insgesamt 44 Wochenstunden, die sich auf die Fächer Hebräische Sprache (10 Std.), Pädagogik (2 Std.), Geschichte (2 Std.), Geographie (1 Std.), Mathematik und Kopfrechnen (4 Std.), Tafelrechnen (2 Std.), Deutsch (2 Std.), Französisch (4 Std.), Latein (10 Std.), Naturlehre (2 Std.), Zeichnen ( 2 Std.) und Gesang (3 Std.) verteilten. Bis zum Schuljahr 1869/70 wurde die Gesamtstundenzahl auf 50 Wochenstunden angehoben, wobei auf den Unterricht der Hebräischen Sprache nun 13 Stunden entfielen, der Unterricht in Latein um 9 Stunden und in Französisch um 2 Stunden verkürzt, stattdessen der Unterricht in Jüdischer Geschichte (1 Std.), Englisch (1 Std.),
2029 36 Vgl. StdtA Lübbecke, B 63.1
2030 37 Vgl. Freund, S. 74
2031 38 Vgl. ebd., S. 169
2032 39 Vgl. Herzig (1973), S. 58
2033 40 Vgl. Freund, S. 53
2034 41 Vgl. Herzig (1973), S. 58f
2035 42 Vgl. Freund, S. 174; Herzig (1973), S. 58, Fußnote 31; Toury, Jacob: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871. Düsseldorf 1977, S. 169
2036 190
2037 Psychologie (1 Std.), Musik (5 Std.), Turnen (2 Std.) neu eingeführt und auch die Wochenstundenzahl für die Fächer Pädagogik, Mathematik und Deutsch erhöht wurden.43 Die modellhaft koedukative, gruppenübergreifende und integrative Ausrichtung der Marks-Haindorf-Stiftung bestand darin, dass an ihrer angeschlossenen Übungsschule, die seit 1828 aufgrund der Organisation Professor Haindorfs den „Charakter einer christlich-jüdischen Gemeinschaftsschule" angenommen hatte, sowohl jüdische als auch katholische und evangelische Lehrer, darunter auch Geistliche, jüdische, katholische und evangelische Schüler - sowohl Mädchen als auch Jungen -, wenn auch im Fach Religion getrennt, unterrichteten.44
2038 Alexander Haindorf gehörte mit seinem Schwiegervater, dem Bankier Elias Marks aus Hamm, dem Kaufmann und Obervorsteher Levi Hellwitz aus Werl und den Ärzten David Heilbronn aus Minden und Philipp Wolfers, der in Lemförde praktizierte, als externe Mitglieder dem Berliner Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (1819-1824) an, der sich unter dem Eindruck der antisemitischen Hep-Hep-Unruhen gebildet hatte. Die Gründer dieses Vereins strebten ein Judentum an, „das nicht abgesondert - von außen durch Sonderrechte und von innen durch die strengen Bestimmungen der Halacha [i.e. das System des gesetzlichen Judentums] - im Staat existiert[e], sondern ein integraler Teil desselben [sein sollte]."45 Da die Wissenschaft des Judentums aber beabsichtigte, neue Methoden einzuführen, ohne den politischen Gegensatz zwischen einem pluralistischen liberal-bürgerlichen Verfassungsstaat einerseits und einem monarchistisch exklusiven, sich als christlich definierenden Stände- und Obrigkeitsstaat harmonisieren zu wollen, verwundert es nicht, dass das von Professor Haindorf organisierte Schulexperiment nach der Inthronisierung Friedrich Wilhelm IV. nicht weiter fortgeführt werden konnte. Obwohl die Übungsschule des Vereins zu Münster mit Hilfe des Oberpräsidenten von Vincke im Jahre 1839 zu einer öffentlich anerkannten Anstalt gemacht wurde und damit in den Genuss des Legats in Höhe von 25.000 Talern kam, das Elias Marks ausgesetzt hatte, durften seit Beginn der Regentschaft Friedrich Wilhelm IV. (1840) keine christlichen Schüler mehr diese Schule besuchen, da der zuständige Kultusminister Eichhorn eine reaktionäre Schulpolitik betrieb und das christliche Schulwesen im segregativen Sinne interpretierte und durchsetzte.46 Die Bezirksregierung Minden verordnete am 30.5.1844, dass jüdische Lehrer ausschließlich jüdische Kinder in den Klassenräumen der jüdischen Privatschulen unterrichten sollten, während es den jüdischen Lehrern gestattet wurde, einzelnen nichtjüdischen Kindern in der Wohnung ihrer Eltern
2039 43 Vgl. Freund, S. 160f
2040 44 Vgl. Herzig, Arno: Alexander Haindorfs Bedeutung für die Pädagogik in Westfalen, in: Westfälische Forschungen, Bd. 23 (1971), S. 65ff. Die Israel-Jacobson-Schule in Seesen (gegr. 1801) nahm schon seit 1805 christliche Schüler auf. Siehe Schoeps, Hans-Joachim: Alexander Haindorf, in: Stupperich, R. (Hg.): Westfälische Lebensbilder. Bd. XI. Münster 1975, S. 107
2041 45 Livné-Freudenthal, Rachel: Der „Verein für Wissenschaft und Cultur der Juden (1819-1824)“ zwischen Staatskonformismus und Staatskritik, in: TAJB, Bd. XX (1991), S. 107
2042 46 Vgl. Freund, S. 126-135; Herzig (1971), S. 66f
2043 191
2044 oder in ihrer eigenen Wohnung in solchen Fächern wie z.B. Rechnen, Zeichnen und neueren Sprachen Unterricht zu erteilen.47
2045 Noch Jahre später wurde diese Trennungspolitik vom preußischen Staat aufrechterhalten. Als Salomon Blumenau, der auch im jüdischen Seminar in Münster ausgebildet worden war und seine erste Prüfung am Seminar in Soest abgelegt hatte, bei Antritt seiner Lehrerstelle in Lübbecke im Herbst 1852 der Bezirksregierung durch den Bürgermeister sein Gesuch übermittelte, „christliche Kinder in den Elementar-Unterrichts-Gegenständen unterrichten zu dürfen", wurde dieser Antrag, der das Ziel der Assimilation mittels christlich-jüdischer Koedukation in der Tradition der Jacobson Schule in Seesen verfolgte, nach über zwei Jahren vom preußischen Innenministerium abgelehnt.48
2046 Es muss davon ausgegangen werden, dass die jüdischen Lehrer, die das Seminar der Marks-Haindorf-Stiftung besucht hatten, die Methoden und Inhalte, die sie erlernt hatten, in ihrem täglichen Unterricht an die ihnen anvertrauten Kinder weitergaben. Alexander Haindorf betonte in seiner Pädagogik die Ganzheitsmethode beim Lesen, kontextuelles Lernen, den Gesangunterricht zur Veredlung von „Herz und Gemüt" und er stimmte dem englischen Arzt John Reid (1776-1822), dessen „Essays on Hypochondrical and other Nervous Affections" (London 1816) er ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen hatte, darin überein, dass es ‚[...] kein passenderes Mittel zur Heilung sowohl als zur Verhütung der sogenannten Nervenübel [gebe] als körperliche Bewegung.' Außerdem empfahl Haindorf in seiner Pädagogik das Kopfrechnen zur Übung des Gedächtnisses.49
2047 In Werther verpflichtete sich der Lehrer Baruch Weingarten in § 2 seines Anstellungs-vertrages vom 20.10.1884 „[...] die schulpflichtigen Kinder aller Gemeindeglieder in allen Realien [i.e. Naturwissenschaften, Sachkenntnissen] einer Elementarschule, in der jüdischen Religion und den nöthigen hebräischen Wissenschaften [sic][zu unterrichten], und zwar täglich fünf Stunden nach einem zu entwerfenden Stundenplan und verspricht mit Treue und Gewissenhaftigkeit dieser Pflicht nachzukommen."50 Der Stundenplan dieses Lehrers für das Schuljahr 1884/85 zeigte, dass er seine Schüler in drei Lern- oder Altersgruppen („Classen") einteilte und von Sonntag bis Freitag die Fächer Deutsch, Religion, Bibel, Hebräisch, Rechnen, Geographie, Raumlehre, Zeichnen, Naturkunde, Weltgeschichte und Gesang unterrichtete. Turnunterricht wurde spätestens während der Dienstzeit des Lehrers Benjamin Stiefel (1892-1904) im Sommer zwei Stunden wöchentlich erteilt.
2048 Außerdem erwartete die jüdische Gemeinde Werther von dem Lehrer Baruch Weingarten, dass er das Kantorat ausübte. § 4 seines Anstellungsvertrages lautete:
2049 47 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 441
2050 48 Vgl. StdtA Lübbecke, B 63.3; Minninger, Monika: Salomon Blumenau aus Bünde (1825-1904). Lehrer, Kantor, Prediger, Freimaurer, Autor, in: Ravensberger Blätter, Heft 1, S. 9
2051 49 Zitiert nach Beckmann, Wolfgang: Alexander Haindorf (1782-1862). Leben und Wirken eines jüdischen Arztes, Schriftstellers, Kunstsammlers, Professors und Philantrophen. Münster 1960, S. 56f; vgl. Herzig (1971), S. 71 50 StADt, M 1 II B Nr. 4015
2052 192
2053 „p. Weingarten leitet nach dem Ermessen des Vorstands innerhalb der jüdischen Religion den öffentlichen Gottesdienst, mit Ausnahme von Krankheits- oder religionshinderlichen Fällen als Kantor an Sabbat- und Festtagen, am Neujahr- und Versöhnungsfeste und muß ihm an den beiden zuletzt genannten Festen ein Hülfscantor auf Kosten der Gemeinde zur Seite stehen."51
2054 Die beiden Lehrer, die die längste Zeit im Kreis Lübbecke ihren Gemeinden in pädagogischer und kultischer Hinsicht dienten, waren Max Lazarus in Lübbecke und Max Rhein in Rahden. Max Lazarus wurde am 26.5.1869 als Sohn eines Seifensieders im Trierer Vorort Zurlauben geboren, besuchte sechs Jahre lang das Lehrerseminar der Marks-Haindorf-Stiftung, wo er am 18. Januar 1889 seine Abschlussprüfung bestand. Anschließend absolvierte er am 1.3.1889 seine erste Lehrerprüfung am Seminar zu Soest.52 Bevor Lazarus seine Lehrer- und Kantorenstelle im Mai 1892 in Lübbecke antrat, hatte er von Mai 1889 bis April 1892 in der Synagogengemeinde Meschede im Sauerland gearbeitet.53 In Lübbecke war Max Lazarus von 1892 bis nach der Reichspogromnacht als Lehrer und Kantor tätig. Er unterrichtete nicht nur die jüdischen Kinder aus Lübbecke, sondern erteilte auch den Kindern im benachbarten Preußisch Oldendorf und in Buer (Kreis Melle) während der 1890er Jahre Religionsunterricht und gab einigen christlichen Schülern der höheren Stadtschule in Lübbecke Nachhilfeunterricht.54 Nach Ostern 1908 unterrichtete Max Lazarus in der 2. Klasse der neugebildeten Fortbildungsschule in Lübbecke die Fächer Handelsbetriebslehre, Wechselkunde, Buchführung, kaufmännisches Rechnen, Schriftverkehr und Handelsgeographie. Insgesamt war Max Lazarus über 20 Jahre lang an der örtlichen Berufsschule tätig. Während des Ersten Weltkriegs unterrichtete Lazarus auch die unteren Klassen der Höheren Stadtschule und der Töchterschule.55 Am Ende des Ersten Weltkrieges (Ostern 1918-Ostern 1921) wurde auf Initiative des Lübbecker Bürgermeisters Pütz und des Landrates von Borries eine Familienschule im Sitzungssaal des Kreishauses gegründet, in der Lazarus einen Sohn des Landrates, einen Sohn eines Zigarrenfabrikanten, einen Sohn eines Bankbeamten und zwei Töchter einer Landadligen unterrichtete.56 Während der Weimarer Republik leitete Lehrer Lazarus zwei Arbeitergesangvereine und war z.B. an der musikalischen Gestaltung des Verfassungstages am 11. August 1929 beteiligt.57 In der NS-Zeit sorgte sich Max Lazarus um den Religionsunterricht für die jüdischen Kinder aller vier damals im Kreis Lübbecke bestehenden Gemeinden. Zu Chanukkah 5694 (13.12.1933) beispielsweise trugen die Kinder aus den vier Gemeinden Lübbecke, Preußisch Oldendorf, Levern und Rahden von Max Lazarus selbst verfasste Gedichte im Hause Heine in Rahden vor. Lore Weinberg (9 Jahre), die zehn Jahre später nach Auschwitz verschleppt wurde, spielte die Rolle des Juda Makkabi.58 Der Text lautet wie folgt:
2055 „Bin Juda Makkabi, der Hämmerer, genannt. In ungleichem Kampfe stand ich für mein Land. Mit winzigem Heere wir stritten den Streit. Die Gottesfahne gab uns das Geleit. 'Wer ist wie Du, Ewiger, verherrlicht durch Macht?' Das war unsere Stärke in heisser Schlacht. 51 Ebd.
2056 52 Vgl. StdtA Lübbecke, B 63.1
2057 53 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 13.3
2058 54 Vgl. Lazarus, Erinnerungen, S. 93, 99
2059 55 Vgl. ebd., S. 151-53, 175
2060 56 Vgl. ebd., S. 180
2061 57 Vgl. StdtA Lübbecke, C 1.30; Zassenhaus, S. 101f
2062 58 Vgl. Jüdische Rundschau Nr. 3 vom 9.1.1934; Mitteilung von Dr. Lore Shelley an Verfasser
2063 193
2064 Gott unser Sieg, Gott unser Schwert. Juda Makkabi das Heil'ge erwehrt. Gerettet den Tempel, aufs neue geweiht. Nun flammet, ihr Lichter, bringt glückliche Zeit! Nun ruhet mein Schwert. Die Hand dem Altar ich weihe mit meiner Kämpfer Schar. Kommt aber für Israel neue Not, ich hämmere, fürchte nicht den Tod. Denn Juda Makkabi heisst Hämmerer sein, nicht Menschen fürchten, nur Gott allein. Ihr Brüder in Israel, folget mir nach! Für Euer Heiligstes kämpfet, seid wach! O, hämmert es heute jedem ein: 'Du mußt Jude, Juda Makkabi sein!'"59
2065 Das alljährliche achttägige Chanukkahfest erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels durch Juda Makkabi (Dez. 165 v.Chr.) nach der Entweihung durch die Seleukiden. „Nach einer talmudischen Legende reichte das wenige Öl, das die Makkabäer im Heiligtum vorfanden, in wunderbarer Weise acht Tage; zur Erinnerung daran wird am Chanukka-Leuchter, beginnend mit einem Licht am ersten Tag, acht Tage lang jeweils ein weiteres Licht angezündet."60
2066 In dem an der Synagoge von Rahden angeschlossenen Schulraum erteilte Max Lazarus den Kindern in den Sommermonaten noch bis zum Laubhüttenfest im September 1937 Religionsunterricht, und der Viehhändler Richard Haas, 1. Vorsitzender der Gemeinde Rahden, wurde von ihm als Vorbeter geschult.61
2067 Nach seiner Pensionierung bewarb sich Max Lazarus im Jahre 1936 als Kultusbeamter in der Gemeinde Vlotho und wurde nach Abhaltung eines Probegottesdienstes auch dort angenommen. Bis zur Pogromnacht leitete Max Lazarus weiterhin die Gottesdienste in der Synagoge von Lübbecke. Lore Weinberg (*19.2.1924) fuhr mit ihrem Fahrrad vor den jüdischen Feiertagen zu den einzelnen Familien, um ihnen das Einladungsprogramm des Festtagsgottesdienst zu überbringen:
2068 „Ich war die letzte in Lübbecke, die das Zirkular zu den jüdischen Familien brachte. Das Zirkular enthielt das Programm des Festtagsgottesdienstes, das in feinster Sütterlin Handschrift von Lehrer Lazarus geschrieben worden war und in einem Aktendeckel oder einer Kladde steckte. Vor den Feiertagen Pessach, Schawuoth, Sukkoth, Rosh-ha-Shana und Yom Kippur peddelte ich per Rad zu allen Gemeindemitgliedern und zeigte ihnen das Zirkular. Der Gottesdienst fand gewöhnlich um die gleiche Zeit statt, und die Leute wußten im voraus, was im Zirkular stand. Nichtsdestoweniger studierten sie das einzige Exemplar sehr genau und gaben es mir zurück. Es war Usus, daß die Überbringer des Zirkulars mit Süßigkeiten belohnt wurden. Als noch viele jüdische Kinder in Lübbecke waren, gab es wahrscheinlich eine strenge Reihenfolge, nach welcher die Zirkulanten ausgesucht wurden. In den Mitt- und späten Dreißiger Jahren war ich die einzige, und ich bestand darauf, nie irgend etwas als Entgelt zu akzeptieren. Also radelte ich von Hechts zu Rubens, zu Neustädters, Wolffs, Hurwitz, Lazarus, Schöndelns, Rosenbergs, Löwensteins, Blochs, Levys und Steinbergs, manchmal in Begleitung meines Drahthaarterriers Juppi."62
2069 Am 14.3.1939, vier Monate nach der Pogromnacht, sah sich Max Lazarus unter dem Druck des deutschen Gestapo- und Terrorstaats gezwungen, mit seiner Frau Julie auf dem Dampfer „Palestina" von Triest nach Erez Israel auszureisen, wo er sich zunächst im Kibbutz Rodges, später im religiösen Kwutzat Jawne ansiedelte.63
2070 Mit seinem Kollegen Max Rhein, der in der Nachbargemeinde Rahden von 1894 bis 1925 als Lehrer und Kantor tätig war, verband Max Lazarus eine tiefe kollegiale Freundschaft. Max Rhein wurde am 1.12.1872 in Dortmund als Sohn des Metzgers Moses Rhein geboren, und besuchte die Marks-Haindorf-Stiftung in Münster. Er bestand seine erste Lehrerprüfung am Seminar in Soest 59 National Library, Hebrew University Jerusalem: Lazarus, Max: Für unsere Jugend. Ausgewählte Gedichte von Lehrer Max Lazarus. Lübbecke i.W. 1935, S. 3
2071 60 Maier, Johannes; Schäfer, Peter: Kleines Lexikon des Judentums. Stuttgart/Konstanz 1987, 2. Aufl., Eintrag „Chanukka-Fest“, S. 67f
2072 61 Vgl. StADt, M 2 Nr. 1779; Mitteilung von Walter Hoffman an Verfasser
2073 62 Brief von Dr. Lore Shelley vom 17.1.1993 an Verfasser
2074 63 Vgl. Lazarus, Erinnerungen, S. 146
2075 194
2076 am 10.2.1893 und seine zweite Prüfung am Seminar in Petershagen am 7.10.1896. Lehrer Rhein soll Unterricht in den Fächern Deutsch, Hebräisch, Religion, Mathematik und Fremdsprachen erteilt haben.64
2077 Von allen jüdischen Elementarschulen in den Kreisen Lübbecke und Halle i.W. wurden allein die Gesuche der jüdischen Gemeinde Rahden - unterstützt vom Verband der Synagogen-Gemeinden Westfalens - zur Umwandlung ihrer Schule in eine öffentliche schließlich im Jahre 1908 stattgegeben. Vorsteher Daniel Oppenheim hatte zur Begründung seines Gesuchs vom 27.6.1907 darauf verwiesen, dass die private Elementarschule in Zukunft nicht mehr von der Synagogengemeinde Rahden getragen werden könne, wenn die Gemeinde nach einem Gesetz vom 1.4.1908 auch zu den lokalen Schullasten beitragen müsse. Oppenheim wies nach, dass ein Bedarf für eine jüdische Volksschule bestehe, da die Zahl der schulpflichtigen jüdischen Schüler, die im Jahre 1908 22 betrug, bis 1911 auf 25 steigen würde.65 Tatsächlich ordnete die Bezirksregierung an, dass nach § 66 des Gesetzes vom 23.7.1847 und § 40 des Volksschulunterhaltungsgesetzes vom 28.7.1906 zum 1.7.1908 ein jüdischer Schulverband gebildet werden, der die jüdischen Hausväter der Gemeinden Großendorf und Kleinendorf umfasste, und die jüdische Privatschule zu einer öffentlichen erhoben werden sollte. Für das Jahr 1909 trugen die Gemeinden Kleinendorf und Großendorf 750 Mark, der Staat 300 Mark zum Unterhalt der Schule bei, insgesamt ca. 70% des Grundgehaltes für den Lehrer Max Rhein.66
2078 Da im Ersten Weltkrieg mindestens vier Lehrer der evangelischen Volksschule zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, wurde die jüdische Volksschule mit der evangelischen vereint. Lehrer Max Rhein unterrichtete von 1915 bis 1917 die jüdischen und nichtjüdischen Schüler dieser Schule gemeinsam und erteilte nur den jüdischen Religionsunterricht separat.
2079 Schon Ende 1925 wurde die jüdische Schule von Rahden mit Erlass vom 11.11.1924 allerdings wieder aufgelöst. Max Rhein verzog im Jahre 1928 und die schulpflichtigen jüdischen Kinder (1923: 10 Schüler) besuchten fortan die evangelische Volksschule in Rahden. Als Lehrer Rhein am 12.7.1937 in Ladenburg am Neckar starb, wurde seine Urne in einem Holzsarg nach Rahden überführt und auf dem jüdischen Friedhof in Alt-Espelkamp beigesetzt. Vermutlich hielt sein langjähriger Kollege Max Lazarus die Leichenrede.67
2080 Die jüdische Privatelementarschule in Levern, die räumlich mit der neuen Synagoge von 1873 verbunden war, wurde am 1.6.1921 aufgelöst. Nach Hillebrand waren 17 jüdische Lehrer im Zeitraum von 1854 bis 1921 an diesem Ort tätig. Max Lazarus erteilte auch den Kindern aus Levern seit 1920 Religionsunterricht und bereitete die Jungen auf die Bar Mizwa vor.68
2081 64 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4000; Lazarus, Erinnerungen, S. 44; Ester-Hartke, Ursula (Bearb.): Sie lebten mitten unter uns. Spurensuche in Rahden. Geschichtswerkstatt der Hauptschule Rahden. Rahden 1997, S. 23 65 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4000; StdtA Lübbecke, C I 13.3
2082 66 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4000
2083 67 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4000; Schreiben Stadtarchiv Rahden an NRW Städte- und Gemeindebund in Düsseldorf vom 28.3.1987; Ester-Hartke, Spurensuche, S. 19f, 23
2084 68 Vgl. Hillebrand (1996), S. 60-64
2085 195
2086 An der jüdischen Volksschule in Preußisch Oldendorf unterrichteten von 1859 bis 1883 fünf Lehrer. Für seine Dienste als Elementar- und Religionslehrer und Vorbeter erhielt Julius Ransenberg laut Vertrag vom 20.8.1882 ein jährliches Gehalt von 800 Mark, ein freies möbliertes Zimmer inklusive Bettwäsche im Schulgebäude, zudem freie Heizung und Aufwartung. Die Wohnung in dem jüdischen Schulhause bestand a) aus der Wohnstube und der Schlafkammer rechts von der Straße, b) einer Küche, c) Stallung und der darüber befindlichen Kammer, d) Baderäume und die Mitbenutzung des Brunnens. Heuerling Johann Heinrich Wilhelm Knippenberg aus Engershausen, der die Wohnung seit 1857 gemietet hatte, verpflichtete sich nach § 5 des Vertrags vom 22.7.1879 für den Fall, dass die Synagogengemeinde von Preußisch Oldendorf einen Lehrer und Kultusbeamten anstellte,
2087 „die Wohnstube des Lehrers und Cultusbeamten zu heizen und zu reinigen und die erforderliche Aufwartung für den angestellten Beamten [sic] so wie täglich das Bettenmachen nach dem Wunsche desselben zu besorgen. Ferner übernimmt derselbe das Schullocal zu heizen und in gehöriger Wärme zu erhalten so wie die freie Befeuerung des Feuerungs Material für das Schullocal und der Wohnung des anzustellenden Beamten, ebenso die unentgeldliche Reinigung des Schullocals und der Schornsteine."69
2088 Der Mieter der Schulwohnung erfüllte Hausmeisterdienste. Er war nicht nur für die Straßen- und Schornsteinreinigung verantwortlich, sondern führte auch Reparaturen aus und sorgte, wenn nötig, für einen frischen Farbanstrich. Die jüdische Gemeinde von Preußisch Oldendorf erwartete auch von dem Mieter der Schulwohnung, dass er die Synagoge reinigte und die Lichter vor jedem Gottesdienst anzündete und nachher wieder löschte.
2089 Laut Vertrag vom 19.9.1883 übernahm Adolf Neuhof aus Lübbecke einmal wöchentlich als Wanderlehrer den Religionsunterricht der schulpflichtigen Kinder in dieser Gemeinde, und zwar zunächst für ein Jahr. Bestandteil dieses Unterrichts war die Einführung der Kinder in die hebräische Sprache verbunden mit dem Übersetzen aus dem Gebetbuch und dem Pentateuch.70 Da dieser Lehrer in Lübbecke bis 1885 angestellt wurde, ist es wahrscheinlich, dass er mehrere Jahre als Religionswanderlehrer für die Gemeinde Preußisch Oldendorf tätig war. Ab Winter 1898/99 bis ca. 1904 wurde Max Lazarus als Religionslehrer angestellt. Im Winter ging er die jeweils 10 km lange Strecke von Lübbecke nach Oldendorf und zurück zu Fuß, in den anderen Jahreszeiten benutzte er sein Fahrrad.71
2090 In der Synagogengemeinde Werther, Kreis Halle i.W., wurden im Zeitraum von 1809 bis 1914 mindestens 21 Lehrer angestellt. Der letzte, Friedrich Kaiser, hatte die Präparandenschule Burgpreppach und das Seminar in Kassel besucht und wurde Ende August 1914 als Ersatzreservist in die dritte Kompanie des Reserve Infanterie Regiments 15 nach Köln-Rhiel einberufen. Zwar versprach Vorsteher Moses Aron Weinberg, ihn nach Beendigung des Krieges wieder einzustellen, doch schweigen die Quellen über seine Wiederkehr. Den Ersten Weltkrieg
2091 69 CAHJP, Pr. Oldendorf S/319/2
2092 70 Vgl. ebd.
2093 71 Vgl. Lazarus, Erinnerungen, S. 93
2094 196
2095 überlebte dieser Lehrer. Während des Zweiten Weltkriegs jedoch wurde er von Köln im Jahre 1942 von den Nationalsozialisten nach Minsk verschleppt und vermutlich dort ermordet.72
2096 Der Bürgermeister von Borgholzhausen, Christian Bloebaum, beschrieb den Zustand der jüdischen Schule am 2.8.1824 auf Anfrage des Landrates Friedrich von der Decken wie folgt: „Ein Schulzimmer ist hier vorhanden, und zwar im Vor-Local des Israelitischen Tempels [sic] hierselbst. Es wird darin auch (wenn ein Lehrer frei ist) im Sommer unterrichtet, im Winter aber, da steht er bald an einem Ofen, bald an der dazu nöthigen Feuerung und muß dann oft die Schule Wochen ja Monate lang ausgesetzt werden."73
2097 19 Jahre später berichtete derselbe Bürgermeister, dass die jüdische Gemeinde ein separates Schulzimmer angemietet habe, weil der Schulraum in der Synagoge „seiner Unzweckmäßigkeit wegen" nicht benutzt werden könne. Für das 19. Jahrhundert lassen sich wenigstens 15 Lehrer nachweisen, die als Religionslehrer, manche auch als Elementarlehrer und Vorbeter am Ort tätig waren.74 Da dem Lehrer Jacob Meyerson, der selbst aus Borgholzhausen stammte, im Jahre 1856 der Unterricht an der jüdischen Elementarschule versagt wurde, weil er vermutlich keine erste Lehrerprüfung an einem nichtjüdischen Seminar abgelegt hatte, die Regierung in Minden auch nicht bereit war, einen staatlichen Zuschuss zur Unterhaltung eines Privatlehrers zu gewähren, und andererseits die Zahl der schulpflichtigen jüdischen Kinder der Gemeinde zurückging, besuchten sie in den folgenden 28 Jahren die christliche Volksschule am Ort. Erst nachdem die Synagogengemeinde Borgholzhausen in den Genuss einer testamentarischen Schenkung der ehemaligen Gemeindemitglieder, Eheleute Schoenbaum aus Osnabrück, in Höhe von 3.000 rthl (9.000 Mark) im Jahre 1884 gekommen war, stand die Finanzierung der jüdischen Privatschule auf soliden Füßen. Die Eheleute hatten in ihrem Testament vom 11.5.1863 ausdrücklich bestimmt, dass die Zinsen des Kapitals zur Besoldung eines jüdischen Lehrers verwendet werden sollten. Daher war die Synagogengemeinde am 16.3.1884 in der Lage, mit Moses Plaut einen Anstellungsvertrag abzuschließen, der vorsah, dass Plaut für seine Dienste als Elementarlehrer und Vorbeter ein jährliches Gehalt von 1.000 Mark erhalten sollte.75
2098 Seit 1892 wurden Religionswanderlehrer durch den Verband der Synagogengemeinden Westfalens vermittelt. Beispielsweise war David Baum als Wanderreligionslehrer für die Kinder der Gemeinden in Borgholzhausen, Halle i.W. und Versmold in der Zeit vom 15.12.1892 bis 1.4.1897 und von 1900 bis 1902 tätig. Die Etataufstellungen der Gemeinde Borgholzhausen von 1895 bis 1905 weisen nach, dass in den Jahren 1902 bis 1904 der in Werther angestellte Lehrer Benjamin 72 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 4016; Rogmann, Gabriele (Bearb.); Matzerath, Horst (Red.): Die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Köln. Gedenkbuch. Köln 1995, S. 223
2099 73 StdtA Borgholzhausen, A 441
2100 74 Vgl. StdtA Borgholzhausen, A 975; StdtA Werther, A 72; StADt, M 1 II B Nr. 3957. Einer der jüdischen Lehrer, die in Borgholzhausen Kinder unterrichteten, war Jonas Bendix Cramer (*14.6.1824 in Werther, gest. 21.8.1892 in Neuenkirchen im Amt Rietberg). Seine Eltern waren Bendix Cramer und Hannchen Levi aus Werther. In Borgholzhausen wirkte er von 1844-46, danach war er in Viersen als Lehrer tätig. Seit 1851 diente er länger als 40 Jahre als Lehrer und Kultusbeamter der jüdischen Gemeinde Neuenkirchen im Amt Rietberg. Siehe: Die Juden der Grafschaft Rietberg. Hg. v. Heimatverein Neuenkirchen und der Stadt Rietberg. Rietberg 1997, S. 73, 97, 99, 213f, 247f 75 Vgl. StADt, M 1 II B Nr. 3957
2101 197
2102 Stiefel und in den Jahren 1905 und 1906 sein Nachfolger Hugo Blumenfeld den Kindern in Borgholzhausen und Bad Rothenfelde Religionsunterricht erteilten.76
2103 Im Unterschied zu den Verhältnissen in den Gemeinden Borgholzhausen und Werther wurde in Versmold keine jüdische Volksschule dauerhaft unterhalten. Die acht nachweisbaren Lehrer wurden in erster Linie als Religionslehrer, Vorbeter und Schächter angestellt, während die jüdischen Kinder häufig die christliche Volksschule besuchten oder Privatunterricht von nichtjüdischen Lehrern erhielten. Eine Ausnahme machte Samuel Goldschein (geb. ca. 1788 in Pless/Oberschlesien), der für die Kinder der Gebrüder Weinberg in Bockhorst als Familien- und Elementarlehrer für die Fächer Deutsch und Hebräisch in den Jahren 1851-58 angestellt wurde. 77 Im Jahr 1905 wurde ein Lehrer namens Stein und im Jahr 1909 Hugo Rosenthal, beide aus Gütersloh, als Religionswanderlehrer verpflichtet.78
2104 76 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 816; StdtA Borgholzhausen, B 62.4.1
2105 77 Vgl. StdtA Versmold, A 1238; KAGt, H 3 H LR1 170.6
2106 78 Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege, Jahrbücher 1905, 1909 (17. u. 19. Jg.). Hg. v. Bureau des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Berlin. Zum Lebenslauf von Hugo Rosenthal (*14.12.1887- 6.12.1980) siehe Freund (1997), S. 190f, Fußnote 73 und neuerdings Prüter-Müller, Micheline; Schmidt, Peter Wilhelm A. (Hgg.): Hugo Rosenthal (Josef Jashuvi) Lebenserinnerungen. Bielefeld 2000
2107 198
2108 4.6 Zur jüdischen Wohltätigkeit
2109 „Wohltätigkeit ist für Juden eine der höchsten Formen der Frömmigkeit. Schopenhauers Idee war, daß Ethik durch Mitleid hervorgerufen wird, erregt durch das Leiden unserer Mit-Menschen. Für Juden muß Mitleid mit sozialer Gerechtigkeit verbunden sein. Wohltätigkeit auf hebräisch heißt 'Zedakah' und bedeutet Gerechtigkeit. Jede jüdische Gemeinde hat einen Spezialfonds für Hilfsbedürftige, jedes jüdische Kind wird schon früh dazu angehalten, den Armen zu helfen, und das bezieht sich nicht nur auf Glaubensgenossen."1
2110 Diese Sätze stammen von Dr. Lore Shelley (*19.02.1924 in Lübbecke), die als 19jährige junge Frau nach Auschwitz verschleppt wurde, wo sie u.a. gezwungen wurde, als Sekretärin im Kommandanturgebäude (Auschwitz I) bis zur Auflösung des größten Vernichtungslagers des SSStaates Todeslisten zu bearbeiten, stereotype Beileidsschreiben aufzusetzen und Sterbeurkunden für ermordete, verstorbene und hingerichtete jüdische und nichtjüdische Häftlinge zu schreiben.2
2111 Die zum Teil gruppenübergreifende jüdische Wohltätigkeit fand im 19. und 20. Jahrhundert ihren sozialen Ausdruck in den jüdischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes in Form von wohltätigen Vereinen, gemeinschaftlich finanzierten Kassen für wohltätige Zwecke, in testamentarischen Schenkungen, Legaten und freiwilligen Spenden. Gruppenübergreifend war diese Wohltätigkeit, wenn sie auf jüdische und nichtjüdische Empfänger ausgerichtet war. Sofern jüdische wohltätige Gaben für nichtjüdische Empfänger bestimmt waren, bildeten sie meistens eine zusätzliche Hilfe, denn die nichtjüdischen Bedürftigen konnten auch Unterstützungen z.B. von der örtlichen Armenkasse oder anderen wohltätigen Vereinen wie dem Vaterländischen Frauenverein erwarten.3
2112 Die Gründung eines Israelitischen Frauenvereins in Lübbecke im Jahre 1848 beruhte nicht auf revolutionären Einsichten, sondern auf uralten jüdischen Tugenden und Werthaltungen. Nach § 2 des Statuts vom Januar 1852 bezweckte der Verein, zunächst die Bedürftigen in der eigenen Gemeinde zu unterstützen, daneben aber auch allgemeine Wohltätigkeit auszuüben.4 Als Vorstandspersonen wurden jährlich eine Vorsteherin und eine Rendantin und ihre Stellvertreterinnen gewählt (§ 7). Allerdings konnte die Rendantur nicht nur von einer Frau verwaltet werden, sondern wurde offensichtlich in manchen Jahren doppelt besetzt, d.h. auch dem amtierenden Lehrer anvertraut. So würdigte Lehrer Heinemann Leeser als Rechnungsführer die Leistungen des jüdischen Frauenvereins von Lübbecke im Rahmen seines 25jährigen Jubiläums, indem er ausdrücklich auf Hebräisch einen Spruch aus den Sprüchen der Väter (hebr. Pirkei Avot, 1:2) zitierte. Das Protokoll vom 11. Januar 1873, das von Sara Vogel als Vorsteherin und Julie Löwenstein als Rendantin unterschrieben wurde, berichtete von dieser Jubiläumsfeier wie folgt: „[...] Nach gemeinschaftlichem Abendessen, gewürzt durch Scherz und heitere Unterhaltung, überreichte die Vorsteherin, Frau C. Hecht, im Namen der Versammlung dem Lehrer Leeser, Rechnungsführer des Vereins, begleitet mit sehr angemessenen Worten, einen vergoldeten silbernen Vorlegelöffel, als Andenken an die schöne Feier. Nachdem der Lehrer Leeser seinen tiefgefühlten Dank ausgesprochen, hielt derselbe mit Anknüpfung an die Worte Al schlaucho deworim hoaulom omed, al hatauro, al haawaudo weal gemiluth chassodim [dt. Auf drei Worten basiert die ganze Welt: auf der Weisung (Thora), auf dem (Gottes-) Dienst (Avoda) und auf 1 Brief von Dr. Lore Shelley vom 17.1.1993 an Verfasser
2113 2 Vgl. Shelley, Lore (Hg.): Schreiberinnen des Todes. Lebenserinnerungen internierter Frauen, die in der Verwaltung des Vernichtungslagers Auschwitz arbeiten mußten. Bielefeld 1992, S. 117-119 3 Vgl. Beckmann, Volker: Aus der Geschichte der Jüdischen Gemeinde Lübbecke 1830-1945. Vom Vormärz bis zur Befreiung vom Faschismus. Lübbecke 1994, S. 57-61
2114 4 Vgl. Lazarus, Max: Erinnerungen. Hg. v. Hans Chanoch Meyer. Dortmund 1967, S. 217
2115 199
2116 Liebeserweisen (gemiluth chassadim)]5 einen Vortrag über Entstehung und Entwickelung des Vereins, über dessen wohlthätige Wirksamkeit für Schule, Synagoge, vorzugsweise aber als Institut für Hülfsbedürftige des hiesigen Ortes, der benachbarten Orte u. weiterer Kreise. Den Verein dem ferneren Segen Gottes empfehlend, schloß er mit den Gebetsworten Ps. 90, 17."6
2117 Auf dieser Jubiläumssitzung bewilligten die ca. 24 Vereinsmitglieder je eine Spende für die Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (2 rthl), für Familie M. Meier in Lübbecke (6 rthl) und für den deutschisraelitischen Lehrerverein (20 Sgr). Außerdem beschloss der Verein, für die Kosten eines neuen Kronleuchters in der Synagoge von Lübbecke und für die Beleuchtung am Kol Nidre (dt. alle Gelübde) Abend (Versöhnungsfest) aufzukommen.7 Der Versöhnungstag (hebr. Jom Kippur = dt. langer Tag) ist der höchste Buß- und Fastentag im jüdischen Festtagszyklus.
2118 Die Mitglieder des jüdischen Frauenvereins trafen sich jährlich zu einer Generalversammlung jeweils im Haus der im vorigen Jahr gewählten Vorsteherin oder Rendantin. Zunächst berichtete die Rendantin über die Einnahmen und Ausgaben des vergangenen Jahres. Zu den Einnahmen gehörte a) ein Kapitalvermögen, b) Zinsen für das bei der örtlichen Sparkasse angelegte oder als Darlehen ausgeliehene Kapital und c) Mitgliederbeiträge. Der Mitgliederbeitrag betrug in den 1850er Jahren einen Silbergroschen pro Woche, doch wurden auch Frauen in den Verein aufgenommen, die zunächst nur die Hälfte (6 Pf) pro Woche zahlten. Nachdem die Mark infolge des Reichsmünzgesetzes vom 9.7.1873 anstelle des Talers zum Verrechnungskurs von 1:3 eingeführt worden war, betrug der Jahresbeitrag für verheiratete Frauen 5,20 M und für unverheiratete 2,60 M. Die Haushaltung, d.h. die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben sowie die Verwaltung des Kapitalvermögens wurde in diesem Frauenverein so konservativ, aber gemeinsam ausgeübt, dass das Vereinskapitalvermögen von 72 Talern im Jahre 1851 auf 270 im Jahre 1873 anwuchs. Dieses Ergebnis wurde auf solche Weise erreicht, dass zunächst 70 Taler (1851), dann 85 Taler (1853) und schließlich 100 Taler (1855) an die Firma Joseph Mergentheim & Company in Lübbecke, eine Firma, die Manufakturwaren, Tischleinen, Wäscheartikel und ganze Brautausstattungen anfertigen ließ und verkaufte, zu 4% p.a. ausgeliehen wurden. Im Jahre 1859 entschied sich der Frauenverein, einen Staatsschuldschein zu 100 Talern anzukaufen, der mit 4½% p.a. verzinst wurde. Außerdem wurde ab 1860 zunächst ein Geldbetrag in Höhe von 20 Talern bei der Kreissparkasse deponiert, der 3,3% Zinsen p.a. einbrachte. Das Volumen der Einnahmen schwankte im Zeitraum von 1853-1872 zwischen einem Minimum von 21 Talern (1857) und einem Maximum von 57 Talern (1861). Der Maximalwert lässt sich so erklären, dass neben Mitgliederbeiträgen, zwei fälligen Coupons für einen Staatsschuldschein und Zinserträge auch ein Legat in Höhe von 15 Talern von einem verstorbenen Mitglied angenommen wurde. Im Protokoll vom 19.1.1862 heißt es:
2119 5 Vgl. Lazarus, S. 221; Mayer, Reinhold (Bearb.): Der Talmud. München 1980, 8. Aufl., S. 365; Fiebig, Paul (Bearb.): Pirque `aboth. Der Mischnatraktat „Sprüche der Väter“. Tübingen 1906, S. 1 6 CAfHJP, Inventory 6198, Bl. 46, 47
2120 7 Vgl. Maier, Johann; Schäfer, Peter: Kleines Lexikon des Judentums. Stuttgart/Konstanz 1987, 2. Aufl., Eintrag: „Kol Nidre (Alle Gelübde)“, S. 178f
2121 200
2122 „Eins seiner Mitglieder verlor der Verein durch den Tod, nämlich die selige Frömmchen Rosenberg. Dieselbe hat sich durch das eben aufgeführte Legat von 15 rthl ein ewiges Denkmal der Liebe im Verein errichtet, und so lange dieser bestehen wird, bleibt in ihm das Andenken der Verewigten zum Segen und wirke zur Nachahmung."8
2123 Die Ausgaben des Frauenvereins schwankten zwischen einem Minimum von 2 rthl (1851) und einem Maximum von 62 rthl (1868). Die Ausgaben für das Jahr 1868 waren aus dem Grunde so ungewöhnlich hoch, weil für über 20 rthl neue Rouleaus für die Synagoge angeschafft wurden. Die alten sollten für die Schule verwendet werden. Lehrer Heinemann Leeser wurde - möglicherweise aus Anlass des 20jährigen Bestehens des Vereins - als Ehrengeschenk ein silberner Pokal zum Preis von 9 rthl 25 Sgr überreicht. Schon zum 10jährigen Jubiläum des Jüdischen Frauenvereins von Lübbecke war Lehrer Leeser ein Gebetsmantel (hebr. Tallit) geschenkt worden. Für die Schule wurde ein Globus angeschafft (5 rthl).
2124 Mit Spenden wurden die Familien Marcus Meier in Lübbecke (5 rthl), Itzig Hurwitz in Levern (2 rthl), die Familie Neustädter in Preußisch Oldendorf (3 rthl), die Witwe Korn in Rahden (2 rthl), Belchen Silberschmidt und der Buchbinder Heinemann Heidelberg in Preußisch Oldendorf mit je 1 rthl unterstützt. Außerdem gingen 5 Reichsthaler an „Notleidende in Ostpreußen“ und 2 Reichsthaler an den Marks-Haindorfschen Verein in Münster.9
2125 Während besonders die Lehrer Heinemann Leeser und Max Lazarus gottesdienstliche Funktionen für den Frauenverein übernahmen, versäumten es die Frauen nicht, sich auch geistliche Bücher für eigene Bedürfnisse anzuschaffen. Im Jahr 1851 erwarben sie ein „Erbauungsbuch", im Jahre 1861 wurde für 1 rthl, 6 Sgr ein Exemplar des Sefer Hachajim (dt. Buch des Lebens) von Salomon Ben Ephraim Blogg gekauft. Hierbei handelte es sich um ein Andachtsbuch für Kranke und Trauernde, das im Jahre 1856 in erster Auflage veröffentlicht wurde. Dieses Buch erschien in mehreren Auflagen, zuletzt im Jahre 1930.10 Die siebte Ausgabe, die in Hannover im Jahre 1893 veröffentlicht wurde, trägt den Untertitel: „Israelitisches Andachtsbuch bei Krankheitsfällen, in einem Sterbehause und beim Besuche der Gräber von Verwandten, zugleich alle Gebräuche (hebr. Minhagim), Vorschriften (hebr. Dinim) und Gebete (hebr. Tefillot) mit hebräischem Texte und deutscher Übersetzung. Herausgegeben von weil. S. E. Blogg".
2126 Am 1.1.1870 beschlossen die Mitglieder des Frauenvereins, sich das Hamburger Israelitische Gesangbuch zu besorgen. Dabei handelte es sich vermutlich um das „Israelitische Gesangbuch. Zum Gebrauche für die Schule, so wie für häusliche und öffentliche Gottesverehrung. Als Gesangbuch des Tempels erschienen. Hamburg 1818", das später in verbesserten Auflagen von dem reformorientierten Leiter der Israelitischen Freischule und Gründer des Neuen Israelitischen Tempelvereins in Hamburg, Dr. Eduard Kley, herausgegeben wurde.11 „Dr. Kley gehörte zum Kreis
2127 8 CAfHJP, Inventory 6198, Bl. 15
2128 9 Vgl. ebd., Bl. 32, 34, 35
2129 10 Vgl. ebd., Bl. 15; Encyclopaedia Judaica, Bd. 4. Jerusalem 1971, Spalte 1113 11 Vgl. Fürst, Julius: Bibliotheca Judaica. Bibliographisches Handbuch der gesamten Jüdischen Literatur. Erster Teil. Hildesheim 1960, S. 162; Meyer, Michael: Die Gründung des Hamburger Tempels und seine Bedeutung für das Reformjudentum, in: Herzig, Arno; Rohde, Saskia (Hg.): Die Juden in Hamburg 1590-1990. Wissenschaftliche Beiträge zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“. Hamburg 1991, S. 205f, Anmerkung 15
2130 201
2131 der Reformer, die eine veränderte Liturgie im Gottesdienst anstrebten, deutsche Predigt, deutsche Gebete und deutsche Choräle einführen wollten und auch die in christlichen Kirchen übliche Orgelbegleitung wünschten."12 Möglicherweise handelte es sich bei dem von den Mitgliedern des Jüdischen Frauenvereins von Lübbecke angeschafften Gesangbuch auch um das später im Hamburger Tempel benutzte „Allgemeine israelitische Gesangbuch für Gotteshäuser und Schulen", das von Maimon Fränkel, Gotthold Salomon und Immanuel Wohlwill im Jahre 1833 herausgegeben wurde.13
2132 Beide Liederbücher dokumentieren, dass der Jüdische Frauenverein in Lübbecke - wie auch Lehrer Heinemann Leeser selbst - reformorientiert war.
2133 Die Wohltätigkeit des Jüdischen Frauenvereins kam, wenn man nur die erhaltenen Protokolle auswertet, fast ausschließlich jüdischen Familien, Einzelpersonen und Institutionen zugute. Das vorletzte erhaltene Protokoll der Generalversammlung vom 31.1.1880 zeigt, dass beschlossen wurde, der Lehrer-Witwenkasse in Bielefeld 15 Mark, der Jüdischen Waisenanstalt in Paderborn 6 Mark und der Marks-Haindorfstiftung in Münster 10 Mark zukommen zu lassen. Marcus Meyer sollte für das Einsammeln der Mitgliederbeiträge 7,50 M erhalten, und die Dienste des wahrscheinlich nichtjüdischen Nachtwächters außer Dienst, Gast, wurden, wie im Jahr zuvor, mit 6 M honoriert. Vermutlich erwarteten die Mitglieder des Frauenvereins von dem Nachtwächter, dass er ein Auge auf die Synagoge und den Friedhof der Gemeinde warf, um mögliche Täter von antisemitischen Sachbeschädigungen abzuschrecken. Schließlich war der jüdische Friedhof in Lübbecke schon im Jahre 1869 „mehrfach Stätte nächtlichen Unfuges gewesen", so dass sein Betreten nur mit polizeilicher Erlaubnis gestattet wurde.14 Die jüdischen Frauen wollten sicherstellen, dass sich die erste Welle des politischen und rassistischen Antisemitismus im Kaiserreich (1878-81), die im Kontext der großen Depression und der Weltwirtschaftskrise zu sehen ist, nicht in Form von Sachbeschädigungen an jüdischem Eigentum in Lübbecke auswirkte.15
2134 Es machte auch Sinn, dass die jüdischen Frauen ihre internationale Solidarität dadurch ausdrückten, dass sie in den Jahren 1878/79 Beiträge an die Alliance Israélite Universelle (gegr. 1860) zahlten. Dies war eine internationale Hilfsorganisation, die besonders den pogromgefährdeten Juden in Osteuropa zum Beispiel bei der Auswanderung Unterstützung anbot.
2135 12 Randt, Ursula: Zur Geschichte des jüdischen Schulwesens in Hamburg (ca. 1780-1942), in: Herzig, Arno; Rohde, Saskia (Hg.) (1991), S. 117
2136 13 Vgl. Meyer, Michael, Die Gründung des Hamburger Tempels und seine Bedeutung für das Reformjudentum, in: Herzig, Arno; Rohde, Saskia (Hg.) (1991), S. 206, Anmerkung 15; Fürst (1960), S. 293 14 Vgl. Lübbecker Kreisblatt Nr. 28 vom 10.7.1869
2137 15 Vgl Geiss, Imanuel: Geschichte des Rassismus. Frankfurt a.M. 1988, S. 272f
2138 202
2139 Tabelle 55: Mitgliederstände und Kassenführung des Israelitischen Frauenvereins zu Lübbecke (1851-1880)
2140 Jahr Mitgliederzahl Kapitalbestand Einnahmen Ausgaben
2141 rtl Sgr d rtl Sgr d rtl Sgr d
2142 1851 18 55 -- -- 17 15 -- 2 15 --
2143 1853/54 ? 85 -- -- 30 7 3 15 -- --
2144 1855 ? 100 -- -- -- 7 3 -- -- --
2145 1857 ? 109 12 4 21 14 11 11 17 9
2146 1858 ? 119 9 6 23 8 10 35 2 --
2147 1859 ? 107 16 4 40 27 11 21 29 3
2148 1860 ? 126 15 -- 36 7 -- 12 21 10
2149 1861 ? 150 -- 2 57 18 5 24 20 4
2150 1862 27 182 28 3 42 26 11 28 -- 5
2151 1863 28 197 24 9 40 13 6 28 15 5
2152 1864 26 209 23 1 39 16 7 30 18 --
2153 1865 26 218 21 8 36 17 7 28 20 --
2154 1866 29 226 18 8 52 25 -- 37 5 --
2155 1867 29 242 9 2 37 22 11 23 2 6
2156 1868 27 256 29 7 36 26 9 62 9 --
2157 1869 26 231 17 4 38 9 1 25 29 5
2158 1870 26 243 27 -- 34 1 2 25 15 --
2159 1871 24 252 13 2 33 21 -- 30 16 --
2160 1872 24 255 18 2 35 5 2 20 6 6
2161 1873 ? 270 16 10 ? ?
2162 1874 ? ? ? ?
2163 1875 18 8a 1a 7a ? 2 25 --
2164 1876 14 13a 23a 6a ? ?
2165 = Mark 41,35a
2166 1877 16 Mark 18,65a ? ?
2167 1878 15 Mark 37,25a Mark 107,45 Mark 83,00
2168 1879 22 Mark 24,45a Mark 129,85 Mark 96,00
2169 1880 18 Mark 33,85a ? ?
2170 Quelle: CAfHJP, Inventory 6198
2171 a) nur Kassenbestand: dazu kommt eine Sparbucheinlage
2172 (1 Reichsthaler = 30 Silbergroschen; 1 Silbergroschen = 12 Pfennige; 1 Reichsthaler = 3 Mark; 1 Mark = 100 Pfennige)
2173 Im Zuge der Verbandsbildungen am Ende des 19. Jahrhunderts organisierte sich die jüdische Frauenbewegung unter dem Dach des Jüdischen Frauenbundes (gegr. 1904), dem sich auch der Jüdische Frauenverein in Lübbecke anschloss.16
2174 Auch in Werther, Kreis Halle i.W., gab es spätestens seit 1913 einen jüdischen Frauenverein, in dem die Frau des Zigarrenfabrikanten Moses Aron Weinberg, Elfriede, geb. Auerbach, als Vorsitzende fungierte.17 Schon im Jahr 1905 war möglicherweise dieselbe jüdische Dame („Frau Fabrikant Weinberg") mit neun weiteren Damen im Vaterländischen Frauenverein Werther (gegr. 1888) vertreten.18
2175 16 Vgl. Lazarus, S. 57. Zur Entwicklung der bürgerlichen jüdischen Frauenbewegung siehe: Kaplan, Marion A.: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938. Hamburg 1981
2176 17 Vgl. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege. (Statistisches Jahrbuch 1913) 21. Jg., Hg. v. Bureau des Israelitischen Gemeindebundes. Berlin, S. 89
2177 18 Vgl. Wolf, Karl: Freud und Leid im Kreise Halle (Westf.) 1800-1905. Halle (Westf.) 1905, S. 251
2178 203
2179 In Lübbecke arbeiteten zwei jüdische Frauen, Fanny Löwenstein und Else Steinberg, im Vorstand des lokalen Vaterländischen Frauenvereins (gegr. 1879) im Kriegsjahr 1915 mit. Dieser Verein bezweckte in Kriegszeiten die „Fürsorge für die im Felde Verwundeten und Erkrankten" und in Friedenszeiten die „Verhütung wirtschaftlicher und sittlicher Not".19 Am 30.3.1932 wurde Fanny Löwenstein in einer Hauptversammlung des „Vaterländischen Frauenvereins vom Roten Kreuz" zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, doch die Nationalsozialisten verdrängten sie ein Jahr später aus dieser Funktion.
2180 In Rahden gab es spätestens seit 1910 einen Jüdischen Frauenverein unter Vorsitz von Fräulein Kaufmann und Frau Oppenheim.20 Emmi und Sophie Haas fungierten auch im Vorstand des Vaterländischen Frauenvereins. Ihre Töchter, Meta und Hedwig, nahmen an Wohltätigkeitsveranstaltungen und an Theateraufführungen teil, die der Vaterländische Frauenverein im Dezember 1916 organisiert hatte.21
2181 Diese Beispiele belegen, dass jüdische Frauen in verschiedenen Gemeinden des Untersuchungsgebietes gruppenübergreifende Wohltätigkeit ausübten. Sie organisierten sich sowohl im eigenen jüdischen Milieu, waren aber auch bereit, in einem allgemeinen Frauenverein, der die Interessen des konservativen Obrigkeitsstaats vertrat, mitzuarbeiten. Das Pendant zum Jüdischen Frauenverein in Lübbecke war der Jüdische Männerverein. Beide Vereine übten Wohltätigkeit aus, die sich nicht nur auf Juden beschränkte. Max Lazarus beschrieb ihre Zweckdienlichkeit in seinen Erinnerungen wie folgt:
2182 „Frauenverein, Männerverein - beide ältere Gründungen - legen Zeugnis ab vom Wohltätigkeitssinn in der Gemeinde, von jüdischen Wohlfahrtsbestrebungen, die sich auch auf auswärtige Institute bindend erstrecken und in allgemeinen Nöten sich auch interkonfessionell offenbaren. Die Kassen beider Vereine bewilligen Gemeindemitglieder[n] in Nöten größere Summen. Aus beiden Vereinskassen erhalten die Wanderarmen Unterstützung, und bei den jüdischen Familien werden sie beköstigt und in Bedarfsfällen mit Wäsche und Kleidungsstücken versehen."22
2183 Eine einmalige wohltätige Spende konnte allerdings bei der Härte der bestehenden Gesetze nicht verhindern, dass der jüdische Lehrer S. aus Kolmar in Rußland, der 1 Mark vom jüdischen Wohltätigkeitsverein erhalten hatte, im Jahre 1888 in Lübbecke „wegen Bettelns zu 6 Tagen und wegen Landstreichens zu 5 Tagen Haft verurteilt" wurde. Diese Strafe wurde diesem wegen eines ähnlichen Delikts vorbestraften Lehrer in Anrechnung seiner Untersuchungshaft jedoch erlassen.23 Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Schicksal dieses Wanderlehrers ein Einzelfall war.
2184 Bis zum Jahr 1909 hatte sich die jüdische Wohltätigkeit in Lübbecke in vier Vereinen ausdifferenziert. Es gab eine „Kasse gegen Wanderbettelei" (auch „Zedokoh Kasse“ genannt) mit einem jährlichen Etat von 115 Mark; eine Chewra Kadischa (dt. Heilige Vereinigung = 19 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.21
2185 20 Vgl. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege. (Statistisches Jahrbuch 1913) 21. Jg., Hg. v. Bureau des Israelitischen Gemeindebundes. Berlin, S. 88
2186 21 Brief von Walter Hoffmann vom 16.2.1996 an Verfasser. Vgl. Ester-Hartke, Ursula (Bearb.): Sie lebten mitten unter uns. Spurensuche mitten in Rahden. Geschichtswerkstatt der Hauptschule Rahden. Rahden 1997, S. 24 22 Lazarus, Erinnerungen , S. 17f
2187 23 Vgl. Lübbecker Kreisblatt Nr. 8 vom 28.1.1888
2188 204
2189 Beerdigungsbrüderschaft), die sich in traditioneller Weise um Kranke, Sterbende und die Bestattung von Vereinsmitgliedern kümmerte. Den Vorsitz in dieser Vereinigung hatte Alfred Löwenstein, seine Verwaltung unterstand dem Gemeindevorstand und sein Jahresetat betrug 150 Mark. Außerdem gab es noch den Israelitischen Männerverein unter dem Vorsitz von Nathan Hurwitz und Salomon Steinberg und den Israelitischen Frauenverein unter dem Vorsitz von Anni Wolff.24
2190 Auch in Rahden gab es spätestens seit 1909 eine durch freiwillige Spenden gebildete Kasse gegen Wanderbettelei.25 Nachdem Richard Haas zusammen mit Moritz Ginsberg, Daniel Oppenheim und Julius Frank am 21.11.1931 zum Vorstandsmitglied der Gemeinde Rahden gewählt worden war 26 und später von Max Lazarus als Vorbeter geschult wurde, soll er auch die Armenkasse verwaltet haben. Walter Hoffmann erinnerte sich:
2191 „Richard Haas als Vorbeter der Gemeinde hatte auch die Armenkasse unter sich, aus der arme jüdische Bettler unterstützt wurden, die von Ort zu Ort und Haus zu Haus gingen. Manchmal kamen auch jüdische Hausierer, die sich mit dem Verkauf von koscherer Wurst über Wasser hielten. Die Fa. Haas (Dagobert und Hermann) nahmen ihnen immer etwas ab, obwohl sie selbst wursteten."27
2192 Außerdem existierte in Rahden eine Chewra Kadischa im Jahre 1909 unter dem Vorsitz von Daniel Oppenheim, Inhaber eines Textilgeschäfts am Kirchplatz.28
2193 In Borgholzhausen hatten einzelne jüdische Gemeindemitglieder ein so genanntes „Chewrageld" in Höhe von 300 Mark zusammengelegt mit der Bestimmung, die Zinsen dieses Kapitals zur Unterstützung armer und kranker Mitglieder aus der Gemeinde zu verwenden. Dieses Kapital hatte der Pferdehändler Abraham Seelig Maass zu einem Zinsatz von 5% p.a. ausgeliehen. Nachdem er am 29.8.1865 im Alter von 76 Jahren gestorben war, übernahm sein Sohn Alexander sein Geschäft, sein Grundstück und seine Schulden. Da Konkursgründe vorlagen, einigte sich Alexander mittels Vergleichsverfahren, seinen Schuldnern 15% ihrer Forderungen zu zahlen. Die verbliebenen 45 Mark des Chewrageldes händigte Pferdehändler Alexander Maass dem Vorsteher der Gemeinde von Borgholzhausen, dem Handelsmann Simon Hesse, aus.29
2194 Jüdische Wohltätigkeit drückte sich nicht nur dadurch aus, dass sich einzelne Gemeindemitglieder in lokalen wohltätigen Vereinen organisierten, auswärtige Institute unterstützten und sich regionalen Verbänden und Vereinen oder sogar internationalen Organisationen anschlossen. Eine weitere Rechtsform, Kapital oder Zinskapital unter Beachtung gewisser Bestimmungen für jüdische oder interkonfessionelle Zwecke an eine jüdische oder politische Gemeinde zu transferieren, war die testamentarische Schenkung oder das Legat.
2195 24 Vgl. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege. (Statistisches Jahrbuch 1909) 19. Jg. Hg. v. Bureau des Israelitischen Gemeindebundes. Berlin, S. 68
2196 25 Vgl. ebd., S. 69
2197 26 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 820
2198 27 Brief von Walter Hoffmann vom 11.3.1996 an Verfasser
2199 28 Vgl. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege. (Statistisches Jahrbuch 1909) 19. Jg. Hg. v. Bureau des Israelitischen Gemeindebundes. Berlin, S. 68
2200 29 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 816
2201 205
2202 Der Handelsmann Meyer Abrahamson aus Werther, 75 Jahre alt, der in Obernhofe (Obbornhofen) bei Butzbach in der Wetterau (Hessen) geboren und seit circa 37 Jahren mit Frommen Meyer Abrahamson, geb. Weinberg, verheiratet war, erschien am 17.6.1825, morgens 9 Uhr, auf dem Land- und Stadtgericht zu Halle i.W. und gab sein Testament zu Protokoll.30 In diesem Testament bedachte Meyer Abrahamson nicht nur seine Ehefrau und seine acht Kinder, sondern vermachte auch den armen Juden und Christen von Werther je 15 Taler, die an seinem Begräbnistage sofort ausgezahlt werden sollten, sowie dem politischen Armenfonds der Stadt Werther 25 Taler, die spätestens acht Tage nach seinem Tode überreicht werden sollten.
2203 Im Einzelnen sollte sein Sohn Bendix das von seinem Vater angekaufte ehemalige Beckersche Haus in Werther erhalten. Tatsächlich war die Hausstätte 33 schon 1821 angekauft worden.31 Außerdem sollte sein Sohn Bendix die Thora seines Vaters ausschließlich des Thoraschilds (hebr. Tass = dt. Platte) erben. Sein Sohn Samuel sollte die Bürgerstätte, die sein Vater von dem Pastor Schulze in Borgholzhausen angekauft hatte, als sein Eigentum erhalten, und sein Sohn Moses die von seinem Vater angekaufte ehemalige Wulfrathsche Bürgerstätte in Werther (Haus Nr. 34) mitsamt Mobiliar erhalten, den Wert der Immobilie und Mobilien jedoch mit den Miterben verrechnen. Denn Meyer Abrahamson bestimmte, dass sich seine vier weiteren Kinder Fanni, verehelichte Schoenbaum zu Neuenkirchen, Nathan, Samuel und Jette, verehelichte Lehmann zu Lipperode, je 1.200 Taler aus der Erbmasse auszahlen lassen sollten. Sein minderjähriger Sohn Joseph sollte allerdings kein Bargeld erhalten, da sein Studium vom Vater finanziert worden war. Seiner Ehefrau vermachte Meyer Abrahamson die Nutzung seines Hauses Nr. 34 in Werther und den Zinsgenuss eines Kapitals in Höhe von 4.000 Talern. Das übrige Vermögen wie Warenlager, Silbergerät, Bargeld, Kapitalien und sonstige Aktiva sollten nach Abrechnung der Vermächtnisse unter den Erben aufgeteilt oder zwangsversteigert werden.
2204 Neben den oben erwähnten 55 Talern für jüdische und nichtjüdische Arme in Werther, setzte Meyer Abrahamson noch weitere Vermächtnisse aus: a) 100 Taler für einen zukünftig auszuführenden Anbau der Synagoge zu Werther. Solange diese Summe nicht für ihren gedachten Zweck ausgegeben werden konnte, sollte sie verzinslich ausgeliehen werden und die Zinsen am Sterbetag des Testators an die jüdischen Armen ausgezahlt werden.
2205 b) Die Zinsen eines weiteren Vermächtnisses in Höhe von 100 Talern sollten jährlich für arme jüdische Kinder, die ein Handwerk erlernen wollten, verausgabt werden.
2206 c) Die Zinsen eines dritten Vermächtnisses von 300 Talern sollten dem Lehrer der jüdischen Gemeinde Werther zugute kommen unter der Bedingung, dass dieser ein tägliches Gebet und einen Talmudvortrag (hebr. Schiur) im Andenken an den Testator verrichtete.
2207 30 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 319
2208 31 Ich danke Dipl Ing. Ulrich Maaß, Werther, für meine Einsichtnahme in seine bauhistorischen Unterlagen einiger Bürgerstätten der Stadt Werther i.W..
2209 206
2210 Dieses Testament gibt einen Einblick in die Zwecke und Größenordnung der Vermächtnisse, die ein frommer jüdischer Einzelhändler für bedürftige jüdische und nichtjüdische Nutznießer in einer ostwestfälischen Kleinstadtgemeinde im Jahre 1825 aussetzte.
2211 Die Wohltätigkeit jüdischer Gemeinden konnte sich auch bis nach Erez Israel erstrecken. Aron Bendix Weinberg als Vorsteher teilte dem Amtmann Riensch am 3.2.1874 mit, dass die Synagogengemeinde Werther am 6.3.1873 eine Kollekte abgehalten habe, um „zur Errichtung eines jüdischen Hospitals und einer Schule zu Safed in Palästina“ beizutragen. Der Betrag in Höhe von 2 Reichsthalern und 6 Silbergroschen sei schon an den Abgesandten (hebr. Schaliach), dem Oberrabbiner Cohn, der sich in Berlin aufhielt, am 18.3.1873 per Postanweisung überwiesen worden. Safed in Obergaliläa war als Stadt kabbalistischer Weisheit bekannt, seitdem sich spanische Juden seit ihrer Vertreibung dort niedergelassen hatten. Nach der Familienüberlieferung sollen auch die Vorfahren des Leviten Aron Bendix Weinberg (1813-1897) in Werther Exulanten aus Spanien oder Portugal gewesen sein.32
2212 In einer Sitzung am 10.6.1884 in Borgholzhausen hatten die jüdischen Gemeindemitglieder Samuel, Simon und Abraham Jakob Hesse, Goldschmidt, B.A. Weinberg, Silberberg, Maass und Lehrer Plaut eine Schenkung eines Fonds der ehemaligen Gemeindemitglieder, Eheleute Schoenbaum aus Osnabrück, über 3.000 Taler (9.000 Mark) aus ihrem Testament vom 11.5.1863 „dankbarlichst" angenommen.33 Die Zinsen dieses Fonds, der laut Testament vom Landrat des Kreises Halle i.W. verwaltet werden sollte, waren dazu bestimmt, einen jüdischen Lehrer in Borgholzhausen zu besolden. 42 Jahre später, am 19.06.1926, beantragten die Gemeindemitglieder Max Bauer, Max Weinberg und Jakob Hesse aus Borgholzhausen und Meier Silberberg aus Rothenfelde bei den Behörden, die testamentarische Bestimmung dahingehend zu ändern, dass die Zinsen der Schoenbaumschen Schenkung zukünftig an die Armen der Stadt Borgholzhausen ausgezahlt, vornehmlich aber den Bedürftigen der jüdischen Gemeinde, zugute kommen sollten. Die Verteilung der Gelder sollte gemeinschaftlich von dem jüdischen Vorstand und dem Amtmann der Stadt Borgholzhausen durchgeführt werden. Als Begründung für diesen Antrag wurde darauf hingewiesen, dass eine dauernde Anstellung eines Lehrers aufgrund mangelnder Schülerzahlen in absehbarer Zeit nicht mehr notwendig sei, allenfalls müsse ein Teil der Zinsen für den jüdischen Religionsunterricht der Kinder bereitgestellt werden.34
2213 Wahrscheinlich wurde dieser großzügige Antrag der Synagogengemeinde Borgholzhausen behördlicherseits genehmigt, denn als der Vorsteher Max Weinberg drei Jahre später gegen einen beleidigenden, antisemitischen Artikel in der öffentlich an der Linde in unmittelbarer Nähe des
2214 32 Vgl. StdtA Werther, A 76; Brief von Alfred Weinberg an Dolf Simon, Seattle, Washington, USA, vom 20.5.1938. Privatarchiv Dr. Lore Shelley. Vgl. ALBI New York, AR 4130, Weinberg, Robert Allan: The Descendants of Aron Heineman Levi in Werther near Bielefeld. Boston 1974, S. 57. Ben-Sasson, Haim Hillel (Hg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1992, S. 807-813 33 Vgl. StADt, M 1 I L Nr. 319
2215 34 Vgl. StADt, M 1 II A Nr. 816
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2217 Amtsgebäudes ausgestellten Zeitschrift „Der Stürmer" beim Bürgermeister schriftlich protestierte und deren Entfernung verlangte, wies er ausdrücklich darauf hin, dass die jüdische Gemeinde Borgholzhausen immer ihre interkonfessionelle Wohltätigkeit „durch Legate" „auf humanste Weise" gegenüber der Stadt gezeigt und zum „konfessionell[en] Burgfriede[n]" beigetragen habe.35
2218 Im Vergleich zu den bisher beschriebenen Legaten und Schenkungen waren die Erben der Kleiderfabrik Nathan Ruben, deren Hauptsitz in Lübbecke war, in der Lage, der städtischen Armenkasse von Lübbecke noch größere Kapitalsummen als Legat, Stiftung oder Schenkung zu vermachen.36
2219 Es ist allerdings nicht schwer zu erklären, warum die Erben des größten Konfektionsbetriebs am Ort mit circa 300 Beschäftigten, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs als zweitgrößter Gewerbesteuerzahler unter den von Juden geleiteten Betrieben in Lübbecke rangierte, von 1906 bis zum Kriegsjahr 1917 13.050 Mark der Stadt Lübbecke für wohltätige Zwecke schenken konnten. Denn ein Betrieb, der Mehrwert akkumulierte, konnte neben Steuerleistungen auch wohltätige Schenkungen tätigen, ohne wirtschaftlich Schaden nehmen zu müssen. Allerdings ist es bemerkenswert, dass die Witwe des am 6.4.1906 verstorbenen Kleiderfabrikanten Julius Ruben der Stadt Lübbecke am 28.4.1906 ein Legat ihres verstorbenen Ehemannes in Höhe von 5.000 Mark mit der Bestimmung vermachte, dass mit seinen „Zinsen jährlich ohne Unterschied der Confession Bedürftige unterstützt werden sollten."37 Julius Ruben war an der seit dem 1.1.1906 in eine Kommanditgesellschaft umgewandelten Firma Nathan Ruben mit einer Einlage von 500.000 Mark beteiligt, so dass sein der Stadt vermachtes Armenlegat 1% seiner Firmeneinlage ausmachte.38
2220 Die Stadt Lübbecke nahm dieses Legat zweifellos gern an, übermittelte der Witwe Henriette Ruben ihren herzlichen Dank und legte das Kapital zunächst zinsträchtig bei der Städtischen Sparkasse an. Drei Jahre später verlieh die Stadt das Kapital als Hypothek an einen lokalen Zigarrenfabrikanten zu 3 3/5% Zinsen p.a.39 Die Stadt Lübbecke nahm solche Armenlegate aus dem Grunde dankend an, weil für das Rechnungsjahr 1906 die Gesamtausgaben der städtischen Armenkasse auf 10.000 Mark veranschlagt waren, wovon der Titel „Verteilung der Zinsen von Legaten" 1.113 Mark (11,1%) ausmachte.40
2221 Es war nicht verwunderlich, dass die Stadt Lübbecke auch von Nichtjuden Legate annahm, die den Bedürftigen der Stadt zugute kamen. So vermachte die in St. Louis, Missouri, verstorbene, vermutlich aus Lübbecke stammende Frau Charlotte Gehner, der Armenkasse ein Legat von 2.000
2222 35 Vgl. StdtA Borgholzhausen, C 43.2.3
2223 36 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.19; C I 17.35; C I 15.12
2224 37 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.19
2225 38 Vgl. stdtA Lübbecke, C I 3.75
2226 39 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 15.12
2227 40 Vgl. ebd.
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2229 $, das im Jahre 1885 nach Abzug der Anwalts- und Konsulatskosten einen Wert von 8.198 Mark hatte.41
2230 Während des Ersten Weltkrieges überwies der Bevollmächtigte der Erben des Kleiderfabrikanten Julius Ruben, der Prokurist Adolf Wolff, der Stadt Lübbecke mehrmals beträchtliche Geldbeträge, die - „ohne Unterschied des Glaubens" - Bedürftigen, insbesondere Kriegerwitwen, als Unterstützung gewährt werden sollten: im Januar 1915 5.000 Mark als Stiftung der verstorbenen Henriette Ruben, deren Zinserträge an ortsansässige Bedürftige verteilt werden sollten 42 ; im April 1915 1.000 Mark, im Juli 1915 300 Mark, im Januar 1916 500 Mark, im März 1916 250 Mark und im Februar 1917 1.000 Mark als Schenkungen aus dem Nachlass der Witwe Ruben.43
2231 Das Finanzgebaren der Stadt Lübbecke in der NS-Zeit zeigte sich auf solche Weise, dass die Legate des jüdischen Konfektionärs Julius Ruben und seiner Frau Henriette im August 1942 aufgelöst und dem allgemeinen Kapitalvermögen der Stadt zugeführt wurden, als zahlreiche ehemalige jüdische Bürger von Lübbecke in die Durchgangs- und Vernichtungslager verschleppt wurden.44
2232 Die am 24.12.1935 in London verstorbene Minna Löwenstein, die vermutlich in Preußisch Oldendorf geboren war, vermachte der Stadt Preußisch Oldendorf 2/16 ihrer Hinterlassenschaft (ca. £ 90 ~ 1.140 RM) mit der Bestimmung an den Bürgermeister, 1/16 ihrer Erbschaft unter die Armen der Stadt zu verteilen und 1/16 zur Verschönerung der Stadt zu verwenden. Eine Aufstellung der Verwendungszwecke der Schenkung aus der Erbschaft der Fräulein Minna Löwenstein belegt, dass neben Bedürftigen der Stadt auch der örtliche Berg- und Verschönerungsverein im Mai 1936 200 RM erhielt mit der Bestimmung, diese Summe für Sitzbänke am Bahnhof, an der Badeanstalt und am Waldesrand auszugeben. Außerdem sollte das Geld für die Anschaffung von Nistkästen und zur Anlage eines Vogelschutzgehölzes verwendet werden. Einigermaßen grotesk mutet es an, dass mitten im Zweiten Weltkrieg, am 22.3.1941, eine Firma Gottmann in Rinkerode beauftragt wurde, „Nisthölen“ (sic) bereitzustellen. Die einzigen Juden, die aus der Schenkung der Minna Löwenstein Unterstützungen erhielten, waren [Henriette] Goldschmidt (*31.7.1849 Rabber, gest. 28.1.1937 Preußisch Oldendorf), die am 22.12.1936 den Erhalt von 50 RM quittierte, und der einzige jüdische Überlebende der Shoa aus der Stadt Preußisch Oldendorf, Alfred Ehrlich, der im April 1946 250 RM erhielt. Mit anderen Worten: Alfred Ehrlich, der mehrere Vernichtungslager überlebt hatte, wurde 21,9% der Schenkung der Minna Löwenstein zugestanden, während dem örtlichen Berg- und Verschönerungsverein schließlich 58% der Erbschaft zugute kam.45
2233 41 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.17
2234 42 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.19
2235 43 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.35
2236 44 Vgl. StdtA Lübbecke, C I 17.19; C I 17.35
2237 45 StdtA Preußisch Oldendorf, III F 1.2
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2239 4.7 Zusammenfassung
2240 Die Entwicklung jüdischer Identität in den ostwestfälischen jüdischen Kleinstadtgemeinden, deren Synagogenbezirke in einem mehrheitlich evangelisch-protestantisch ausgerichteten Umfeld gebildet wurden, hing einerseits zweifellos von der Ausbildung und Ausrichtung ihrer zuständigen Bezirksrabbiner und von den in den Gemeinden angestellten Lehrern und Geistlichen ab, andererseits beeinflusste die Politik und ideologische Ausrichtung des preußischen Staats, der vor Ort mit seinem staatlichen Apparat vertreten war, die wirtschaftliche und kulturelle Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden.
2241 Die Übernahme der Schulaufsicht durch den preußischen Staat (1824) - lokal vertreten durch evangelische Orts- und Kreisschulinspektoren - und die durch die westfälische Provinzialregierung geförderte Einrichtung eines jüdischen Lehrerseminars (1825-1925) in Münster formte die pädagogische und fachliche Ausbildung eines neuen, akkulturierten Lehrertyps und löste den alten jüdischen Lehrertyp, der hauptsächlich die religiösen und ethischen Fächer lehrte, ab. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch jüdische Männer in einigen Gemeinden des Untersuchungsgebietes (Rahden, Preußisch Oldendorf, Versmold und Halle) lebten, die ausschließlich die jüdischdeutsche Schrift verwendeten, muss davon ausgegangen werden, dass die Lehrer des neuen Typs ihre Schüler mit beiden Schriftsystemen, dem Jüdischdeutschen und dem Lateinischen, vertraut machten.
2242 Allerdings lehrten auch die ca. 80 jüdischen Lehrer des neuen Typs, die in den Gemeinden der Kreise Lübbecke und Halle i.W. im 19. und 20. Jahrhundert angestellt wurden, ihre Schüler die wichtigsten Gebete in der Ursprache Hebräisch, zusätzlich unterrichteten sie aber einen im Vergleich zum alten Lehrertyp erweiterten Fächerkanon, in dem neben der deutschen Sprache auch so genannte Realien (Geographie, Sachunterricht), Gesang und Turnunterricht vertreten waren.
2243 Dauerhaft konnten im Kreis Halle i.W. nur in den Gemeinden Werther und zeitweise auch in Borgholzhausen, und im Kreis Lübbecke in den Gemeinden Lübbecke, Preußisch Oldendorf, Levern und Rahden jüdische Privatelementarschulen unterhalten werden, da in diesen Gemeinden die Finanzierung scheinbar gesichert, die notwendige Kinderzahl vorhanden war und geeignete Lehrer gefunden werden konnten. Mit der Abnahme jüdischer Steuerzahler infolge des Abwanderungs-, Veralterungs- und Verbürgerlichungsprozesses bemühte sich die jüdische Gemeinde in Werther seit den 1860er Jahren, diejenige in Lübbecke spätestens seit 1909 um städtische Zuschüsse bzw. um die Erhöhung des Zuschusses zur Finanzierung des jüdischen Religionsunterrichts. Die jüdischen Vorstände verwiesen bei ihrer Antragstellung auf das Argument, dass die jüdischen Steuerzahler überproportional hohe Kommunalsteuern entrichteten. Tatsächlich wurden Zuschüsse zu den jüdischen Kultuskosten von den genannten Stadtverwaltungen auch gewährt, sie müssen jedoch in ihrer Relativität bewertet werden. Denn die jüdische Gemeinde Werther beispielsweise, die im Jahre 1899 ca. 3% der allgemeinen 9
2244 210
2245 Kleinstadtbevölkerung zählte, trug nicht weniger als 10% zu den lokal erhobenen Schulsteuern bei. Fünf Jahre später betrug der städtische Zuschuss zu den jüdischen Kultuskosten in Werther 23,8% der gesamten von den jüdischen Schulgemeindemitgliedern gezahlten Schulsteuern. Deshalb verwunderte es nicht, dass die jüdische Gemeinde Werther seit 1899 und die jüdische Gemeinde Rahden seit 1907 mit Hilfe des Verbandes der Synagogengemeinden Westfalens (gegr. 1891) Anträge zur Umwandlung ihrer Privatelementarschulen in öffentliche Schulen an die Bezirksregierung stellten, da öffentliche jüdische Schulen großzügiger subventioniert wurden. Letztlich erfolgreich mit dieser Politik waren nur die jüdischen Schulinteressenten in den Gemeinden Kleinendorf und Großendorf (Rahden), wo 1908 eine jüdische Schulgemeinde gebildet wurde und von 1908-25 eine öffentliche jüdische Schule eingerichtet wurde.
2246 Der von der ganzen Gemeinde angestellte Lehrer wurde in erster Linie als Geistlicher angesehen, der im Laufe des Festtagszyklus seine synagogalen Dienste (Kantorat) auszuüben hatte, daneben auch Beschneidungszeremonien, Bar- und Batmizwafeiern, Trauungen und Beerdigungen durchführte.
2247 Die allgemeine ideologische Ausrichtung der jüdischen Gemeinden im Untersuchungsgebiet im religiösen Sinne war reformorientiert bis konservativ, keinesfalls radikalreformorientiert oder neoorthodox. Denn diese Ausrichtung wurde auch im jüdischen Lehrerseminar in Münster eingehalten, aus dem zahlreiche Lehrer in die Gemeinden des Untersuchungsgebiets vermittelt wurden. Merkmale des reformorientierten jüdischen Gottesdienstes waren die deutschsprachigen Anteile, die Predigt nach evangelischem Vorbild, eine modernisierte Trauzeremonie, die „Konfirmation" der Jungen und Mädchen, Chormusik und Orgel- bzw. Harmoniumbegleitung.
2248 Diese Merkmale waren schon Ziele, die im Rahmen einer Konsistorialverfassung (1808) Teil einer ersten jüdischen Kultusreform im Königreich Westfalen, an der auch der Bielefelder Rabbiner Moses Friedheim mitgearbeitet hatte, sein sollten.1 Diese pedantische Gottesdienstreform, die das Konsistorium unter der Präsidentschaft Israel Jakobsons ausarbeitete, wurde allerdings von den Gemeinden des Königreichs Westfalen vehement abgelehnt.2
2249 Erst im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden reformorientierte Elemente in die Gottesdienste der Gemeinden Lübbecke und Borgholzhausen eingeführt. Relativ spät seit etwa 1887 begleitete auch Harmoniummusik den Gottesdienst der Gemeinde in Levern, nachdem dort die neue Synagoge im Jahre 1873 erbaut worden war. Eher konservativ waren die Ausrichtungen der Gemeinden Versmold und Werther, zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn in Versmold wurde der Gottesdienst ausschließlich in Hebräisch gehalten und die Gemeinde in Werther weigerte sich im Jahre 1828, Moses Büdingers deutschsprachige Kinderbibel als Unterrichtsmittel einzuführen.
2250 1 Vgl. Minninger, Monika; Stüber, Anke; Klussmann, Rita (Bearb.): Einwohner – Bürger – Entrechtete. Sieben Jahrhunderte jüdisches Leben im Raum Bielefeld. Bielefeld 1988, S. 80
2251 2 Vgl. Herzig, Arno: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973, S. 13
2252 211
2253 Schon vor Einführung des Gesetzes vom 23.7.1847 entschieden sich die jüdischen Gemeinden Borgholzhausen (1822) und Versmold (1830) zum Bau neuer Synagogen. Die jüdische Gemeinde von Werther erweiterte ihre Synagoge im Jahre 1840. Auch die übrigen Gemeinden im Untersuchungsgebiet legten im Zeitraum von 1850-1900 Wert darauf, ihre Gottesdienste in neuen oder erneuerten Synagogen abzuhalten (Rahden 1852; Lübbecke 1855; Halle 1859; Preußisch Oldendorf 1863; Levern 1873; Versmold 1900). Mit Ausnahme der Synagoge in Halle i.W. waren alle Synagogen im Besitz der jüdischen Gemeinden.
2254 Während die alte angemietete Synagoge in Versmold aus Fachwerk erbaut wurde, eine zentrierte Bima (hebr. Bamah = dt. Bühne; Podium; Altar) zur Verlesung der jeweiligen Thoraabschnitte und eine Frauenempore hatte und im ländlichen Umfeld situiert war, befand sich die neue, aus Stein gebaute Synagoge in der Mitte der Stadt und war insofern kirchenähnlich angelegt, als sie je fünf Sitzreihen für Männer und Frauen auf beiden Seiten des Mittelganges hatte. Die zentrierte Bima war verschwunden, und die Sicht der Gottesdienstbesucher war auf die Heilige Lade (hebr. Aron ha-kodesh) und auf das Pult des Vorlesers am östlichen Ende der Synagoge gerichtet. Das Gesetz vom 23.7.1847 machte aus bloß geduldeten jüdischen Privatvereinigungen Korporationen des öffentlichen Rechts, deren Verwaltungspersonal und Etats vom Staat beaufsichtigt wurden. Der Vorteil dieses Rechtsstatus bestand darin, dass die Gemeindefinanzierung mit Hilfe des Staates organisiert und durchgesetzt werden konnte. Außerdem wurden jüdische Familien in kleinen Dörfern gezwungen, sich dem Synagogenbezirk des Hauptortes zuzuordnen.
2255 Allerdings konnte das Gesetz nicht alle jüdischen Familien zwingen, sich dem von der staatlichen Verwaltung und der Hauptgemeinde definierten Synagogenbezirk einzuordnen. Im Kreis Halle i.W. hatten sich die Brüder Weinberg in Bockhorst schon vor Inkrafttreten des Gesetzes von der Hauptgemeinde in Versmold aufgrund von Meinungsverschiedenheiten getrennt, hielten Privatandacht in ihrem Haus und engagierten einen Familienlehrer für ihre Kinder. Im Kreis Lübbecke zogen es die Familien in Dielingen aus rituellen Gründen vor, weiterhin die Synagoge im nahegelegenen hannoverschen Lemförde zu besuchen, anstatt am Gottesdienst im entfernteren Levern teilzunehmen. Die drei Familien in Wehdem - wie Hillebrand zeigte - orientierten sich teils ebenfalls nach Lemförde, teils nach Levern.
2256 Jüdische, vereinsmäßig organisierte oder auch individuelle Wohltätigkeit als traditionelle handlungsleitende jüdische Wertvorstellung, richtete sich zunächst auf Mitglieder desselben kulturellen Systems, kam aber auch Nichtjuden in Form von Spenden, testamentarischen Schenkungen und legierten Zinsbeträgen zugute.
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