· 7 years ago · Jul 22, 2018, 09:40 AM
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2Inhaltsverzeichnis
3 Start
4 Vorwort
5 ERSTERTEIL Die Wahrheit
6 stirbt zuerst: Der Krieg der
7 Worte im Irak
8 ZWEITERTEIL Auch Bond
9 kann irren: Blair, Bush und
10 Saddams Waffen
11 DRITTERTEIL Machtlos
12 Ohnmächtig gegen den Terror
13 VIERTER TEIL Israel gegen
14 Palästina: Dichtung und
15 Wahrheit
16 FÜNFTERTEIL Schatten der
17 Vergangenheit
18
19SECHSTERTEIL Helvetische
20Irrungen und Wirrungen
21SIEBTER TEIL Die im
22Dunkel sieht man nicht
23ACHTER TEIL Russische
24Katastrophen
25(Unbenannt)
26Fazit in zehn Thesen
27Glossar
28
29
30Vorwort
31
32
33«Früher bediente man sich der Folter.
34Heutzutage bedient man sich der Presse.» (Oscar
35Wilde)
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38Nie werde so viel gelogen wie nach der Jagd, im Krieg und vor der Wahl, spottete Otto von Bismarck. Im Krieg sei die Wahrheit so kostbar, dass sie immer von einer Leibwache von Lügen
39umgeben sein müsse, hielt Winston Churchill fest. Im Krieg sterbe die Wahrheit zuerst,lautet ein geflügeltes Wort. Im Krieg werde die Wahrheit auf ihren strategischen Wert reduziert, ein anderes.
40Von der Wahrheit in Krise und Krieg handelt das vorliegende Buch. Es bestreicht vornehmlich militärische und politische Ereignisse seit 1998. Damals erschien das Buch «Aber wahr muss es sein», das die Entwicklung bis zu jenem Jahr beschrieb. Schon dieses erste Buch konnte nicht alles wiedergeben, was sich bis zum Erscheinungsjahr ereignet hatte; denn zu viel wird in Zeiten von Krise und Krieg getarnt, getäuscht und gelogen.
41Auch das Buch, das jetzt vorliegt, gibt wieder nur eine Auswahl.
42Zwingend waren die Kapitel zum Irak- Krieg vom Frühjahr 2003- Schon vor dem Feldzug hatten die amerikanische und die britische Militärführung ihre vormals so restriktive Informationsführung gelockert. In Trainingslagern bildeten sie Korrespondenten aus, die dann in die Kampfverbände «eingebettet» wurden - allerdings nur, wenn die Berichterstatter strenge Regeln unterschrieben, die den Entscheid darüber, was gesendet und gedruckt wurde, den Frontkommandanten über-
43Hessen. Von der Irak-Front 2003
44berichteten die Reporter freier als aus dem Feldzug von 1991, in dem General Schwarzkopf die Medien am kurzen Zügel geführt hatte. Aber das Militär hielt die «eingebetteten» Begleiter noch immer eng im Griff.
45Dramatische Zuspitzungen machten Schlagzeilen. Die Gefreite Jessica Lynch wurde zur Heldin verklärt, bis sie die Heldenrolle selber abstreifte. In Bagdad kamen auf den Baikonen des Hotels Palestine Kameramänner um, nachdem sie ein Panzerschütze für Schiessbeobachter gehalten hatte. Nach dem Feldzug begingen amerikanische Militärpolizisten in Abu Ghraib schwere Verbrechen an Gefangenen, und über
46Mobiltelefone erfuhr die Öffentlichkeit von den Horrortaten.
47Ins Zwielicht gerieten Geheimdienste und Regierungen, als die Suchequipen die Massenvernichtungswaffen nicht fanden, derentwegen die Armeen in den Krieg gezogen waren. Das ohnehin delikate Dreieck zwischen den Nachrichtendiensten, den politischen Führungen und den Medien erwies sich als brisanter denn je.
48Eine neue Dimension nahm in der Berichtszeit der globale Terror an. Namentlich die islamistischen Fundamentalisten bedienen sich der Medien mit diabolischer Meisterschaft, sei es in New York und Washington, in
49Bagdad und Falluja, in,. Tel Aviv und Jerusalem. Neben die Presse, das Radio und das Fernsehen trat das Internet als vierte Medienwaffe. Das World Wide Web ist noch einfacher als der Rundfunk und weit billiger als die herkömmlichen Medien; rasch stieg es an der Informationsfront zur «Waffe des armen Mannes» auf.
50Ein Teil des Buches ist einem seltsamen Abschnitt der deutschen Zeitgeschichte gewidmet. 1990 ging die DDR unter. In ihren Archiven wurden Dokumente gefunden, die belegen, wie raffiniert Stasi-Agenten westdeutsche Redaktionen steuerten. Wer zur Zeit des Kalten Krieges die Medien-Kampagnen gegen
51führende Politiker erlebt hatte, dem fällt es wie Schuppen von den Augen, wenn er liest, wie die Ost-Berliner Staatssicherheit in der Bundesrepublik die Öffentlichkeit manipulierte; und staunend nimmt er zur Kenntnis, wie bereitwillig die Redaktionen gefälschte Dokumente aufnahmen und als bare Münze verbreiteten.
52Mehrmals bewegten Katastrophen in der seinerzeitigen Sowjetunion und im heutigen Russland die Welt. Immer waren die erschütternden Ereignisse mit einer eigenartigen Informationsführung verknüpft. Vom Untergang der Kursk, vom GAU von Tschernobyl und von den Kindern in Beslan handelt ein
53gesonderter Teil.
54In der Schweiz erregten haltlose Anschuldigungen an einen Diplomaten und einen hochrangigen Offizier die Gemüter. Von der Auseinandersetzung zwischen dem Verlagshaus Ringier und dem Botschafter Thomas Borer handeln die «Helvetischen Irrungen und Wirrungen»; und die Kapitel «Die Geheimwaffen», «Die Geheimarmee» und «Das Geheimabkommen» schildern den Kampf, den Divisionär Peter Regli mit einzelnen Medien führte.
55Ich weiss, dass ich mir mit den Schweizer Kapiteln nicht nur Freunde mache; aber ich habe versucht, das, was an Recht und Unrecht geschehen ist, nach
56bestem Wissen und Gewissen darzustellen.
57Schliesslich gehört es sich, in einem so kritischen Buch darzulegen, wo in den letzten Jahren Verbindungen zu Institutionen bestanden, die im Buch eine Rolle spielen. Die Berichtszeit fiel im Wesentlichen mit meinen Kommandojahren im Informationsregiment 1 der Schweizer Armee zusammen.
58Mit ausländischen Armeen hatte ich als Regimentskommandant mehrmals Kontakte: Im August 1996 besuchte ich in Fort Bragg den Kurs der amerikanischen Streitkräfte für
59Informationsführung. Vom April 1999 bis zum Mai 2001 erfüllte ich in Albanien, Mazedonien und im Kosovo mehrere Schweizer
60Aufträge. Im Juli 2000 unterrichtete ich in Bosnien-Hercego- wina im Auftrag der OSZE Offiziere der bosniakisch- kroati- schen Föderation und der Republika Srpska. Im November 2003 oblag mir als Component Commander in der NATO- Übung «Allied Action 03» die Führung der Informationsoperationen einer Friedenstruppe; der Verband umfasste Offiziere aus 13 Staaten, darunter auch Amerikaner, Polen,Türken und Deutsche.
61Ebenso liegt mir daran, auf zwei
62personelle Verbindungen hinzuweisen. Thomas Borer war vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2003 als Hauptmann im Stab des Informationsregimentes 1 eingeteilt. 1998 und 2000 hielt er am Jahresrapport des Regimentes jeweils einen Vortrag, beide Male in Aarau. Peter Regli trat in meiner Kommandozeit zweimal als Redner auf, 1996 an einem Seminar in Spiez, 1998 am Jahresrapport.
63Bei den arabischen und hebräischen, den russischen, ossetischen und tschetschenischen Namen habe ich mich an die Transkription gehalten, wie sie derzeit von den internationalen Nachrichten-Agenturen angewandt wird.
64Und selbstverständlich habe ich das, was folgt, als Privatmann geschrieben, nicht als Angehöriger der Armee, deren alte und neue Informationsinstrumente gemäss Leitbild ausdrücklich keine Werkzeuge der Täuschung und Desinformation sind.
65Sälenstein, im Februar 2005 Peter Forster
66ERSTERTEIL Die Wahrheit stirbt zuerst: Der Krieg der Worte im Irak
67 1 Zu gut, um wahr zu sein
68«Jessica Lynch? Wir sind amerikanische Soldaten, wir sind hier, um Sie zu beschützen und nach Hause zu bringen. (Commando-Soldat in Nassi- rija)
69«Auch ich bin ein Soldat.»2 (Jessica Lynch, 1.April 2003)
70«Ich weiss nicht, warum sie gefilmt
71haben und diese Dinge sagen. Ich weiss nur, dass ich im Spital lag und Hilfe brauchte,»3 (Jessica Lynch, zu Hause in West Virginia)
72Am 20. März 2003, am ersten Tag des dritten Golf-Krieges, ist die 507. Reparatur-Kolonne eine amerikanische Kompanie wie jede andere. Sie gehört zur 3- Infanterie-Division, die zu Beginn der Operation «Iraqi Freedom» tief in Feindesland vorstösst. Mitten in der kuwaitischen Wüste, im Camp Virginia, bricht die Kolonne nach Norden auf, geführt von ihrem Kommandanten, dem Hauptmann Troy King.4
73Die Kompanie umfasst auf 34
74Fahrzeugen 64 Männer und Frauen. Auf einem Kranwagen fährt der Gefreite Patrick Miller, hinter ihm auf einem Humwee5 der Wachtmeister Robert Dowdy mit den beiden Gefreiten Lori Piestewa und Jessica Lynch. Die 23- jährige dunkelhäutige Piestewa ist Köchin, die 19-jährige Lynch Versorgungssoldat6. Jessica Lynch ist blond, stammt aus dem Dorf Palestine in West Virginia - und wird die Heldin des Irak-Feldzuges. Innert Tagen wird sie welt- berühmt sein, so wie die Medien das Schicksal der 507. Kompanie bald bis ins letzte Detail ausleuchten werden. «Jessica Lynch - An American Hero», werden die Schlagzeilen lauten. Aber im Sommer wird durchsickern, dass
75Jessicas Verhalten nicht ganz so heldenhaft war, wie es die Reportagen wollten. Am Ende ist Jessica Lynch das Opfer einer krass verzerrten Geschichte, die zu gut war, um wahr zu sein.
76 Im Sandsturm
77Das Ziel der 507. Kompanie, ein Versorgungslager bei Najaf, liegt 400 Kilometer vom Camp Virginia entfernt. Captain King will es in zügigem Marsch erreichen. Doch schon auf der ersten Etappe wird die Wüstenfahrt zum Abenteuer. Ein Sandsturm tobt, die Sicht ist schlecht, der Funk fällt aus. Einzelne Wagen bleiben stecken, und am 21. März schafft die Kolonne in fünf Stunden nur 15 Kilometer - zu wenig, um Kings Zeitplan einzuhalten.
78Am 22. März bricht die Kompanie auseinander. Kurz nach 14 Uhr schickt Hauptmann King eine erste Staffel mit 32 Soldaten und 17 Fahrzeugen allein
79voraus, geführt vom Stellvertreter, Oberleutnant Jeff Shearin. King selber verharrt beim zweiten Paket. Er fährt auf der Militärstrasse Blue7, einer Route, die nordwestlich nach Najaf, Kerbela und Bagdad führt - vorbei an der Grossstadt Nassirija, die noch immer fest in irakischer Hand ist.
80Über den Euphrat
81Am 23. März - noch ist es Nacht - begeht King den ersten Fehler. Übermüdet und nach langer Fahrt steuert er seine Halbkompanie ins Verderben. An der Kreuzung südöstlich von Nassirija müsste er nach links abbiegen. Er müsste von der Route Blue auf die Route
82Jackson wechseln, um Nassirija zu umfahren. Aber er hat auf seiner Karte im Massstab 1:100'000 nur die
83Strasse Blue eingetragen, und auch sein GPS-Gerät8 führt ihn direkt auf die Grossstadt zu. Nicht einmal der Streckenposten warnt den erschöpften Kommandanten.
84Ahnungslos überquert er, nach Absprache mit Sergeant Dowdy, den Euphrat - nun schon mitten in der Stadt. Der Gefreite Miller erkennt am Strassenrand irakische Soldaten, die ihm zuwinken. Erst als sich King in einem Aussenquartier verfährt, wird er gewahr, dass er von der Route Blue abgekommen ist. Er hält an, wendet den Konvoi und
85befiehlt, die Gewehre seien zu entsichern.
86
87Irakischer Hinterhalt
88Über der Wüste steigt die Sonne auf. Es ist kurz vor 7 Uhr, als King die Euphrat- Briicke zum zweiten Mal passiert, jetzt in umgekehrter Richtung. Um 7.20 Uhr gerät der Fünftonner der Soldaten Edgar Hernandez und Shoshana Johnson unter Beschuss. Nun sind feindliche Schützen überall, und jetzt greifen sie den ungeschützten Konvoi von allen Seiten an.
89Hernandez sucht einem irakischen Lastwagen auszuweichen; aber sein Camion driftet von der Fahrbahn ab und bleibt havariert liegen. Der Humwee mit Jessica Lynch wird beschossen und prallt in voller Fahrt auf den zerstörten
90Fünftonner. Robert Dowdy ist sofort tot, Lori Piestewa stirbt später im Spital, Edgar Hernandez und Shoshana Johnson geraten in Gefangenschaft.
91Die Gefreite Lynch überlebt mit gebrochenen Beinen, zerquetschtem rechtem Arm und einer Fleischwunde am Kopf. Bewusstlos wird sie von irakischen Soldaten aus dem Humwee- Wrack geborgen und ins nahe Militärspital gebracht. Dort erwacht sie, als sich der Arzt, Direktor und Brigadier Adnan Mushafafawi über sie beugt. Sie bittet: «Tun Sie mir nicht weh.» «Ich bin da, um Ihnen zu helfen», antwortet der Arzt. Er röntget die Schwerverletzte, richtet notdürftig ihre gebroche- nen
92Glieder und stützt diese mit Schienen und Gips. Dann verlegt er Jessica Lynch ins städtische Saddam-Hussein- Kranken- haus. In höchster Not hat Mushafafawi der amerikanischen Gefangenen das Leben gerettet.9
93Vorn an der Strasse leistet Miller den irakischen Schützen Widerstand. Rund 50 Meter vor ihm bauen Soldaten einen Granatwerfer auf.Als sie den Mörser laden, nimmt sie Miller unter Beschuss. In kurzem Gefecht tötet er eine Gruppe Iraker, womit er dem amerikanischen Konvoi den Weg frei schiesst. Dann rammt ihm ein Iraker den Gewehrkolben ins Gesicht, und er wird gefangen genommen. In Funksprüchen berichten
94irakische Offiziere von der heroischen Gegenwehr, die sie einer blonden Frau zuschreiben. Amerikanische Agenten fangen den Funkverkehr ab - und übernehmen ihn ungeprüft.
95Gute Pflege
96Jessica Lynch erhält auch im Zivilspital gute Pflege. Die ersten Tage verbringt sie auf der Intensivstation, nachher erhält sie ein Einzelzimmer. Eine Frau massiert ihr den Rücken und singt ihr zum Trost Schlaf lieder. Die Patientin verlangt und bekommt abgepackten Orangensaft und frische Bisquits. Einmal versucht das Personal, die Amerikanerin zu ihren Landsleuten zu bringen, die an Nassirija vorbei nach Norden vorstossen. Doch
97nach mehreren Suizid-Anschlägen halten die Marine-Infanteristen die Ambulanz für ein Fahrzeug von Selbstmord- Attentätern und schiessen auf den Krankenwagen.
98Am 27. März besucht der 32-jährige Anwalt Muhamed Odeh Rahajif im Saddam-Spital seine Frau Imam, die dort als Krankenschwester arbeitet. Er entdeckt die bandagierte Jessica Lynch und erfährt, dass es sich um eine amerikanische Gefangene handelt. Er überbringt die Nachricht den Marines, die vor Nassarija ihre Stellung halten. In farbiger Sprache berichtet er über angebliche Gräueltaten, die er selber beobachtet habe:
99Ein Saddam-Fedayin habe Jessica geschlagen, zuerst mit der Handfläche, dann mit dem Handrücken. Im Spital wimmle es von regulären und irregulären irakischen Truppen.
100Der Nachrichtendienst der Marines schickt den Verräter mehrmals ins Krankenhaus zurück. Er kundschaftet die Zugänge, die Wachmassnahmen und den genauen Standort der Gefangenen aus. Die Skizzen und Berichte des Anwalts dienen den Amerikanern zur minutiösen Vorbereitung der Befreiung von Jessica Lynch.
101
102Task Force 20
103In der Nacht vom 1. auf den 2 .April schlägt die Commando-Ein- heitTask Force 20 zu. Kurz vor Mitternacht setzen Blackhawk- Helikopter Army Rangers10 und Navy SEALs11 vor dem Spital ab. Aus der Luft schützen AC-130- Maschinen die Operation. Eine erste Kompanie Marine-Infanteristen sichert den Einsatzort grossräumig ab, eine zweite fährt mit Kampf- und Schützenpanzern abseits des Krankenhauses zur Ablenkung der Iraker einen Scheinangriff.
104Die Elitesoldaten der Navy graben, wie ihr Auftrag lautet, gefallene Amerikaner aus, während die Rangers zur Gefreiten
105Lynch vordringen. «Jessica Lynch?», flüstert ein Ranger der Gefangenen zu, «wir sind amerikanische Soldaten, wir sind hier,um Sie zu beschützen und nach Hause zu bringen.» «Auch ich bin ein Soldat», antwortet Jessica Lynch.
106Gewaltiger Coup
107Dann wird die noch immer Schwerverletzte auf eine Bahre gebunden und zu den Helikoptern gebracht. Die Marine- Infanterie- Kompanie, die das Spital gegen aussen schützt, gerät aus anliegenden Häusern unter Feuer. Im Krankenhaus selber befinden sich keine irakischen Truppen mehr; die regulären Soldaten und die
108Fedayin sind schon am 30. März abgezogen.
109Die Rangers finden nur noch Munition, Minenwerfer, Militärkarten und ein Geländerelief -Anzeichen dafür, dass das Spital als Kommandoposten gebraucht worden ist.
110Mit den Rangers dringt ein amerikanisches Video-Team zu Jessica Lynch vor. Mit einer Restlicht-Kamera wird die spektakuläre Befreiung gefilmt. «Wir wussten, dass das der Hit des Krieges ist», gibt Oberstleutnant John Robinson, ein Presseoffizier, unumwunden zu. «Wir wollten es filmen, und wir taten es. Es ist ein gewaltiger Coup, eine ganz heisse Geschichte.»
111«Bis zum Tod»
112Von da an kennen die Medien kein Halten mehr.Am 3. März lanciert die Washington Post den vermeintlichen Primeur des Krieges. «Sie kämpfte bis zum Tod», titelt die Zeitung neben dem Bild der auf der Bahre liegenden Jessica Lynch. «Sie kämpfte tapfer und streckte mehrere feindliche Soldaten nieder», heisst es im Lauftext. «Sie schoss, bis das Magazin leer war - sie wollte nicht lebendig gefangen genommen werden.»
113Doch damit nicht genug. Unter Berufung auf einen namenlosen Beamten12 berichten Susan Schmidt und Vernon Loeb von schweren Stichwunden Jessica
114Lynchs: Die irakischen Soldaten hätten mehrmals zugestochen, als sie Jessica gefangen nahmen. Die schweren Stichverletzungen hätten tödlich sein können. Noch im Militärspital von Landstuhl, wohin die Befreite evakuiert worden war, seien Stichwunden festgestellt worden.
115 «Ganz in Schwarz»
116Am 4. April doppelt die Washington Post mit einem sensationell aufgemachten Bericht über den Anwalt «Mohammed» nach - gemeint ist Muhamed Odeh Rahajif. «Iraker wagte alles, um Amerikanerin zu befreien», überschreibt die Post den neuen Aufmacher. Wörtlich übernimmt sie die Geschichte, die Ra- hajif schon den Marines aufgetischt hat: «In Jessicas Spitalzimmer stand ein mächtiger Fedayin, ganz in Schwarz. Er schlug die amerikanische Frau mit der offenen Hand, dann auch mit dem Handrücken. In diesem Augenblick beschloss Mohammed, etwas zu tun.»
117Fünf Ingredienzen
118Damit hat die Washington Post nun alle Zutaten für das Heldenepos des dritten Golf-Krieges beieinander:
119Erstens die heroische Gegenwehr der 19-jährigen Gefreiten aus Palestine, West Virginia.
120Zweitens ihr aufopfernder Kampf, der anderen Amerikanern das Leben rettet.
121Drittens die Stichwunden, die ihr irakische Soldaten bei der Gefangennahme zufügen.
122Viertens die Qualen, die sie im Spital von dem Saddam- Fedayin auszuhalten
123hat.
124Und fünftens die kühne Operation der Task Force 20, die sich im Krankenhaus zu der Schwerverletzten durchkämpft.
125Stück für Stück
126Jessica Lynchs Story ist so gut, dass sie Tage lang alle anderen Kriegsberichte überstrahlt. Für die amerikanische Führung kommt sie im richtigen Augenblick. Noch ist am 1./2. April die 3- Infanterie-Division nicht ganz auf Bagdad vorgestossen, und die wundersame Geschichte von der geretteten Gefreiten lässt manch andere weniger glorreiche Nachricht vergessen.
127Nur ist das Epos im Kern nicht wahr. Es ist dann Jessica Lynch selbst, die Stück für Stück die Wahrheit enthüllt. «Ich weiss nicht, warum sie gefilmt haben und diese Dinge sagen», klagt sie später in ihrem Elternhaus. «Ich weiss nur, dass ich im Spital lag und Hilfe brauchte.» Schon gar nichts weiss sie von
128Gegenwehr und Stichwunden. «Als die Iraker angriffen, hatte ich nur noch Angst in unserem Humwee. Mein Gewehr13 klemmte schon vorher, ich hätte gar nicht schiessen können. Ich steckte den Kopf zwischen die Knie, dann knallte es, und ich wurde bewusstlos.»
129Korrekt behandelt - gut gepflegt
130Kein Zweifel: Jessica Lynch machte am 23. März ein dramatisches Geschehen durch. Die Gefreite geriet jäh in den irakischen Hinterhalt, der elf Soldaten ihrer Kompanie das Leben kostete. Sie erlitt aber keine Kampfwunden, sondern «nur» schwere Verletzungen beim Aufprall ihres Fahrzeuges auf ein anderes. Und sie griff überhaupt nicht ins Gefecht ein, weil der Wüstensand ihr M-l6-Gewehr verstopft hatte.
131Auch im Saddam-Spital machte sie unsägliche Qualen durch, aber aus Angst und aufgrund ihrer Brüche und Quetschwunden. Rahajifs Bericht, wonach ein Fedayin sie drangsaliert habe, stellt sie selbst in Abrede: «Ich
132wurde korrekt behandelt und gut gepflegt, geschlagen wurde ich nie.»
133Und erfunden ist schliesslich die Geschichte vom Häuserkampf im Spital selbst. Es gab keine irakischen Soldaten mehr im Krankenhaus (und verlassenen Kommando-Posten), die den eindringenden Rangers Widerstand leisten konnten. Erwiesen ist einzig das Feuer von benachbarten Gebäuden auf die Marine-Infanteristen.
134Grundregel verletzt
135Wie konnte es zur überdrehten, ja unwahren Geschichte kommen? Eine erste Ursache liegt gewiss bei der Washington Post - ausgerechnet dem
136Blatt, das sich in den Jahren 1973 und 1974 unsterblichen Ruhm geholt hatte, als es Präsident Nixons Machenschaften im Gefolge des Watergate-Einbruchs aufdeckte. Die Post brachte Jessica Lynchs «Heldenepos» in reisserischer Aufmachung. In der Erregung der zweiten Kriegswoche vertraute sie einer einzigen Quelle, dem nach wie vor unbekannten «Beamten». Sie verletzte die elementare Regel, wonach jede Aussage von einer zweiten Quelle bestätigt werden muss. Sie unterliess es, den Bericht des Beamten anhand einer unabhängigen zweiten Person zu überprüfen.
137Zugute zu halten ist der Post, dass sie die
138Wahrheit selber an den Tag brachte, nachdem Jessica Lynch die ursprünglichen Berichte richtig gestellt hatte. Unter dem Titel «Ein zerbrochener Körper, eine zerbrochene Geschichte, zusammengesetzt» veröffentlichte die Zeitung eine ausführliche Korrektur voller - nun präziser - Einzelheiten14.
139Miller, nicht Lynch
140LJnd was bewog den «Beamten», die Geschichte von Jessica Lynchs verzweifelter Gegenwehr so ungeschützt in die Welt zu setzen? Denkbar ist, dass das Pentagon oder die amerikanischen Streitkräfte dem Agentenbericht vertrauten, der vom heroischen Kampf einer blonden Frau berichtete. Wie man
141heute weiss, handelte es sich um einen Rapport der National SecurityAgency (NSA).
142Stutzig macht allerdings der Bezug auf Jessica Lynchs Haarfarbe. Amerikanische Soldaten tragen im Einsatz immer den Helm. Keine andere Armee ist da so streng. Am 23. März 2003 befand sich die 507. Kompanie in einer heiklen, ja bedrohlichen Lage. Eigentlich ist auszuschliessen, dass Jessica Lynch ihr Haar offen und den Helm nicht trug.
143Denkbar ist, dass die NSA den Kampf des Gefreiten Miller mit dem Schicksal von Jessica Lynch vermengte. An jenem
144Morgen gab es in Nassirija einen amerikanischen Soldaten, der mehrere Iraker erschoss, bevor er in Gefangenschaft fiel. Nur war es Patrick Miller, nicht Jessica Lynch. Unbestreitbar ist, dass der amerikanischen Führung die Lynch- Geschichte gelegen kam. Jeder Krieg braucht Helden, und die Story der zierlichen Gefreiten und ihrer Befreiung bot sich den Medien-Planern geradezu an.
145Aufschlussreich ist, dass die Task Force 20 ein Kamera- Team mitnahm. Es ist immerhin ungewöhnlich, dass sich eine Commando-Einheit in einer derart ungewissen Aktion mit Video-
146Aufnahmen zusätzlich belastet. Wer indessen weiss, wie gründlich amerikanische Kommandanten vor jeder Operation auch die Informationsführung planen, den erstaunt das Vorgehen nicht. Das Pentagon und das Central Command ahnten, was da kam - und sie griffen zu, nur am Ende mit zweifelhaftem Erfolg.
147 «Jeder tat seine Pflicht»
148Jessica Lynch heilt inzwischen ihre Wunden aus. Das Buch ihres Biographen startete mit einer Erstauflage von 500'000 Exemplaren. Aber Jessica wird nicht müde, am Fernsehen zu beteuern: «Ich bin keine Heldin - Helden waren die Soldaten, die uns retteten.»
149Edgar Hernandez und Shoshana Johnson sind wieder frei, und auch Johnson gibt Memoiren heraus. Patrick Miller hält sich mit öffentlichen Auftritten zurück, auch er will kein «American hero» sein.
150Troy King schliesslich wurde im Sommer 2003 ehrenhaft aus der Armee entlassen, ohne jegliche
151Schuldzuweisung. «Alle Soldaten verhielten sich honorabel, und jede und jeder tat seine Pflicht», schliesst der Untersuchungsrichter seinen Bericht ab.
1522 Eingebettete Reporter
153«Das Einbetten der Medien setzt Vertrauen voraus.y5 (Handbuch der U.S.Army für Öffentlichkeitsarbeit)
154«Irakische Soldaten! Stellt eure Panzer im Carré auf höchstens in Bataillonsstärke! Verlasst eure Fahrzeuge und stellt euch einen Kilometer davon entfernt auf!»16 (Amerikanisches Flugblatt)
155«Es gibt keine amerikanischen
156Ungläubigen in Bagdad.»11 (Muhamed Said Sahaf 8. April 2003)
157Im dritten Golfkrieg zogen die amerikanischen und britischen Streitkräfte ihre bisher umfassendste Informationsoperation durch.18 Die alliierte Führung verfolgte drei Hauptziele:
158Sie versuchte erstens, die irakischen Soldaten zum Desertieren zu bewegen. Dies entsprach der erklärten Absicht, den Feldzug mit einem Mindestmass an eigenen Verlusten zu gewinnen.
159Zweitens wollten die Angreifer die irakische Bevölkerung in ihrem Sinn beeinflussen. Mit Flugblättern und
160Radiosendungen riefen ftie das Volk zum Widerstand gegen den Diktator Saddam Hussein auf.
161Drittens führten die Alliierten einen unerhörten Propagandakrieg um die Weltmeinung. Das Pentagon und das britische Verteidigungsministerium lockerten die ehernen Regeln der Geheimhaltung und erlaubten eingebetteten Reportern, die Kampftruppen zu begleiten.
162Im zweiten Golf-Krieg von 1991 desertierten 144'000 Iraker. Damals hatte der alliierte Befehlshaber, General Norman Schwarzkopf, die Parole erlassen, Kuwait sei mit einem Minimum an eigenen Gefallenen und Verwundeten
163zu besetzen. Dies gelang nach Wunsch: Die amerikanische 4th Psychological Operations Group (Airborne) warf 29 Millionen Flugblätter ab. Ihre Lautsprecher-Kompanien verleiteten ganze Bataillone zur kampflosen Kapitulation. Schwarzkopf zitierte den chinesischen Strategen SunTzu: «Es ist besser, eine feindliche Armee gefangen zu nehmen, als sie zu vernichten.»
16440 Millionen Flugblätter
1652003 leitete der neue Befehlshaber, General Tommy Franks, den Krieg der Worte früh ein. In den ersten Januar- Tagen begann die 4th POG, über den irakischen Stellungen Handzettel
166abzuwerfen. Bis zum 14. April, zum Tag, an dem die Marine- Infanterie Saddams Herkunftsort Tikrit besetzte, streuten die amerikanischen Streitkräfte 40 Millionen Flugblätter - wieder mit dem Ziel, irakische Soldaten zum Aufgeben zu bewegen.
167Die Botschaft lautete: «Irakischer Soldat, wenn du nicht für Saddam Hussein sterben willst, dann schliesse dich den siegreichen alliierten Truppen an.» Wie 1991 vermieden die Amerikaner die Verben «desertieren» oder «überlaufen» tunlichst. Die Flugblätter appellierten an den Familiensinn der Soldaten und stellten die Überlegenheit der westlichen
168Waffen drastisch dar. Sie zeigten, wie alliierte Bomber die veraltete irakische Fliegerabwehr zerstörten. Sie «verboten» es den Solda ten,unterbrochene Leitungen zu flicken;und sie «baten» sie,Ol nicht anzuzünden.
169Oft sprechen Handzettel Truppen direkt an: «Wir wis sen, dass hier die 16. Infanterie-Division liegt. Heule kommen Flugblätter,morgen Bomben». Oder das Revers des l Ihi i l.uili i passes zeigte zerstörte irakische Kampf- und Schiiizciipan/ei «So erging es dem l.Tammuz-Bataillon der 24. Brigade der 10. Panzer-Division. Es verhielt sich nicht so, wie es ihm das alliierte
170Bündnis vorgeschrieben hatte.»
171Überlagert wurde der Flugblatteinsatz von Botschaften, die über Lautsprecher in arabischer Sprache an der Front erschallten. Im Kampf um Bagdad lockten taktische Einheiten der 4th Psychological Operations Group irakische Freischärler aus ihren Stellungen, indem sie die tödliche Beleidigung verbreiteten, arabische Männer seien impotent.
172Ein amerikanisches Flugblatt forderte die Empfänger auf, abgeschossenen alliierten Fliegern beizustehen: «Helft den Piloten, zu ihren Familien zurückzukehren. Gebt ihnen zu essen und zu trinken. Verarztet sie, wo nötig. Gebt
173ihnen freies Geleit und weist ihnen den Weg. Ihr werdet dafür reichlich belohnt.»
174Prämien und Kopfgelder
175Umgekehrt setzte das irakische Regime schon vor dem Krieg beträchtliche Kopfgelder und Prämien aus: Umgerechnet 14'000 Dollar für jeden getöteten alliierten Soldaten, 28'000 für jeden Gefangenen, 55'000 für ein abgeschossenes Flugzeug und 28'000 für einen Helikopter.
176Als der Krieg ausbrach, warnten irakische Kommandanten ihre Soldaten, die feindlichen Flugblätter aufzulesen: Die Handzettel seien vergiftet, und das
177Berühren führe zum Tod. Die abschreckende Wirkung der Warnung hielt sich in Grenzen: Noch im März begannen sich in der regulären Armee ganze Truppenverbände aufzulösen. Unter dem massiven Luft- und Artillerie- Bombardement der zweiten Kriegswoche setzte der Zerfall Anfang April auch bei den vermeintlich elitären Garde-Divisionen ein, und am Schluss streckte in Mossul das gesamte 5. Korps - oder das, was davon noch übrig geblieben war - kampflos die Waffen.
178Die Zahl der Überläufer lag im dritten Golf-Krieg deutlich unter derjenigen von 1991 .Aber damals schloss General Schwarzkopf die gegnerischen
179Streitkräfte regelrecht ein. Die Umfassung von Westen mündete in die Massenkapitulation der Iraker. Im neuen Waffengang liefen viele Iraker einfach davon, ohne dass die Alliierten sie als Deserteure registrierten. Später kam die Vermutung auf, die Flucht der vielen Kämpfer sei von langer Hand geplant gewesen, um den Guerilla-Krieg gegen die Besatzungstruppen vorzubereiten.
180Weisse und schwarze Sender
181Im Kampf um die irakische Bevölkerung erwies sich erneut das Radio als das Königsmedium. Die alliierte Führung brachte weisse und schwarze Sender zum Einsatz. Die weissen Stationen gaben sich offen als das zu erkennen,
182was sie waren: Instrumente der Koalition. Flugblätter forderten die Iraker auf, jeweils von 18 bis 23 Uhr Radiyo al-Ma'ulumat19 zu hören: das offizielle Medium der Amerikaner. Über fünf Frequenzen verbreiteten die Angreifer ihre Botschaft: über 756 und 693 kHz Mittelwelle, über 9715 und 11292 kHz Kurzwelle sowie über 100,4 MHz UKW.
183 Mehrere schwarze Sender gaben sich als irakische Stationen aus, ohne das zu sein. Die amerikanische CIA betrieb in Kuwait Radio Tikrit, den Sender «des irakischen Volkes für ganz Irak und alle Iraker». Der britische Geheimdienst Ml6 bediente sich ebenfalls von Kuwait aus der clandestinen Station Al- MustaqbaPderen starker Sender eine Leistung von 50 Kilowatt erbrachte.
184Das irakische Regime focht im Radio- Krieg mit kürzeren Spiessen. Viele staatliche Anlagen waren schon vor dem neuen Waffengang technisch obsolet geworden, und am 28. März traf ein B-2- Bomber Studio-Einrichtungen und Sender so präzis, dass diese fortan weit
185gehend unbrauchbar waren. Demgegenüber setzten die Amerikaner als Sendeplattformen mehrere EC-130E- Masehinen vom Typ Commando Solo ein, die im Kampf der verbundenen Medien die Luftüberlegenheit behaupteten. Und die Briten strahlten während des ganzen Krieges ihre Programme auch von der Fregatte HMS Chatham aus, die im Persischen Golf kreuzte.
186Die amerikanische Kernbotschaft lautete an das irakische Volk: «Wir kommen, um euch zu helfen. Wir zerstören nicht euer Land und eure Kultur, wir greifen nur Saddams Paläste und Kommando- Zentralen an. Harrt aus, nach dem Krieg
187wartet ein besseres Leben auf euch». Deckungsgleich agierten die Briten im Raum Basra: «Diesmal lassen wir euch nicht im Stich. Vertraut uns!» Damit sollte die Enttäuschung von 1991 überspielt werden - damals waren die Schiiten im Südirak von den Alliierten verraten worden.
188Das Trauma von Vietnam
189Im Propaganda-Krieg um die Weltmeinung wagten die Alliierten viel. Noch 1991 hatte General Schwarzkopf die Medien am kurzen Zügel geführt. Er berief sich auf die Geheimhältung und liess Berichte von der Wüstenfront nur zögerlich zu. Dafür täuschte er Saddam Hussein: Er spielte ausgewählten
190Berichterstattern die Desinformation zu, er werde Kuwait vom Persischen Golf aus besetzen - was er bekanntlich nicht tat.
191Schwarzkopfs Abneigung gegen die Medien wurzelte im Vietnam-Trauma der amerikanischen Militärführung. In Indochina hatte sie den Reportern viel Freiheit gewährt. Das führte zum ersten Fernseh-Krieg der Geschichte. Die damaligen Giganten ABC, CBS und NBC übertrugen aus den Dschungeln von Vietnam die Gräuel unfiltriert in die guten Stuben der USA. In den Köpfen der amerikanischen Offiziere setzte sich die Auffassung fest, sie hätten den Krieg nicht auf dem Gefechtsfeld, sondern an
192der «Heimatfront» verloren. Dies trifft so nicht zu: Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten waren dem Vietcong und der nordvietnamesischen Armee im Guerilla- Kampf unterlegen. Die Niederlage erlitten sie vor Ort.Aber der Eindruck, das Fernsehen habe den Krieg entschieden, verleitete sie zur restriktiven Informationsführung, wie sie sie bis zur Afghanistan-Operation vom Herbst 2001 durchsetzten.
193Im dritten Golf-Krieg jedoch galt die Devise:Wir betten die Reporter in unsere Kampfverbände ein und lassen sie vom Gefechtsfeld berichten. Die Alliierten bildeten die Korrespondenten zu Kriegsberichterstattern aus, liehen
194ihnen Gasmasken und Schutzanzüge und führten sie an vorderster Front in Kampfeinheiten mit.
195Enge Fesseln
196CNN übertrug den Vorstoss der amerikanischen 3- Infanterie- Division wie ein Autorennen. Walter Rodgers, der alte Haudegen, berichtete vom Angriff auf Kerbela wie von der Rallye Paris-Dakar. Er fuhr mit dem 7. Kavallerie-Regiment im Schützenpanzer durch die Wüste und vermittelte dem Publikum das Gefühl, den Krieg live an der Front mitzuerleben.
197Rund 600 Reporter wurden «eingebettet». Allerdings legte die
198alliierte Führung auch und gerade den Eingebetteten enge Fesseln an. Die Korrespondenten unterschrieben Regeln, welche die Berichterstattung stark einschränkten21. Tabu waren Standorte, Ziele, Absichten und fast alle Operationen der Sondereinheiten - ausgenommen war nur die Befreiung von Jessica Lynch, die aber die Task Force 20 selber, nicht ein ziviler Korrespondent in Ton und Bild festhielt.
199Ulrich Klose, der den Krieg im deutschen Fernseh-Sen- der RTL übertrug, zog später Bilanz: «Wir Eingebetteten durften nie sagen, wo wir waren. Das machte Sinn.Wir durften keine gefallenen Amerikaner zeigen,
200dies auch, weil wir Rücksicht nahmen auf die Angehörigen. Wir durften keine Zahlen nennen und vermieden es, die Waffentypen zu bezeichnen.»22 Der Entscheid, was gesendet oder gedruckt wurde, lag beim Kampfkommandanten. Nicht alles, was die Kamera-Equipen aufnahmen, ging über den Sender; und nicht jede Beobachtung der Printreporter fand den Weg in die Zeitungsspalten. Sensibles Material hielten die Befehlshaber zurück, und geheime Gefechtszonen blieben auch den eingebetteten Korrespondenten verschlossen. Wer die Regeln verletzte, flog rasch aus dem Bett.
201Das «richtige» Kriegsbild
202An der neuen Informationsdoktrin der Alliierten schieden sich die Geister. «Das Einbetten der Medien setzt Vertrauen voraus», stipulierte das Handbuch der amerikanischen Armee schon vor dem Krieg. Das erklärte Ziel war es, die Berichterstatter den Soldaten nahe zu bringen und sie direkt am Geschehen teilhaben zu lassen. Den Amerikanern und den Briten ging es darum, die gegnerische Propaganda aufzufangen und das «richtige», das eigene Kriegsbild zu vermitteln.
203Dies sei mehr als gelungen, heisst es im Schlussbericht der 3- Infanterie- Division: Die Reporter hätten den «grossartigen Einsatz der Truppe» auf
204der ganzen Welt verbreitet, wahr- heitsgemäss und unverblümt: «Die eingebetteten Medien schufen das Gegengewicht zur negativen Berichterstattung ausserhalb des Iraks.»23
205Je mehr Quellen, desto besser
206Ganz anders der Fernseh-Korrespondent Werner van Gent, der an der Nordfront als «Unilateraler», also als Nicht- Eingebetteter, über den Krieg berichtete: Er gelangte zum Urteil, das Einbetten habe mit redlichem Journalismus nichts zu tun. Die Kritiker der alliierten Informationsführung beanstandeten, die eingebetteten Reporter hätten sich von der Truppe «kaufen» lassen: Sie hätten
207mit den Soldaten gegessen, getrunken, geschlafen und gelebt - und so jede Distanz verloren, was berufsethisch verwerflich sei.
208Den Kritikern widersprach Klose: «Van Gents Urteil ist der Ausbund von Ahnungslosigkeit. Ich freundete mich mit den Truppen nicht an. Die Amerikaner behaupteten, die Versorgung funktioniere gut. Ich aber hatte dreiTage kein frisches Wasser. Je mehr journalistische Quellen berichten, desto besser lassen sich die offiziellen Angaben überprüfen.»
209Der Lügenbold von Bagdad
210Schwach war die irakische Gegenwehr. Saddam Hussein - oder ein
211Doppelgänger - zeigte sich jeweils nach den misslungenen Enthauptungsschlägen, welche die Kriegskoalition auf ihn angesetzt hatte. Die eigentliche Propaganda führte der Informationsminister Muhamed Said Sahaf. Mit grotesken Auftritten erlangte er Kultstatus; aber er log so dreist, dass er am Schluss nur noch Lacherfolge erzielte: «Es gibt keine amerikanischen Ungläubigen in Bagdad», verkündete er noch am 8. April auf dem Vordach des Hotels Palestine, obwohl schon eine amerikanische Panzergranate im 15. Stock eingeschlagen hatte.
212Über die Auswirkungen des Medienkampfes gehen die Urteile weit
213auseinander. Das irakische Volk empfing die westlichen Truppen nicht mit Jubel, und Mitte April ging der alliierte Feldzug nahtlos in den Guerilla-Krieg über. In der Weltmeinung fühlten sich die Gegner und die Befürworter der Irak- Operation bestätigt. Sie verharrten in den ideologischen Gräben, die sie schon vor dem Krieg ausgehoben hatten. Kaum je zuvor hatte ein Waffengang die Gemüter derart polarisiert - und ungeachtet der Propaganda behaupteten beide Lager auch nach geschlagener Schlacht, sie und nur sie hätten von Anfang an Recht gehabt.
2143 Panzer gegen Presse?
215«Man schickt einen Feuerwehrmann
216auch nicht ohne Schlauch ins Feuer».24 (Chris Cramer, Mana- ging Editor CNN)
217«Mögen die Kriege und die Schurken, die sie anzetteln, verdammt sein»}'' (Julio Anguita, Vater des getöteten Reporters Julio Anguita Parrado)
218«Kann es sein, dass die amerikanischen Streitkräfte nicht wollen, dass aus Bagdad berichtet wird?»26 (Robert Fisk, britischer Korrespondent)
219«Die Aktion stand in vollem Einklang mit den gültigen Gefechtsregeln».21 (United States Central Command)
220Während des ganzen Irak-Krieges kamen Reporter, Fotografen und Kameraleute
221ums Leben, und zwar auf beiden Seiten der Front. Dramatisch spitzte sich die Lage der Berichterstatter zu, nachdem die amerikanischen Streitkräfte zum Stoss auf Bagdad angesetzt hatten.
222Am 7. April 2003 starben im Süden der umkämpften Stadt die beiden eingebetteten Korrespondenten Christian Liebig und Julio Anguita Parrado, als um 10.30 Uhr eine irakische Rakete mit einem 200-Pfund-Sprengkopf im Operationszentrum der 2.Brigade der 3. Infanterie-Division einschlug. Liebig hatte für das deutsche Magazin Focus berichtet, sein spanischer Kollege für die Tageszeitung El Mundo. Liebig hätte mit der 2. Brigade in den Stadtkern von
223Bagdad vorrücken können; aber um seiner Sicherheit willen verzichtete er auf den Höllenritt mit den Panzerspitzen. Dennoch verlor er - in einer zurückgestaffelten Stellung - das Leben.
224Am 8. April, als der Kampf um Bagdad schon fast entschieden war, wurden noch einmal ein Journalist und zwei Kameramänner tödlich getroffen, diesmal auf der irakischen Seite der Front. Um 7.45 Uhr schlug eine amerikanische Bombe im Büro des arabischen Fernsehsenders Al-Jazeera ein\der jordanische Korrespondent Tariq Ayoub wurde schwer verwundet und starb im Spital.
225Volltreffer
226Vier Stunden später landete ein Abrams- Panzer einen Volltreffer im Hotel Palestine, aus dem rund 100 Reporter den Endkampf um Bagdad live übertrugen. Kurz nach dem Angriff erlagen der spanische Kameramann José Couso und sein ukrainischer Kollege Taras Protsyuk ihren Verletzungen. Couso hatte den alliierten Vormarsch für den Privatsender Tele 5 gefilmt; Protsyuk arbeitete für die britische Agentur Reuters.
227Namentlich der Tod der beiden Kameramänner erregte die Journalisten im Palestine-Hotel und auf der ganzen Welt. «Kann es sein, dass die
228amerikanischen Streitkräfte verhindern wollen, dass aus Bagdad berichtet wird?», fragte im britischen Independent der Korrespondent Robert Fisk28. Noch weiter ging der Deutsche Journalisten- Verband: Er warf den Angreifern vor, sie hätten die Kameraleute absichtlich getötet29.
229Die amerikanische Militärführung verteidigte den Schuss auf das Korrespondenten-Hotel von Anfang an. Generalmajor Bufort Blount, der Befehlshaber der 3- Division, liess nach dem Vorfall verlauten, seine Truppe sei aus dem Hotel mit Raketen- und Gewehrfeuer belegt worden. Brigadier Vincent Brooks präzisierte im
230Hauptquartier des Zentral-Kommandos, die vorrückende Division sei aus dem Empfangsraum des Hotels beschossen worden; und Oberst David Perkins, der Kommandant der 2. Brigade, mahnte die Journalisten, es sei lebensgefährlich, aus den irakisch beherrschten Vierteln von Bagdad über den Krieg zu berichten30.
231Wie die mysteriöse Geschichte der Gefreiten Jessica Lynch ist der Beschuss des Hotels Palestine eingehend untersucht worden. In deutscher Sprache hielten Antonia Rados31, Ulrich Tilgner32 und Stephan Kloss33 ihre Eindrücke und Beobachtungen fest. Im wahrsten Sinne minuziös schildert das SPIEGEL-Buch «Irak - Geschichte eines
232modernen Krieges» den Ablauf34. Kritisch durchleuchtet das New Yorker Commit- tee to Protect Journalists (CPJ) den fatalen Vorgang35; und die militärisch-taktische Sicht vermittelt kühl das amerikanische Oberkommando36.
233Wo sitzt der Späher?
234Demnach beginnt am 8. April der Kampf um die Tigris-Brücken um 4 Uhr morgens. «Es ist heftiger als alles, was wir bisher erlebt haben», rapportiert Hauptmann Philip Wolford, der Kommandant der A-Kompanie derTask Force 4-64. DieTask Force37 bildet das 4. Bataillon der 2. Brigade der 3- Division; die Nummer 64 stammt in der
235Tradition vom 64. Regiment, das als solches aber nicht mehr besteht.Wolfords Vorgesetzte sind im Bataillon Oberstleutnant Philip DeCamp und in der Brigade Oberst Perkins.
236Der Auftrag der A-Kompanie lautet, die Jumhurija- Brücke zu besetzen und auf das östliche Tigris-Ufer vorzurücken. Doch Wolfords Abrams-MlAl-Panzer geraten am Fluss unter massives Feuer. Zwei Soldaten werden verletzt, und im Lauf des Morgens bittet Wolford um Unterstützung aus der Luft. Zu schaffen macht den vordersten beiden Panzern auf der Brücke ein irakischer Späher, der vom Ostufer aus das Artillerie-Feuer dirigiert.Wolford setzt seine ganze
237Energie daran, den gegnerischen Schiesskommandanten auszuschalten. Von einer brenzligen Lage berichtet später Jules Crittenden38, der die Kompanie als Korrespondent des Boston Herald begleitet: «Alle wollten wissen, wo der Späher sass - auch ich suchte ihn fieberhaft. Wir fürchteten, dass uns eine Artillerie-Salve treffen würde, und wir taten alles, dass dies nicht geschah.»
238Wenn auf der Brücke die Panzer ihre Rohre flussabwärts drehen, dann zeigen diese auf zwei markante Hotel- Türme, rechts das Sheraton, links das Palestine. Das Palestine ist 17 Stockwerke hoch und liegt vom Panzer-Standort rund 1200 Meter39 entfernt. Oben prangt weithin
239sichtbar der Name des Hotels. Mit blossem Auge ist der Schriftzug nicht zu lesen, sicher aber mit Hilfe eines Feldstechers.
240Wo genau liegt das Hotel?
241Oberst Perkins führt die Brigade vom neuen Präsidentenpalast auf dem Westufer des Tigris aus. In seinem Gefechtsstand hört der erfahrene Korrespondent Chris Tomlinson den Funkverkehr mit.Tomlinson vertritt für die Agentur Associated Press. Perkins schickt sich an, die Luftwaffe anzufordern. Er weiss, dass sich irgendwo auf dem Ostufer des Flusses das Hotel Palestine befindet, aber nicht exakt, wo.
242Perkins bittet Tomlinson um Rat. Seine Landkarte stamme aus dem Jahr 1993 und enthalte keine Hausnamen. Asso- ciated Press berichte doch von beiden Seiten der Front. Da könnte Tomlinson doch seine Kollegen anrufen und herausfinden, wo genau das Hotel liegt. Tomlinson tut sein Bestes und setzt sich mit dem Stützpunkt seiner Agentur in Doha in Verbindung. Er schlägt vor, die Reporter im Palestine sollten weisse Leintücher aus den Fenstern hängen, um das gefährdete Hotel zu kennzeichnen - am besten mit den Aufschriften «Press» und «TV».
243Dies geschieht nicht. Die
244Berichterstatter, Fotografen und Kameramänner stehen und sitzen auf den Baikonen, die wie Tribünen der Front zugewandt sind. Vom Palestine aus filmen sie die Panzer auf der Brücke und die irakische Infanterie in ihren Schützengräben und Schiessständen. «Es war wie in Hollywood», schwärmte nach dem Krieg Patrick Baz, der seine Bilder für Agence France Presse schoss, «sie sahen uns, und wir sahen sie.»40
245Gezielt - und getroffen
246Um 11.20 Uhr flaut das Gefecht ab. Die meisten Reporter ziehen sich in ihre Zimmer zurück. Nur im 14. Stock nimmt José Couso noch einmal den Fluss und die Brücke auf. Taras Prot- syuk bleibt
247im 15. Stock auf dem Balkon sitzen, aber er dreht nicht mehr. Im Präsidentenpalast sucht Chris Tomlinson nun den direkten Kontakt über den Tigris hinweg - doch das Unheil nimmt seinen Lauf.
248Um 11.55 Uhr erkennt auf der Brücke Sergeant Shawn Gibson, einer der Panzerführer, ein Tele-Objektiv im Palestine- Hotel. Er hält es für das Fernrohr des gesuchten Artillerie- Beobachters. «Ich sehe den vorgeschobenen Späher», meldet er über Funk dem Kompanie-Kommandanten, «dort drüben ist er, auf dem Turm.» Wolford gibt das Feuer frei41, und Gibson zielt - und trifft.
249«Ihr dürft nicht schiessen!»
250Die HEAT-Granate42 schlägt in der 15. Etage genau dort ein, wo der Panzerschütze das vermeintliche Fernrohr ausgemacht hatte. Protsyuk wird tödlich getroffen, Couso erwischt einen Stock tiefer Splitter und Trümmer. Er hat Wunden in den Beinen und im Gesicht, und auch er stirbt. Schwer verletzt werden Cousos Reuters- Kollegen Samia Nakhoul, der Bürochef, Paul Pasquale, der Techniker, und Faleh Kheiber, ein Fotoreporter.
251Am Tigris fragt Oberstleutnant DeCamp den Kompanie- Chef Wolford am Funk: «Verdammt noch mal, hast du auf das Palästinenser-Hotel geschossen?»
252Wolford antwortet: «Ja, wir hatten auf dem Turm einen Späher entdeckt». Darauf weist DeCamp Wolford mit den Worten zurecht: «Ihr dürft das nicht, ihr dürft nicht auf das Hotel schiessen, es ist mir ernst, stellt um Himmels willen das Feuer ein!» Dann fährt DeCamp zu Wolford an der Brücke; was die beiden Kommandanten unter vier Augen bereden, bleibt ihr Geheimnis.
253«Glatte Lüge»
254Auf dem Brigade-Gefechtsstand raunt Chris Tomlinson dem Obersten Perkins zu: «Jetzt ist es zu spät.» «Ja, ich weiss», räumt Perkins ein, «ich habe soeben befohlen, dass keiner mehr auf
255das Hotel schiesst - unter keinen Umständen, nicht einmal dann, wenn wir von dort beschossen werden.»
256Rasch geben nun Perkins, sein Vorgesetzter Blount und der offizielle Sprecher Brooks ihre Version ab, wonach dieTask Force 4-64 von der Hotel-Lobby aus beschossen worden sei. Im Palestine widersprechen die Journalisten vehement. Das französische Fernsehen spielt ein Tonband ab, auf dem für die fragliche Zeit rund um das Hotel keinerlei Gefechtslärm ertönt. Ulrich Tilgner spricht von einer «glatten Lüge», und Stephan Kloss weist darauf hin, dass im Palestine der Empfangsraum von der Front abgewendet liegt.
257Orden für Wolford
258Rasch verlangt das Committee to Protect Journalists (CPJ) vom amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, er müsse das tragische Geschehen gründlich untersuchen. Es ist dann aber nicht das Pentagon, das die beteiligten Kommandanten und Panzerführer vernimmt, sondern das Zentral- Kommando. Am 12. August, vier Monate nach dem Vorfall, kommt das Kommando zum Schluss, die Aktion sei in Notwehr erfolgt und stehe «in vollem Einklang mit den Gefechtsregeln». Der amtliche Bericht hält die Frontstellung am Tigris fest und hebt hervor, dass es die Pflicht der A-Kompanie gewesen
259sei, den irakischen Späher zu bekämpfen. Zur Rolle der Reporter heisst es knapp: «Bagdad war erfüllt von schweren Kämpfen. Dennoch hatten sich gewisse Journalisten entschlossen, an der Front zu bleiben. Sie waren vorher gewarnt worden, dass sie sich in äusserster Gefahr befanden.»
260An die Adresse von DeCamp, Wolford und Gibson richtete das Kommando keine Vorwürfe. Die Beteiligten wurden von jeglicher Schuld freigesprochen. DeCamp schlug Wolford für den Silver Star vor, einen recht hohen Tapferkeitsorden43, dies allerdings für Wolfords Einsatz an einer anderen Brücke.
261In Lebensgefahr
262Aufgrund der kritischen Untersuchungen lässt sich - erstens - festhalten, dass die freien Berichterstatter die Balkone des Palestine-Hotels ungeschützt benutzten; eigentlich hätten sie wissen müssen, dass sie sich so nahe an der Front in Lebensgefahr befanden.
263Zweitens fanden in der Umgebung des Hotels Palestine am S.April schwere Gefechte statt. Vom Tigris-Ostufer aus leistete die irakische Infanterie Widerstand, und wie der Funkverkehr belegt, leitete vom Hotel-Viertel aus ein Schiesskommandant den Einsatz der irakischen Artillerie. Vom Hotel selber ging aber kein Feuer aus - schon gar
264nicht vom Empfangsraum, der lediglich zur Etappe, nicht zur Front offen war.
265Insofern entsprachen - drittens - die Aussagen hoher amerikanischer Offiziere nicht der Wahrheit.
266Viertens legten Captain Wolford und Sergeant Gibson nach dem Vorfall glaubwürdig dar, dass sie nicht wussten, dass der Turm 1200 Meter flussabwärts ein Journalisten-Hotel war.
267Gibson handelte in Notwehr, weil er glaubte, dasTele-Objektiv auf dem Hotel-Balkon gehöre zum gegnerischen Späher, den er auszuschalten hatte44.
268Fünftens enthielt die amerikanische
269Bagdad-Karte keine Angaben zu den Gebäuden. Der Brigade-Kommandant wusste wohl, dass es ein Hotel Palestine gab; aber selbst er kannte den genauen Standort nicht. Die Rettungsaktion des Korrespondenten und Kriegsveteranen Tomlinson kam zu spät.
270Wie 1999 in Belgrad
271Das allgemein gehaltene Kartenbild erinnert an Hauptmann Kings Irrfahrt in Nassirija, als auf seiner Marschroute die Ausweichstrasse fehlte. Und unvergessen bleibt der irrtümliche Beschuss der chinesischen Botschaft in Belgrad, als die CIA am 7. Mai 1999 das Ziel grobfahrlässig auf einem zehn Jahre alten Stadtplan bestimmte45.
272Zu fragen ist, ob die Angreifer verpflichtet gewesen wären zu wissen, dass das Palestine Reporter beherbergte. Ulrich Tilgner wirft der amerikanischen Führung vor, sie habe nachlässig gehandelt. Demgegenüber beharren Frontkommandanten wie Blount oder Perkins auf dem Standpunkt, die Berichterstatter hätten sich selber in Gefahr begeben.
273Kritik an der Sorglosigkeit der Berichterstatter übten auch Journalisten. Unbedarftheit sei an der Front ein schlechter Ratgeber. Zu viele Reporter seien mangelhaft ausgebildet und unzureichend ausgerüstet in den Krieg
274gezogen - oder wie es der CAW-Chef Chris Cramer formulierte: «Man schickt einen Feuerwehrmann auch nicht ohne Schlauch ins Feuer.»
275Gut fasst es Ann Cooper, die Direktorin des CPJ, zusam men: «Der Beschuss des Hotels Palestine war nicht beabsichtigt; aber er hätte vermieden werden können.»46
276Irak-Feldzug 2003: Das amerikanische Flugblatt ruft die Soldaten der irakischen Fliegerabwehr zum Desertieren auf.
277Dieses Flugblatt gibt Anweisungen: «Lasst eure Panzer stehen und verschiebt euch einen Kilometer von den Panzern weg.»
278
279 Ein weiteres amerikanisches Flugblatt fordert die Iraker auf, unterbrochene
280Kommunikationen nicht zu reparieren.
281 Die Gefreite Jessica Lynch vor dem Irak-Krieg 2003.
282Jessica Lynch als Gefangene im Spital von Nassirija.
283
284 Jessica Lynch wird aus dem Spital getragen. Anfänglich entstand der Eindruck, sie sei im Kampf befreit
285worden. Das traf aber nicht zu.
286
287Im Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte wird die Befreiung der Gefreiten Lynch offiziell bekannt gegeben.
288
289 Zu Hause in den USA wird Jessi- ... bis sie die Wahrheit über ihren ca Lynch als Heldin gefeiert,... Einsatz selber enthüllt.
290Blick von der Jumhurija-Brücke in Bagdad auf das Hotel Palestine. Das Hotel liegt rund 1200 Meter von der Brücke entfernt.
291I
292(Will
293Auf den Baikonen setzten sich Kamerateams dem Beschuss aus.
294Captain Philip Wolfords Kompanie schoss auf das Hotel.
295ZWEITERTEIL Auch Bond kann irren: Blair, Bush und Saddams Waffen
296 4 Der Lordrichter und die BBC
297«Die irakischen Streitkräfte körnten chemische und biologische Waffen einsetzen, innert 45 Minuten nach Befehlsgebung.»47 (Tony Blair, 24. September 2002)
298«Die Regierung wusste, dass die Angaben zu den 45 Minuten falsch waren. Aber Downing Street bauschte die Gefahren bewusst auf.»AS (Andreiv
299Gilligan, 29. Mai 2003)
300«Gilligans Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage.»49 (Lord Hutton, 28. Januar 2004)
301«Ein Spielfeld für Seilschaften, Durchstechereien, Filz - ein Koloss, eine Nebenregierung, so \eitel wie Hollywood und so arrogant und abgedichtet, wie DDR-Ministerien nie waren.»TM (Matthias Matussek über die BBC)
302Der Mikrobiologe David Kelly war äusserlieh ein unscheinbarer Mann: schmächtig, graubärtig, an der randlosen Brille als Intellektueller zu erkennen. Er war Rechtshänder, hielt nichts von
303Tabletten und pflegte in Oxfordshire, wo er wohnte, ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen. Geboren am 17. Mai 1944, erhielt er eine vorzügliche naturwissenschaftliche Ausbildung. 1984 trat er in den Dienst des britischen Verteidigungsministeriums. Im Labor von Porton Down in Wiltshire galt er als der Fachmann für die biologische und chemische Kriegsführung .Am Ende des Kalten Krieges untersuchte er das russische Biowaffen-Programm. Von 1991 bis 1998 diente er als einer der führenden Inspektoren in der ersten Kontrollmission im Irak. Insgesamt 37 Inspektionen unternahm er am Golf. Er zählte weltweit zu den Experten, die Saddam Husseins
304Massenvernichtungswaffen am besten kannten.
305Aufgeschnitten«? Schlagader
306Am 17. Juli 2003, einem Donnerstag, verlässt David Kelly sein Haus in Abingdon um 15.20 Uhr. Er bleibt lange aus. Um Mitternacht schwant seiner Frau Janice Unheil. Sie weiss, dass ihr Mann beruflich unter Druck steht, und gibt auf dem Polizeiposten eine Vermisstmeldung auf.
307Noch in der Dunkelheit leiten 40 Polizisten in der Nachbarschaft die Suche ein. Im Morgengrauen nimmt in einem Wald ein Spürhund Kellys Fährte auf. Auf dem Harrowdown- Ilügel
308finden die Hundeführer Louise Holmes und Paul Chap- man eine Leiche, die an einen Baumstrunk gelehnt ist. Der linke Arm ist voller Blut. Der tote Körper entspricht dem Signalement von David Kelly. Auf der Notnummer 999 ruft Chapman den Polizei-Detektiv Graham Coe, der Kelly identifiziert.
309Coe sieht das Blut am tief aufgeschnittenen linken Handgelenk der Leiche. Neben dem Körper liegen ein Gartenmesser, eine Brille und eine Uhr. In den Taschen der Jacke entdeckt Coe drei Schachteln Copraxamol - ein gebräuchliches Schmerzmittel, das in Überdosis tödlich wirken kann. Die Pakete sind vollständig leer; voll hätten
310sie 30 Tabletten enthalten.
311Wie Nicolas Hurt, der amtliche Pathologe, später feststellt, starb Kelly aber nicht an zu viel Copraxamol; er verblutete an den Schnittwunden, die er sich selber zugefügt hatte.
312Unbestritten war, dass es sich um Suizid, nicht um Mord handelte. Kelly hatte sich mit der rechten Hand am linken Handgelenk die Schlagader aufgeschnitten; die Todeszeit wird von den Gerichtsmedizinern auf die Stunden zwischen 16 und 24 Uhr des Vortages angesetzt.51
313Argument für den Krieg
314Was trieb Kelly, den ausgeglichenen, sachlichen Beamten, in den Tod? Begonnen hatte alles mit einem Dossier über die irakische Rüstung, das die britische Regierung am 24. September 2002 veröffentlichte. Im Vorwort schrieb Premierminister Tony Blair wörtlich, Saddam Husseins Streitkräfte könnten jederzeit chemische und biologische Waffen einsetzen, und zwar «innert 45 Minuten nach Befehlsgebung».52
315Wie sich später herausstellte, meinte Blair mit 45 Minuten die Einsatzzeit von taktischen Kampfstoffen auf dem Gefechtsfeld, nicht von weit reichenden strategischen Waffen. Das war zum
316Zeitpunkt der Rede durchaus plausibel. Blair präzisierte seine Worte indessen nicht - und liess die damals schon «empfänglichen» britischen Medien im Glauben, es seien ballistische Träger mit Massenvernichtungswaffen gemeint, die auch Europa hätten treffen können.
317Presse, Radio und Fernsehen nahmen die «scharfe» Version begierig auf. Als es darum ging, die Öffentlichkeit auf den längst geplanten Feldzug gegen den Irak vorzubereiten, verbreiteten sie Saddams vermeintliche 45-Minuten-Drohung als das Argument für den Krieg.
318 Zweifel an Blair
319In der Operation «Iraqi Freedom» besetzten das amerikanische und das britische Expeditionskorps das Zweistromland in gut dreiWöchen.Aber so gründlich sie danach auch suchten - Massenvernichtungswaffen fanden sie keine. In Washington und
320London wuchs die Kritik an der offiziellen Begründung für den Krieg. Zu den Skeptikern gehörte auch David Kelly, der früh an Blairs 45-Minuten- Theorie gezweifelt hatte.Am 22. Mai 2003 traf er sich mit Andrew Gilligan, einem Reporter des Radiosenders BBC, im Londoner Hotel Charing Cross. Im vertraulichen Gespräch äusserte er sich
321gegenüber dem Journalisten argwöhnisch gegenüber der amtlichen Lesart. Von da an nahm das Unheil seinen Lauf.
322Dicke Post
323Denn am 29- Mai ging Gilligan im ÄBC- Morgenprogramm Today auf Sendung. Es war der Tag, an dem Tony Blair als erster westlicher Regierungschef seine Truppen im Irak besuchte. John Humphreys, der Moderator des Frühmagazins, rief Gilligan um 6.07 Uhr zu Hause an und brachte den Reporter mit der Bemerkung in Schwung, der Premier halte immer noch an seiner 45- Minuten-Theorie fest.
324Dann stiess Gilligan, ohne Skript und Vorgespräch, die Anschuldigung aus, die Grossbritannien erschütterte.Wörtlich behauptete er: «Die Regierung wusste, dass die Angaben zu den 45 Minuten falsch waren.Aber Downing Street bauschte die Sache bewusst auf.»53 Das war dicke Post: Die BBC - als das wurde Gilligan wahrgenommen - unterstellte Blair, er habe die 45 Minuten in die Welt gesetzt, obwohl er gewusst hätte, dass die Aussage eindeutig falsch war.
325Kelly enttarnt
326Nun überstürzten sich die Ereignisse. Gilligan stocherte am 1. Juni nach, als er Alastair Campbell, Blairs
327Informationschef, für die umstrittene Passage verantwortlich machte. Campbell wies die Vorwürfe in aller Form zurück und verlangte von der BBC eine Entschuldigung, welche diese prompt verweigerte. Ihr Generaldirektor, Greg Dyke, stellte sich ausdrücklich hinter
328Gilligans Bericht. Für David Kelly, Gilligans Informanten, wurde es brenzlig, als ihn am 9. Juli das Verteidigungsministerium als Quelle des ÄBC-Berichtes entlarvte.Am 15. Juli wurde Kelly vom auswärtigen Ausschuss des Unterhauses rüde verhört. Er räumte ein, er habe Gilligan getroffen, bestritt aber, die einzige
329Quelle der umstrittenen Radio-Sendung gewesen zu sein.
330Was dann im Wald von Harrowdown Hill geschah, ist inzwischen aktenkundig. Als Kellys Selbstmord bekannt wurde, gerieten Premier Blair und Verteidigungsminister Geoff Hoon gehörig unter Druck. Hoon wurde vorgeworfen, sein Amt habe Kelly blossgestellt.Am schärfsten aber kam die BBC unter Beschuss: Sie hatte offen zugegeben, Kelly sei es gewesen, der seine Zweifel Gilligan anvertraut habe.
331Blair machte nun rasch einen geschickten Zug. Über den Lordkanzler Falconer ofThoroton leitete er eine Untersuchung gegen die eigene Regierung ein, die auch
332das Verhalten der BBC umfassen sollte.
333Premier im Verhör
334Mit den Abklärungen beauftragte Lord Falconer den 72-jährigen Lordrichter Brian Hutton, einen Juristen, dessen Strenge und Unabhängigkeit über alle Zweifel erhaben waren. Hutton, ein hagerer Gentleman mit scharfem Blick, führte die Untersuchung gründlich und unvoreingenommen. Er lud selbst den Premier vor, den er wie den Verteidigungsminister in aller Schärfe einvernahm.
335Auch Gilligan und sein Widersacher Campbell erschienen in den Royal Courts of Justice. Gilligan hielt unbeirrt
336an seinen Vorwürfen gegen die Regierung fest. Campbell bestritt jeglichen Einfluss auf den Inhalt des Dossiers vom 24. September 2002: Allein John Scarlett, der britische Nachrichten-Koordinator, habe die Feder geführt. Hoon wiederum verwahrte sich gegen den Vorwurf, er habe Kelly als Verräter enttarnt.
337Die Verantwortung dafür übernahm am 28. August Blair selber. Zur 45- Minuten-Passage verteidigte sich der Premier mit dem Hinweis, er sei von Gefechtsfeldwaffen ausgegangen, was im September 2002 noch gestimmt habe. Campbell trat am 29. August von seinem Amt zurück, worauf Blair dem
338langjährigen Weggefährten herzlich dankte. Am 1. September schliesslich sagte Janice Kelly, Davids Witwe, vor dem Hutton-Ausschuss: «Mein Mann hat sich verraten und betrogen gefühlt».54
339Dann arbeitete Brian Hutton seinen 328- seitigen Bericht akribisch aus.Am 28. Januar 2004 trat der Lordrichter vor die Presse, nachdem einen Tag zuvor das Boulevardblatt Sun schon verkündet hatte, Hutton werde Blair von jeglicher Schuld freisprechen.
340«Das ist alles, was ich wollte»
341So kam es denn auch. Nicht mit der Regierung, der er ein untadeliges Verhalten bezeugte, nein, mit der British
342Broad- casting Corporation ging Hutton scharf ins Gericht: «Gilligans Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage», hielt der Lordrichter lakonisch fest. «Seinen Radio-Bericht machte er unvorbereitet und von zu Hause aus.»Der BBC warf Hutton vor, sie hätte Gilligans Aussagen nicht ausstrahlen dürfen, ohne vorher ein Skript verlangt und dieses gründlich geprüft zu haben.55
343An der Spitze der BBC schlug Huttons Urteil wie ein Blitz ein. Gavin Davies, der Vorsitzende des Aufsichtsrates, trat zurück und wurde durch Lord Richard Ryder ersetzt. Ryder entschuldigte sich vorbehaltlos bei Tony Blair, der die
344Abbitte mit dem Satz annahm: «Das ist alles, was ich wollte.» Dann nahm Generaldirektor Dyke den Hut, bevor auch Gilligan sein Pult räumte - nicht, ohne Hutton öffentlich anzugreifen.
345So wie Gilligan reagierte - erwartungsgemäss - die Basis der BBC. Kaum hatte Hutton sein Urteil verkündet, ver- liessen 400 Angestellte ihre Arbeitsplätze aus Protest. Der
346Moderator Nik Gowning führte mit dem früheren Auslandkorrespondenten Martin Bell ein «aufklärendes» Gespräch. Bell zog gegen Hutton vom Leder: Der Lordrichter habe voreingenommen und parteiisch gehandelt. Der BBC seien keine Fehler
347unterlaufen, und Hutton irre, wenn er das System des Senders als mangelhaft einstufe. Vor allem aber hätten Davies und Dyke auf ihren Posten bleiben sollen.
348
349Blanker Freispruch
350Umgekehrt lobte Blair die beiden Zurückgetretenen für ihr «anständiges und ehrenhaftes Verhalten». Überhaupt hatte der Premier im Januar 2004 allen Grund zur Zufriedenheit. Der Freispruch, den ihm Brian Hutton ausstellte, hätte blanker nicht lauten können: In keiner Weise habe die Regierung, schrieb der Lordrichter, «unehrenhaft, hinterlistig oder doppelzüngig» gehandelt, weder bei der Vorbereitung des Waffen- Dossiers noch im Kelly-Drama. Keine Schuld treffe die politische Führung, dass der Name des Mikrobiologen an die Öffentlichkeit gelangte.
351Zur 45-Minuten-Passage attestierte Lord
352Hutton der Regierung, der Premier habe sich auf das Material der Geheimdienste verlassen müssen. Keine einzige Aussage sei in das Vorwort eingeflossen, die John Scarlett nicht vorher geprüft habe. Der Hinweis auf die 45 Minuten sei von einer glaubwürdigen Einzelquelle gekommen, nicht von irgendwelchen fiktiven Wünschen der Downing Street. Behutsam legt Hutton dar, es sei nicht seine Aufgabe gewesen, das nachrichtendienstliche «Dafürhalten» auf den Wahrheitsgehalt abzuklopfen oder gar zu beanstanden.
353So weit, so gut. Doch die Kritik an den Geheimdiensten verstummte in London
354auch nach dem Hutton-Bericht nicht.Je verzweifelter im Irak die Suchtrupps ins Leere liefen, desto schärfer fragte die Opposition: Wie konnte es passieren, dass die Nachrichtendienste noch kurz vor dem Feldzug meldeten, Saddam Hussein rüste atomar und besitze biologische und chemische Kampfstoffe in erheblichem Umfang? Und nun war im eroberten Mesopotamien von all dem Angedrohten nichts, aber auch gar nichts mehr zu finden. Eine Peinlichkeit sondergleichen!
355Vier Dienste - ein Koordinator
356Um so argwöhnischer bohrten die Kritiker, als die britische «Nachrichten- Maschinerie», wie sie sich selber nennt,
357eine Besonderheit aufweist, die sie von anderen Diensten unterscheidet. Wohl zeigt die Gliederung das typische Bild mit je einem Ausland-, Inland- und Militär-Geheimdienst:
358Dem Aussenministerium unterstellt sind der Secret Intelligence Service (SIS), genannt auch MI6 (von Military In- telligence 6), und das Government Communications Head- quarter (GCHQ) in Cheltenham. Der SIS erfüllt die klassischen Aufgaben der Auslandaufklärung, das GCHQ horcht die Welt mit Spionagesatelliten und Abhöranlagen aus. Der Chef des SIS, abgekürzt «C», war im Herbst 2002 Sir Richard Dearlove.
359Dem Innenministerium dient zur Abwehr in Grossbritannien selbst der Security Service, genannt auch MI5 (von Military Intelligence 5).
360Dem Verteidigungsminister zugeordnet ist der Defence Intelligence Staff (DIS), der vom Chief of Defence Intelligence (CDI) geführt wird. Als die britischen Dienste das Irak-Dossier zusammenstellten, war Luftmarschall Sir John French CDI. Ins Pflichtenheft des DIS fallen alle Aufträge im Bereich des militärischen Nachrichtendienstes.
361Ausgewertet und zusammengefasst werden die Meldungen der verschiedenen Dienste indessen vom Security & Intelligence Coordinator, der
362dem Joint Intelligence Commit- tee (JIC) vorsteht. Der Koordinator - im September 2002 war es John Scarlett - zeichnet verantwortlich für die Beurteilungen, die der Premierminister erhält. Die einzelnen Dienste liefern «rohe» Daten (raw intelligence). Das JIC verarbeitet sie für den Empfänger zu schlüssiger, gültiger Information (finished intelligence).
363Im Fall der 45-Minuten-These weiss man, dass sie von einem hochrangigen irakischen Offizier stammte, der dem SIS zudiente. In der Sprache der Geheimdienste war es eine Ein- Quellen-Nachricht, allerdings von erstklassigem Ursprung.Wie Jonathan
364Brewer, der Sekretär des JIC, gegenüber dem Autor dieses Buches im März 2004 in zwei Gesprächen ausführte, war die ursprüngliche Information des Irakers sehr wohl mit der Einschränkung versehen, die 45 Minuten bezögen sich allein auf Gefechtsfeldwaffen56. Brewer muss es wissen: Er steht im JIC dem Ausschuss vor, der die Nachrichten koordiniert.
365Kellys Zweifel
366Wann zu den 45 Minuten die präzisierende Eingrenzung verloren ging, ist nur noch schwer zu ermitteln. Mit Sicherheit steht fest, dass die erste Information am 29. August 2002 einging. Weil es sich um eine Ein-Quellen-
367Nachricht handelte, prüften die britischen Dienste die Aussage nach allen Regeln der Kunst. Zur kurzen Einsatzzeit von nur einer Dreiviertelstunde wurden im internen Schriftverkehr auch Zweifel angebracht, nicht zuletzt von David Kelly. Der ehemalige Irak-Inspektor äusserte Skepsis ebenso zur Annahme, Saddam verfüge noch immer über biologische und chemische Kampfstoffe in nennenswertem Umfang.
368Unbestritten ist, dass Premierminister Blair die verarbeitete Information ohne Einschränkung erhielt. Dies bezeugt ihm auch Hutton, der festhält, Scarlett, der Koordinator, Dear- love, der «C» des
369SIS, und French, der Chef des militärischen Nachrichtendienstes, hätten die Weitergabe ausdrücklich ab- gesegnet. Die abschliessende Verantwortung trägt Scarlett. Er gestand seinen Fehler ein - und überlebte das Irak-Debakel, ohne persönlich Schaden zu nehmen.Am 9. Mai 2004 ernannte ihn Tony Blair zum neuen Chef des MI6, und am folgenden 1. August übergab Richard Dearlove den prestigiösen Posten des «C» an Scarlett.
370Auch Butler entlastet Blair
371Am 3. Februar 2004 setzte das Unterhaus eine fünfköpfige Kommission ein, welche die Arbeit der britischen Geheimdienste vor dem Irak-Krieg in
372aller Sorgfalt untersuchte. Wie Lord Butler, der Vorsitzende, gut fünf Monate später, am 14. Juli, in einem 196- seitigen Bericht festhielt, traf Premier Blair und das Kabinett keine Schuld. Vorwürfe erhob Butler gegenüber der Geheimdienst-Maschinerie, ohne sie scharf zu verurteilen. Zur 45-Minuten- Behauptung stipulierte Butler, dass sie nicht in das Dokument vom 24. September 2002 hätte aufgenommen werden dürfen.
373Die BBC schliesslich ging dann doch noch in sich. Im Juli 2004 veröffentlichte sie ein 135 Seiten starkes Manifesten dem sie Besserung gelobte. Auf zweifelhafte Programme wolle man
374verzichten, und nach Fehlern müsse fortan schneller und beweglicher reagiert werden.
3755 Was Geheimdienste können müssen
376«Von euren Erfolgen wird keiner reden; aber eure Misserfolge wird man von den Dächern posaunen.»51 (John F.Kennedy, bei einem Besuch des CIA- Hauptquartiers in Langley, 1961)
377«Wahrscheinlich lagen wir alle falsch.»56 (David Kay, 28. Januar 2004)
378«Der Wert eines Geheimdienstes liegt in der gleichmässigen Qualität seiner Produkte und der Zuverlässigkeit seines Nachrichtenflusses,»59 (Reinhard
379Gehlen)
380Geheimdienstliche Arbeit wird weithin für zwielichtig, amoralisch, unrechtmässig gehalten. Selbst wenn in liberalen Demokratien für die Dienste rechtsstaatliche Grundsätze gelten, haftet ihnen der Makel des Illegalen, des Zweideutigen, des Charakterlosen an. Der Argwohn richtet sich gegen den Spion, den Verräter, den «Lauscher an der Wand».60
381Aber alle Staaten sind auf das Zweitälteste Gewerbe der Welt angewiesen. Ohne Herrschaftswissen kommt keine Regierung, kommt kein Herrscher aus. Begehrt sind Nachrichten über Gegner, die ihr Wissen zu schützen
382trachten und geheimhalten. Geheime Informationen lassen sich oft nur durch Diebstahl, durch Vertrauensbruch, ja Verrat und Gewalt erlangen. Selber verspüren die Herrschenden den Wunsch, andere über all das im Unklaren zu lassen, was sie wissen - oder nicht wissen. Sogar im Umgang mit Verbündeten ist Herrschaftswissen unerlässlich: Staaten haben keine permanenten Freunde, sie haben nur permanente Interessen (Lord Palmerston).
383Gibst du mir, so geb ich dir
384Geheimdienstliche Arbeit spielt sich im Dunkeln ab. Nichts fürchten Agenten so
385sehr wie Indiskretionen aus dem eigenen Kreis. Vertrauliches Wissen wird gehandelt wie jedes andere Gut: Gibst du mir, so geb ich dir. Da gibt es nichts Peinlicheres für einen Dienst, als wenn er «rinnt». Sofort gehen die Kanäle zu, und es braucht jeweils viel Zeit und Arbeit, bis das Vertrauen in ein Netz wiederhergestellt ist.
386Doch gelegentlich reisst die Decke auf - immer dann, wenn etwas schief läuft, wenn ein Skandal aufbricht oder eine Aktion Opfer fordert. Aber selbst in solch raren Augenblicken bleibt die Tätigkeit der «Firmen», wie sie sich selber gerne nennen, vom Dunst des Mysteriösen, vom ewigen «Nebel des
387Krieges» umhüllt.
388Heikles Geschäft
389Erleidet ein Staat im Dunstkreis der Spione eine Schlappe, schieben die Regierungen die Schuld in aller Regel den Geheimdiensten in die Schuhe.Auch Mister Bond kann irren.Wie im Kapitel 4 gezeigt wurde, trug der britische Nachrichten- Koordinator Scarlett die Verantwortung dafür, dass Premier Blair den 45-Minuten-Hinweis auf Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen ohne Einschränkung erhielt.
390Zwangsläufig ist das Geschäft mit Meldungen über atomare, biologische und chemische Waffen für die
391einschlägigen Dienste heikel.Am 28. und am 30. Mai 1998 zündete Pakistan klammheimlich seine ersten Nuklearbomben. Kein ausländischer Dienst hatte vor den Versuchen gewarnt - die langjährigen Vorbereitungen zum doch sehr einschneidenden Ereignis waren den Agenten aller anderen Nationen schlicht und einfach entgangen.
392Aber nicht immer liegt die Schuld bei den Geheimdiensten allein. Es kommt vor, dass Regierungen (zu) früh in die Auswertung von Nachrichten eingreifen und ganz bestimmte, politisch opportune Ergebnisse im Voraus verlangen. Im Kapitel 6 wird vom Druck die Rede sein, den der amerikanische
393Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf die CIA ausübten, als es darum ging, für den Irak- Feldzug scharfes «Beweismaterial» gegen Saddam Hussein zu erlangen. Die beiden «Falken» griffen so direkt - und so plump - in die Geheimdienstarbeit ein, dass ihr Vertrauensmann David Kay nach geschlagener Sache gestehen musste: «Wahrscheinlich lagen wir alle falsch.»
394In falscher Sicherheit
395Und es ereignet sich, dass die Dienste rechtzeitig vor Angriffen warnen - und die Regierungen dann schlecht reagieren. Selbst vor militärischen
396Überrumpelungen fehlte es selten an zwingenden Nachrichten. Am 7. Dezember 1941 wurden die Vereinigten Staaten das Opfer ihrer Selbstüberschätzung, als sie Pearl Harbor der japanischen Luftwaffe schutzlos preisgaben. Der amerikanische Geheimdienst hatte den Funkverkehr aus Tokio abgehört und rechtzeitig entschlüsselt. Die Agenten wussten schon am Vorabend Bescheid über die bevorstehende Attacke. Aber weder die militärische noch die politische Führung zog die Konsequenzen aus den Meldungen.
397Nachrichtendienste beschaffen Informationen, sie werten sie aus und
398leiten sie weiter. Verschlüsseltes Material fällt meist unvollständig an und bedarf der Deutung. In Israel wiegte sich vor dem Oktober-Krieg 1973 die Regierung in der Illusion, die arabischen Nachbarn seien zu schwach und zu feige,
399Israel je wieder anzugreifen. In den Köpfen herrschte die «Kon- zeptzjia», Israel sei den Arabern haushoch überlegen: Die Armee müsse nicht jedes Mal die Bereitschaft erhöhen, wenn Ägypten und Syrien mit dem Säbel rasselten.
400In der Nacht zum 6. Oktober 1973, zum jüdischen Tag der Versöhnung, warnte der Aman, Israels militärischer Geheimdienst, eindringlich vor einem
401neuen arabischen Aufmarsch. Auch der Mossad, zuständig für die Auslandsaufklärung, erwachte noch und sagte am Versöhnungstag den Angriff auf 18 Uhr voraus.Aber das Kabinett verschlief die Warnung. Um 13.58 Uhr setzte der arabische Zangenangriff ein - Israel war überrumpelt und in Lebensgefahr.
402Fehlschläge programmiert
403Zur Beschaffung, Analyse und Verbreitung von Informationen tritt in grösseren Geheimdiensten ein zweites Tätigkeitsfeld: die Planung und Durchführung verdeckter Operationen .Agenten greifen heimlich in die inneren
404Belange eines gegnerischen - mitunter auch verbündeten - Staates ein. Sie verbreiten Desinformationen, streuen Gerüchte, verunsichern das Volk und untergraben das Vertrauen in die Führung. Sie setzen gedungenes Personal ein und «steuern» clandestin politische Vorgänge. Sie schalten gegnerische Chefs aus, lähmen feindliche Organisationen und stiften Partisanen zu Aktionen im Untergrund an.
405Auch da sind Fehlschläge programmiert. Das sind dann die Tage, an denen Geheimdienste unvermittelt in die Schlagzeilen geraten. Als der Mossad die Attentäter von München 1972 jagte, brachten seine Agenten ein Jahr später
406im norwegischen Lillehammer keinen Fedayin, sondern den unschuldigen marokkanischen Kellner Ahmed Bouchiki um. 1997 trachtete der Mossad in Amman dem Hamas-Drahtzieher Khalid Meshal nach dem Leben; doch die «stille» Aktion, ein Giftnadelstich in Meshals Ohr, missriet so gründlich, dass die israelische Presse den eigenen Geheimdienst auffliegen liess, worauf der Mossad-Chef Danny Yatom den Hut nehmen musste. 1985 versenkte der französische Geheimdienst das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior, wobei der Fotograf Fernando Perreira ums Leben kam. In diesem Fall kostete der Fehlgriff den Verteidigungsminister Charles Hernu das Amt, nachdem die
407französischen Medien PerreirasTod aufgedeckt hatten.
408Strikte Regeln, strenge Aufsicht
409Im August 1999 verstieg sich Nationalrätin Ursula Koch, damals Präsidentin der SP Schweiz, zur phantastischen Behauptung, es brauche keine Nachrichtendienste mehr; denn der Fernsehsender CNN wisse ohnehin mehr als alle Geheimdienste zusammen.61
410In der Tat wertet jeder Dienst auch offene Quellen aus. Wertvolle Meldungen sind jeden Tag in der Presse, aber auch im Internet zu finden. Aber nur CNN, die NZZ und Google decken die Bedürfnisse bei weitem nicht ab. Jeder
411Geheimdienst braucht die elektronische Aufklärung, er braucht menschliche Quellen, Partnerdienste und eigene «Nachrichtendevisen», mit denen er für sich Informationen einhandeln kann. Ein effizienter Dienst braucht sach- und sprachenkundiges Personal, er braucht technischen Support - und er ist ohne Einmischung auf Vorgaben angewiesen, die ihm nur die politische Führung erteilen kann.
412Die Regierungen müssen die Interessenräume und Interessenbereiche bestimmen, über die sie Nachrichten erhalten wollen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Geheimdienste ein Eigenleben führten. Früher galt die Regel:Alles ist
413erlaubt, was nicht verboten ist. Die Dienste definierten ihre Bedürfnisse selbst, und manch eine «Firma» entzog sich politischer - geschweige denn publizistischer - Überwachung.Heute lautet die Regel: Was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten. Die Geheimdienste unterliegen exekutiven und parlamentarischen Kontrollen; ja selbst richterliches Eingreifen ist denkbar, wie die Hutton-Untersuchung belegt.
414Nachrichtendienste brauchen indessen auch Vollmachten und Diskretion. Gelangen seine Aktionen in die Öffentlichkeit, sind sie schon zum Scheitern verurteilt. Manchmal ist es
415nötig, dass Agenten Telefone abhören und in die Privatsphäre von Verdächtigen eindringen. Unbestritten ist, dass ein Rechtsstaat solche Vorgehensweisen nur unter strikten Regeln und strenger Aufsicht zulassen kann.
416Geprüft und relevant
417Nachrichtendienstlicher Mehrwert entsteht nur dann, wenn Information kontinuierlich und systematisch beschafft und ausgewertet wird. «Der Wert eines Geheimdienstes liegt in der gleichmässigen Qualität seiner Produkte und der Zuverlässigkeit seines Nachrichtenflusses», schrieb der deutsche Altmeister Reinhard Gehlen.62
418Ein Dienst erfüllt seinen Zweck, wenn er seine vorgesetzten Stellen in Armee und Regierung zuverlässig, regelmässig und rechtzeitig mit stichhaltigen, geprüften und relevanten Nachrichten zur kurz-, mittel- und langfristigen Sicherheitslage versorgt.
419Das kann, mit Verlaub, auch die beste Zeitung nicht.
4206 Sechzehn Wörter zu viel
421«Saddam hat diese Waffen. Das wissen wir alle. Jeder dressierte Affe weiss das.»63 (Donald Rumsfeld, 13- September 2002)
422«Die britische Regierung hat erfahren,
423dass Saddam Hussein kürzlich versuchte, in Afrika bedeutende Mengen Uran zu beschaffen.»64 (George W. Bush, 28.Januar 2003)
424«Jedes Wort, das ich heute sage, ist auf Quellen gestützt, und zwar auf solide.»65 (Colin Powell, 5. Februar 2003)
425«Was ich am 5. Februar 2003 zu den irakischen mobilen Chemie- Laboratorien sagte, ivar offensichtlichfalsch.»66 (Powell, 4. April 2004)
426Am 30. Januar 2001 leitet George W. Bush, der neue Präsident der Vereinigten Staaten, zum ersten Mal eine Sitzung des
427Nationalen Sicherheitsrates. Um 15.30 Uhrversammelt erden Rat im Weissen Haus. «Condi, worüber reden wir heute?», fragt Bush die Beraterin Condoleezza Rice. «Wir reden darüber, wie der Irak den Mittleren Osten destabilisiert», antwortet die Mitarbeiterin. «Der Irak ist der Schlüssel zur Umgestaltung der ganzen Region».67
428Von der Amtsübernahme an zieht Bush einen Feldzug gegen den Irak in Betracht. Dem Präsidenten und dem Sicherheitsrat ist klar, dass es für einen Krieg einer stichhaltigen Begründung bedarf. Saddam Hussein ist ein Tyrann, der seine Nachbarn überfällt, der das
429eigene Volk drangsaliert und - ausserhalb von Gesetz und Ordnung - eine fürchterliche Schreckensherrschaft ausübt.
430Aber reicht das für ein militärisches Eingreifen im lO'OOO Kilometer entfernten Zweistromland? Die Runde im Weissen Haus äussert Zweifel. Für einen Präventivkrieg gegen den Irak braucht es das ganz grosse Gedeck: chemische, biologische und vielleicht sogar atomare Waffen in Saddams Hand. «Das ist ein Kriegsgrund, dem alle zustimmen können», urteilt Donald Rumsfeld, der Verteidigungsminister.
431Nach knapp einer Stunde, gegen 16.30 Uhr, erteilt Bush Aufträge: Rumsfeld
432bereitet die militärische Option gegen Saddam vor; George Tenet, der Chef der CIA, beschafft die Nachrichten - und den Kriegsgrund; und Paul O'Neill, der Finanzminister, legt dem Irak wirtschaftlich die Daumenschrauben an. Noch ist George W Bush keine zwei Wochen Präsident; aber die Mission seiner ersten Amtszeit hat er schon gefunden.
433Die Achse des Bösen
434David Frum, ein geborener Kanadier, zählt zu Bushs Redenschreibern. Ende Dezember 2001 betritt an einem Morgen Michael Gerson Fr ums Büro. Gerson gibt den präsidialen Reden jeweils den
435letzten Schliff. Er fragt: «Kannst du in zwei Sätzen die Gründe beschreiben, weshalb wir den Irak angreifen müssen?» Frum überlegt einen Augenblick und antwortet: «Klar. Ist es nach dem Mittagessen okay?» Darauf Gerson: «Sehr gut, nimm dir zwei Tage.»
436Frum wälzt alte Reden, liest die Manuskripte von Franklin D. Roosevelt und zieht Parallelen zu Hitlers Achse Rom-Tokio-Berlin. Im ersten Entwurf behandelt er nur den Irak. Aber Condoleezza Rice will mehr. Frum fügt Iran hinzu - und Nordkorea. Zuerst schreibt er von der «Axis of Hatred», der
437Achse des Hasses. Doch das klingt noch zu wenig nach Bush. Aus «Hatred» wird «Evil», das Böse.Am 29. Januar 2002 hält der Präsident seine Rede zur Lage der Nation. Die Achse des Bosen sorgt weltweit für Schlagzeilen. Die Botschaft ist klar: Saddam Hussein gehört zu dieser Achse - Saddam muss weg.
438Cheney legt nach
439Im März 2002 wird Vizepräsident Dick Cheney zur treibenden Kraft der Anti- Saddam-Offensive. Er bereut es, dass die Vereinigten Staaten den Tyrannen am Ende des Irak-Krieges von 1991 verschonten. Er sieht Saddam als Gefahr für den Mittleren Osten, für Amerika und die Welt. Für diese Position gibt es
440durchaus Gründe. Im Dezember 1998 verjagte Saddam die Waffeninspektoren der Vereinten Nationen aus dem Land. Seither fliessen die Erkenntnisse über sein chemisches, biologisches und - vielleicht - atomares Potenzial nur noch spärlich.
441Doch ungebrochen berichtet die CIA von Saddams Hochrüstung. Der deutsche Bundesnachrichtendienst68 und das französische Deuxième Bureau69 bestätigen die Meldungen. Cheney lässt verlauten, Mohammed Atta, einer der Attentäter vom 11. September 2001, habe sich vor den Anschlägen in Prag mit einem irakischen Diplomaten getroffen. Diese Nachricht wird nie
442bestätigt, ja offen angezweifelt; doch Cheney beharrt darauf.
443Der rauchende Colt
444Und bald nimmt er eine zweite, noch verheissungsvollere Spur auf. Über die amerikanische Botschaft in Rom erfährt er von Dokumenten, die belegen sollen, dass der afrikanische Staat Niger 500 Tonnen Uran in den Irak schmuggelte. Für Cheney ist das der rauchende Colt, der so dringend gesuchte Beweis dafür, dass Saddam die Nuklearwaffe baut und die Vereinigten Staaten und die Welt bedroht.
445Es ist heiss und trocken, als Joseph Wilson in Niamey, der Hauptstadt des
446Wüstenstaates Niger, eintrifft. Der amerikanische Diplomat soll im Auftrag der CIA dem Uran-Schmuggel nachgehen. Er diente vorher als Botschafter im Irak und verbrachte mehrere Jahre in Niamey und anderen afrikanischen Hauptstädten.
447Räubergeschichte widerlegt
448In der eigenen Botschaft erfährt er, die Vorwürfe seien geprüft und für nichtig befunden worden. Abschlägige Bescheide erhält er ebenso von Ministern und den Direktoren des internationalen Uran-Konsortiums. Die Jahresproduktion beläuft sich auf 1800 Tonnen. Zusätzliche 500 Tonnen hätten unmöglich ohne das Wissen der dafür
449zuständigen Franzosen, Deutschen und Spanier produziert und aus dem Land geschmuggelt werden können. Wilson meldete der CIA: «Die Dokumente sind gefälscht.An der Geschichte ist nichts dran.»
450Zum gleichen Schluss gelangt die amerikanische Botschaft, die nach Washington rapportiert: Am Uran- Gerücht ist nichts dran. Und unabhängig von den Diplomaten untersucht ein General der U.S.Army den Schmuggel- Vorwurf - auch er hält lapidar fest:An den Niger-Dokumenten ist nichts dran. Damit halten die Streitkräfte, die CIA und das Staatsdepartement die Räubergeschichte aus Afrika für
451widerlegt und erledigt.
452Betrüger als Zeugen
453Immer abenteuerlicher werden indessen die Zeugen, die Ahmed Chalabi, der im Exil lebende Chef des Irakischen Nationalkongresses, nach Washington schleppt. Er versorgt Cheney, Rumsfeld und dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz unablässig mit falschen Meldungen aus seiner früheren Heimat. Ein Ingenieur berichtet von biologischen Waffen; ein Überläufer liefert Pläne von fahrbaren Bio-Laboratorien; und ein «Insider» gibt vor, Einzelheiten zu Saddams Atomrüstung zu kennen. Später stellt sich heraus, dass alle drei höchst unsichere Gewährsmänner waren - es
454handelte sich, in Chalabis Sold, schlicht um Betrüger.
455Aber die «Falken» um den Präsidenten George W. Bush kennen nun kein Halten mehr. Immer bedrohlicher malen sie das nukleare Gespenst an die Wand.Am 8. September 2002 ruft Condoleezza Rice aus: «Wir brauchen den Beweis nicht in Form eines Atompilzes. »Am gleichen Tag warnt Donald Rumsfeld vor einem «11. September mit Massenvernichtungswaffen»: «Es sind dann nicht dreitausend Opfer - es sind dann Zehntausende von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern.» Und am 13- September doppelt er nach, jeder dressierte Affe wisse, dass Saddam
456«diese Waffen» besitze.
457Zu zivilen Zwecken
458Im September meldet ein europäischer Partnerdienst der CIA, der Irak habe im Ausland Aluminiumrohre in grosser Zahl gekauft. Diese Beschaffung diene ausschliesslich zu zivilen Zwecken. In Washington wird aus den Rohren indessen rasch der zwingende Beweis dafür, dass Saddam Hussein spaltfähiges Nuklearmaterial herstelle. Dass der Partnerdienst die Amerikaner ausdrücklich darauf hinwies, für die atomare Produktion seien die Rohre viel zu grob und viel zu dick, geht in der Hitze des Gefechts - gewollt oder ungewollt - unter.
459Im Oktober 2002 treffen sich die Vertreter von 14 amerikanischen Geheimdiensten bei der Central Intelligence Agen- cy abhörsicher in Langley. Innert zwei Wochen erwartet Vizepräsident Cheney von ihnen ein Dossier über die Bedrohung durch den Irak. Der Nachrichtendienst des Staatsdepartements70 äussert Zweifel an Saddams Fähigkeit, seine Streitkräfte atomar, biologisch und chemisch aufzurüsten. Aber unter Cheneys beharrlichem Druck setzt sich die CIA durch. Im 80- seitigen Bericht heisst es: «Der Irak kann innerhalb weniger Monate eine Atomrakete herstellen, sobald er genug waffenfähiges
460spaltbares Material beschafft hat.» Und: «Der Irak besitzt geächtete chemische und biologische Waffen und die entsprechenden ballistischen Träger.»
461Am 7. Oktober 2002 schaltet sich Präsident Bush selber in die Kampagne ein. Er weiss, dass drei Tage später der Kongress zum Irak-Feldzug einen Vorentscheid fällt. In Cincinnati macht Bush Druck auf die Senatoren und die Abgeordneten. Er spricht «von hochrangigen Kontakten zwischen al- Kaida und Saddam Hussein» und berichtet - wie vor ihm seine Beraterin Rice - von irakischen Kernwaffen, die Millionen töten könnten: «Wir wollen nicht auf den letzten Beweis warten, der
462uns in Form eines Atompilzes zu ereilen droht.»
463Am 10. Oktober gibt der Kongress dem Präsidenten «im Krieg gegen den Terror» freie Hand: Der Senat ermächtigt ihn mit 77 zu 23 Stimmen zum Irak-Feldzug; und überaus deutlich - mit 296 Ja zu 133 Nein - stimmt den Kriegsplänen auch das Repräsentantenhaus zu.
464«Bedeutende Mengen Uran»
465Am 28. Januar 2003 berichtet George W Bush dem Kongress erneut über die Lage der Nation. Seit Wochen ringen die Vereinigten Staaten und Grossbritannien in der UNO mit Frankreich, Deutschland
466und Russland um eine Resolution, die Bush und seinen Verbündeten Tony Blair zum Einmarsch in den Irak ermächtigen soll.
467Vor dem amerikanischen Parlament warnt Bush erneut vor Saddams Atomwaffen. Er beruft sich auf Premier Blair und lässt in englischer Sprache die sechzehn Wörter fallen, die ihm dann lange zu schaffen machen sollten: «The British govern- ment has learned that Saddam Hussein recently sought signifi- cant quantities of uranium from Africa.» Bush meint die 500
468Tonnen Uran, die der Irak angeblich im Niger beschaffen wollte. Alle, die wissen, dass die einschlägigen
469Dokumente gefälscht waren, zucken zusammen. Selbst die CIA hatte vor dem 28. Januar gewarnt, die Passage in die Rede aufzunehmen. Doch Steve Hadley, Condoleezza Rices Stellvertreter, drückte die ominösen sechzehn Wörter durch. Er musste später für den Fehler auch die Verantwortung übernehmen.
470«Rollende Laboratorien»
471Nicht geheuer ist die Atom-Warnung nach wie vor auch den Spezialisten im Aussenministerium. Ihr Chef, Staatssekretär Colin Powell, feilt an der Rede, die er am 5. Februar vor den Vereinten Nationen halten soll. An einem Abend sitzen George Tenet,
472Condoleezza Rice und Powell zusammen. Sie rollen ein Aluminiumrohr über den Tisch, wie es in Saddams Atomprogramm Verwendung finden soll. Rice fordert Powell auf, das Beweisstück seinen Kollegen in der UNO vorzuführen. Aber der altgediente General Powell zögert und verzichtet auf das Vorzeigen des Rohres.
473Powell ist übel gelaunt. Ausgerechnet Dick Cheneys Büro legt ihm den ersten Entwurf zur Rede vor. Cheney will, dass der Staatssekretär der UNO von Mohammed Attas angeblichem Treffen mit einem Iraker in Prag berichtet. Powell verwirft auch das. Schliesslich schreibt die CIA die Rede um, aber auch
474die neue Fassung enthält noch Fehler und Übertreibungen. Im Staatsdepartement streichen Fachleute die gröbsten Fehler; aber etliches bleibt stehen, das Powell besser nicht gesagt hätte.
475Vor dem UNO-Sicherheitsrat spricht Powell anderthalb Stunden. Statt mit Satellitenbildern dokumentiert er Saddams vermeintliche rollenden Biowaffen-Laboratorien mit Handzeichnungen. Er lässt Tonbänder vorspielen, die beweisen sollen, dass Saddams Schergen die Waffeninspektoren täuschen.
476Es sind nur Gesprächsfetzen, aber namentlich die amerikanischen Medien nehmen die «Beweisführung» begierig
477auf. CNN, Fox und die anderen Fernsehsender stimmen die Öffentlichkeit so stramm auf den Krieg ein wie die sonst so kritischen Zeitungen Washington Post und New York Times. Die Dallas Morning News schwärmen: «Nur die Blinden können Powells Beweise noch ignorieren», und die New York Times nennt den Auftritt des Staatssekretärs «überzeugend».71
478Weniger Wirkung erzielt Powell im Sicherheitsrat. Sein UNO-Botschafter John Negroponte kämpft verzweifelt um die Stimmen der unentschiedenen Mitglieder. Aber die kleinen Staaten bleiben stur. Negroponte bringt keine Mehrheit zustande und verzichtet sogar
479auf eine Abstimmung. Das aber hindert den Präsidenten Bush nicht mehr am Krieg.
480Auftrag erfüllt
481Am 17. März stellt er dem Irak ein Ultimatum. Er gibt Saddam Hussein 48 Stunden Zeit, sein Land zu verlassen. Am 20. März fallen die ersten Bomben auf Bagdad. Am 9. April stossen Mari- ne-Infanteristen den blechernen Saddam vom Sockel, am 1. Mai verkündet George W. Bush auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln, die USA hätten im Irak ihren Auftrag erfüllt.
482Am 3. Juni 2004 nimmt der CIA- Direktor George Tenet «aus
483persönlichen Gründen» den Hut. Am 9- Juli rügt der Geheimdienst-Ausschuss des Senates die CIA scharf; im Vorfeld des Irak-Krieges habe die Agentur schwer versagt.
484Am 2. November 2004 wird Bush vom amerikanischen Volk in seinem Amt bestätigt.Wie Meinungsforscher ermitteln, entschieden die Integrität und Glaubwürdigkeit des Präsidenten die Wahl.
485
486 März 2003: Der Nachrichtensender CNN überträgt den amerikanischen
487Vorstoss in Richtung Bagdad live.
488
489 Die «eingebetteten» Reporter und Kamera-Teams beobachten die Kampfhandlungen zum Teil aus kürzester Distanz.
490Blair cleared of using sneaky ploy to name Dr Kelly
491Hoon off the hook..but mild rap for MoD J
492Die britische Zeitung Sun veröffentlicht den Hutton-Report, noch bevor ihn die Regierung offiziell vorstellt. So wird der «Freispruch» von Premierminister Blair vorzeitig bekannt.
493Die Zeitschrift Newsweek bringt auf dem Titelblatt David Kay, George W. Bush, Dick Cheney, Colin Powell, Donald Rumsfeld, George Tenet, Condoleezza Rice,Tony Blair - und Saddam Hussein.
494In dieser Szene war das «eingebettete» Kamera-Team so nahe an der Front, dass selbst das Geschoss erkennbar ist.
495
496 Die Luftaufnahme zeigt den Kampf um den internationalen Flughafen von Bagdad. Gut erkennbar sind die amerikanischen Stellungen.
497 DRITTERTEIL Machtlos Ohnmächtig gegen den Terror
498 7 Der 11. September 2001
499«Warum gebrauchst du eine Axt, wenn du einen Bulldozer einsetzen kannst?»12 (Osama bin Laden zu einem Getreuen, im Sommer 2001)
500«Wir alle stehen im Krieg.»73 (George WBush, 11. September 2001)
501«Wer will heute einem Gesetzeshüter den Blick in die eigene Tasche
502verivehren, weil ein Messer drin sein könnte? Wer wird sich auf Datenschutz berufen können, wenn die Behörden der Schweiz oder der USA Briefe und E- Mails lesen, Bankkonten durchleuchten, Fichen anlegen, immer unter Berufung auf Terrorismus-Verdacht?»74 (Bernhard Weissberg, 16. September 2001)
503Der 11. September 2001 ist in Amerika ein strahlend schöner Tag. Um 7.59 Uhr hebt auf dem Logan International Airport von Boston der American Airlines Flug 11 mit 81 Passagieren und elf Crew- Mitgliedern ab. Die Boeing 767 zieht ihre Bahn nach Westen, in Richtung Los Angeles.75
504Attentäter an Bord
505Um 8.14 Uhr startet wieder in Boston eine andere Boeing 767, der United Airlines Flug 175, ebenfalls mit Destination Los Angeles - an Bord 56 Reisende und neun Personen Besatzung. Um 8.21 Uhr verlässt der American Airlines Flug 77 den Dulles Airport von Washington. Die Boeing 757 soll 68 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder nach Kalifornien bringen.Auch für den Flug 77 lautet das Ziel Los Angeles. Wie die Flüge 11 und 175 ist der Flug 77 voll betankt.
506Und noch ein Merkmal haben die drei Apparate gemeinsam: In den Maschinen fliegen je fünfTerroristen mit. Die
507Attentäter haben in Boston und Washington alle Kontrollen unerkannt überwunden und führen Waffen mit. Sie handeln auf Befehl desAl-Kaida-Führers Osama bin Laden, der schon im Sommer einen Getreuen gefragt hat: «Warum gebrauchst du eine Axt, wenn du einen Bulldozer einsetzen kannst?»
508
509Mitten ins Herz
510Um 8.20 Uhr überwältigen die Terroristen an Bord des Fluges 11 die Crew. Sie besetzen das Cockpit und übernehmen das Steuer. Eine Stewardess ruft auf ihrem Handy die Zentrale der Fluggesellschaft an: «Sie haben zwei meiner Kolleginnen niedergestochen.» Um 8.28 Uhr dreht der Flug Nummer 11 über dem Bundesstaat New York nach Süden ab. Die Boeing fliegt direkt auf die Stadt New York zu.
511Um 8.43 Uhr hebt in Newark - im Bundesstaat New Jersey - der Flug 93 ab, eine Boeing 757 der United Airlines.An Bord: Sieben Crew-
512Mitglieder und 38 Passagiere, darunter vier Terroristen. Ziel: San Francisco.
513Um 8.45 Uhr steuern über Manhattan die Attentäter den Flug 11 direkt in die oberen Stockwerke des Nordturms des World Trade Centers (WTC). Menschen, die den Knall der Explosion hören, glauben zuerst, ein Baugerüst sei eingestürzt. Andere denken, ein unglücklicher Flieger habe den Turm aus Versehen getroffen.
514Innert Minuten suchen die Polizei und die Feuerwehr auf der vermeintlichen Unfallstelle zu retten, was zu retten ist. Und ebenso prompt übertragen mehrere Fernsehsender das Geschehen live. Die
515Kameras surren, als die Attentäter um 9- 03
516Uhr den Flug 175 in den Südturm rammen. Auch da explodieren die oberen Etagen in einem riesigen Feuerball. Nun brennen beide Türme - jeder und jedem fällt es wie Schuppen von den Augen: Das sind keine Unfälle, das ist ein Angriff mitten ins Herz der Vereinigten Staaten. Nicht Unglückspiloten haben Fehler begangen - Verbrecher sind am Werk. Amerika präsentiert sich in dieser grausigen Stunde verwundbarer denn je.
517Rund 3000 Opfer
518Um 9.37 Uhr dreht Flug 93 nördlich von
519Pittsburgh um 180 Grad. Sechs Minuten später, um 9.43 Uhr, stürzt Flug 77 auf das Pentagon in Washington. Um 10.05 Uhr bricht der Südturm des WTC in einer gigantischen Staubwolke zusammen. Und um 10.10 Uhr bohrt sich Flug 93 in Sommerset County, Pennsylvania, auf freiem Feld in einen Acker. Im Zerstörungsplan der Terroristen war die Maschine ebenfalls für Washington bestimmt; aber die Passagiere knebeln die Attentäter, bevor Kampfflieger die Boeing abschiessen.
520Um 10.28 Uhr stürzt im World Trade Center auch der Nordturm ein. Wie die makabre Zählung nach dem fürchterlichen Anschlag ergibt, verloren
521am 11. September 2001 rund 3000 Menschen das Leben.
522Kriminelle Energie
523In seiner Operation Heiliger Dienstag verband Osama bin Laden präzise Planung, kriminelle Energie, fliegerisches Können und die religiös fundierte Suizid-Bereitschaft von 19 Islamisten zum bisher spektakulärsten Terroranschlag in der modernen Geschichte.
524Al Kaida löschte das WorldTrade Center aus, ein Symbol der kapitalistischen Welt. Al Kaida rammte ein Flugzeug ins Pentagon, das militärische Zentrum der letzten
525Supermacht auf der Erde. Al Kaida traf die Vereinigten Staaten - 60 Jahre nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor - auf deren eigenem Territorium, und Al Kaida sagte Amerika, dem «grossen Satan»76, den Kampf auf Leben und Tod an. «Wir alle stehen im Krieg - macht euch bereit», verkündete Präsident George W. Bush noch am 11. September.
526Vor allem aber gelang Osama bin Laden - so zynisch das klingt - ein Propagandacoup von überwältigender Wirkung. Er kannte die Mechanismen der amerikanischen Medien und wusste sie zu nutzen. Er rechnete damit, dass in New York die Fernsehstationen sofort
527reagieren würden. Kühl zog er ihren Konkurrenzkampf und ihr Ringen um Einschaltquoten ins teuflische Kalkül. Und siehe da, die Rechnung ging auf.
528Diabolischer Plan
529Die alles entscheidenden 18 Minuten von 8.45 bis 9-03 Uhr verliefen so, wie es der Verbrecher an der Spitze der Al Kaida ausgeheckt hatte. «Schon beim ersten Flugzeug waren wir wie elektrisiert», berichtet Larry Heinzerling, in der Nachrichtenagentur Associated Press Chef des internationalen Dienstes. Er erlebte den 11. September in Manhattan live. «Zuerst hielten wir den Aufprall der Maschine im Nordturm für einen
530tragischen Unfall. Aber das Geschehen erschütterte uns auch so, und wie gebannt hingen wir an den GW-Bildern, die um 8.50 Uhr einsetzten. Wir schickten unsere New-York-Redaktion sofort zu den Türmen, und die ganze Agentur richtete ihre Energie auf das aus, was wir zuerst als Ergebnis eines Pilotenfehlers einstuften. Dann kam der zweite Apparat - um so grösser war die Wirkung. Die schreckliche Gewissheit war da: New York wurde angegriffenes war Terror, kein Unfall.»77
531Hätten die New Yorker Medien um 8.45 Uhr anders, zurückhaltender reagieren sollen? Sollten Radio, Fernsehen und Presse generell über
532Selbstmordanschläge gedämpfter, weniger grell berichten? Der Augsburger Professor Peter Waldmann, Experte fürTerrorismus, beklagt die Tatsache, dass Sui- zid-Attentate unweigerlich Schlagzeilen machen und jeweils die Nachrichten beherrschen. Er befürchtet, dass es so radikalen Minderheiten immer wieder gelingt, in einem paradoxen Zusammenspiel von Gewalt und Medien der sensiblen Mehrheit in den freien Demokratien ihren Willen aufzuzwingen.78
533Medien als Freunde der Terroristen?
534Waldmann glaubt nicht an eine Friedenskausalität oder eine Friedensdynamik, wie das eine normativ
535orientierte Friedensrhetorik glauben machen will. Um den Terror einzugrenzen, brauche es eindeutige, militant vertretene Entscheidungen.
536Zur Rolle der Medien zitiert Waldmann den Gelehrten Walter Laqueur, wonach Presse, Radio und Television die besten Freunde der Terroristen seien. Erst die Medien verliehen den Attentätern Status und Prestige. Darum mahnt Waldmann die Redaktionen zu mehr Zurückhaltung und Vorsicht.
537Waldmann hat insofern Recht, als der Terror sein Ziel, die Einschüchterung und Beeinträchtigung der verletzlichen westlichen Gesellschaften, nur dann
538erreicht, wenn die Medien nach Anschlägen den Schrecken auch «gebührend» verbreiten. Ohne die weltweite, in aller Regel dramatische Berichterstattung über die blutigen Ergebnisse der Attentate würde deren Wirkung verpuffen: Selbst Al Kaida liefe ins Leere.
539Anderseits mutet es blauäugig an zu glauben, die Medien würden sich nach einem Ereignis wie dem Angriff vom 11. September 2001 Fesseln anlegen. «Truth will out», die Wahrheit kommt an den Tag. Die Erschütterung über den Tod unschuldiger Menschen durchdringt dann alle Lebensbereiche.
540«Wer wird sich auf Datenschutz berufen
541können, wenn die Behörden der Schweiz oder der USA Briefe und E-Mails lesen, Bankkonten durchleuchten, Fichen anlegen, immer unter Berufung aufTerrorismus-Verdacht?», frägt Bernhard Weissberg am 16. September 2001 zu Recht.Vor diesem Hintergrund von den Medien zu verlangen, sie sollten mit angezogener Handbremse berichten, ist gut gemeint und in der Sache richtig, in der Realität letztlich aber illusorisch.
542Präsident Bush schlug nach dem 11. September 2001 in Afghanistan hart zurück. Seine Truppen stürzten das Taliban- Regime und suchten Al Kaida den Nährboden zu entziehen. Militärisch sah die Operation «Enduring Freedom»
543lange wie ein Erfolg aus. Im Kampf um die Herzen und Köpfe der Bevölkerung erwiesen sich die Hintermänner des islamistischen Terrors indessen als ernst zu nehmende Gegner.
544Der Coup von Madrid
545Ein teuflischer Coup gelang den islamistischen Terroristen erneut am 11. März 2004 in Madrid. Wieder schätzten sie die Medien-Mechanismen richtig ein. Drei Tage vor der spanischen Parlamentswahl jagten sie in der Hauptstadt Züge in die Luft. Die amtierende konservative Regierung verhedderte sich in der Information, als sie den Verdacht auf die baskische Untergrundarmee ETA lenken wollte.
546Unmittelbar vor der Wahl spielten die wahren Attentäter der Presse einen Bekennerbrief zu, der die Konservativen als Lügner entlarvte.
547Entgegen aller Umfragen gewannen die Sozialisten die Wahl. Als erstes verkündete der neue Premier José Luis Rodrigo Zapatero,er ziehe die spanischen Truppen aus dem Irak ab. Schlagzeilen machte die Fehlinformation der gestürzten Konservativen. Von der Tatsache, dass ein verbrecherischer Anschlag die Regierung einer europäischen Demokratie zu Fall gebracht hatte, war kaum die Rede.
5488 Der Hexentanz von Bagdad
549«Es mangelte an allem, an Disziplin, Ausbildung und Aufsicht.»19 (Antonio Taguba, 11. Mai 2004)
550«Die Streitkräfte, nicht die Medien entdeckten die Untaten.»TM (Donald Rumsfeld, 9-Mai 2004)
551«Ich tat nur, was man mir befohlen hatte».61 (Lynndie England, 19. Mai 2004)
552An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert standen die Vereinigten Staaten im Zenit ihrer Macht. «Niemand kann uns das Wasser reichen», schrieb im September 2000 das Project for the New American Century (PNAC), eine der konservativen Denkfabriken, die
553nach dem Wahlsieg George W. Bushs in Washington bald entscheidenden Einfluss gewinnen sollten82. «Das Ziel unserer grossen Strategie muss es sein, die überlegene Position auszubauen und zu bewahren, so lange wie immer nur möglich.»83
554Um ihre Weltmachtstellung zu verteidigen, führen die USA seit der Amtsübernahme des zweiten Präsidenten Bush eine Informationskampagne grössten Umfangs. An der «Heimatfront» liefern hochdotierte Think Tanks wie das PNAC, die Heritage Foundation oder das American Enterprise Institute die ideologische Grundlage für das amerikanische Streben nach lang
555andauernder Überlegenheit.Weltweit feilt ein ziviler Propaganda-Apparat von unerhörten Dimensionen am Image der letzten Supermacht. Und militärisch ist die amerikanische Armee die einzige Streitmacht auf der Welt, die für ihre Psy- chological Operations drei professionell ausgebildete, voll ausgerüstete Brigaden einsetzen kann.84
556Aber manchmal versagt alle Kunst. Schon am 11. September 2001 lief die Operationelle Informationsführung, wie das Ringen um die Gefühle und Gedanken der Menschen amtlich heisst, aus dem Ruder. Osama bin Ladens verbrecherischer, doch diabolisch- genialer Einschüchterungsschlag setzte
557der selbstbewussten amerikanischen Nation hart zu. Vorübergehend gewannen die USA die Sympathie und Anteilnahme all derer, die mit ihnen trauerten und den kriminellen Angriff verurteilten. Die Operation Enduring Freedom in Afghanistan fand in der westlichen Welt Verständnis.
558Aber mit dem Irak-Feldzug zerbröckelte die Unterstützung wieder, und mit der Folter-Affäre von Bagdad, dem abscheulichen Hexentanz von Abu Ghraib, sank das Ansehen der Vereinigten Staaten und ihrer Streitkräfte auf den Tiefpunkt.
559Saddams Folterstätte
560Was war geschehen? Nachdem das amerikanische Expeditionskorps im April 2003 Bagdad erobert hatte, übernahm die 800. Militärpolizei- Brigade in Abu Ghraib, einem Vorort der Hauptstadt, auch das Gefängnis, das Saddam Husseins Regime als Folterstätte gedient hatte. Geführt wurde die 800. Brigade von Brigadier Janis Karpinski, die im Sommer die Haftanstalt renovieren liess.
561Schon am 23. Juli beanstandete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Haftbedingungen im Irak. Namentlich kritisierte Amnesty Verhörmethoden wie Schlafentzug und erzwungenes Verharren in schmerzhaften
562Stellungen. Aber der Hilferuf aus Abu Ghraib verhallte un- gehört.Vom Oktober bis zum Dezember kam es im Trakt 1A zu schweren Misshandlungen von irakischen Männern. Dort verhörten die CIA und die 205. Brigade des militärischen Nachrichtendienstes Gefangene. Die amerikanischen Folterknechte filmten ihre Schandtaten und verbreiteten die Bilder in privatem Kreis.
563Im Herbst stellte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Abu Ghraib gravierende Missstände fest. In Übereinstimmung mit seinen eigenen Regeln verzichtete das IKRK jedoch darauf, die internen Dokumente zu
564veröffentlichen.85 Innerhalb der amerikanischen Streitkräfte dokumentierte Generalmajor Donald Ryder, der Chef der Militärpolizei, die Vorfälle in der Haftanlage; aber auch sein vertrauliches Papier vom ö.November blieb unter Verschluss.
565Spät kam der Stein ins Rollen
566Im November brach in Abu Ghraib eine Revolte aus, in deren Verlauf fünf Häftlinge umkamen. Am 13. Januar 2004 erstattete der Militärpolizist Joseph Darby seinen Vorgesetzten in der 372. Militärpolizei-Kompanie Meldung, dass Gefangene gefoltert worden seien. Am Tag darauf leitete Ricardo Sanchez, der Kommandant der amerikanischen
567Truppen im Irak, eine Untersuchung ein. Wieder vier Tage später enthob er den Kommandanten des 320. Militärpolizei- Bataillons des Amtes. Unehrenhaft entlassen wurde ebenso Brigadier Karpinski.
568Ende Januar unterrichtete Sanchez den Verteidigungsminister Rumsfeld über die Untaten; in seinem Bericht merkte er an, es kursierten aus dem Trakt 1A abstossende Bilder und Video-Filme.Am 31 .Januar beauftragte Rumsfeld den neutralen Generalmajor Antonio Taguba, den Meldungen aus Bagdad auf den Grund zu gehen. Schon am 3- März erstattete Taguba Bericht: In Abu Ghraib sei es zu sadistischen und kriminellen
569Handlungen gekommen, die den Straftatbestand der Folter erfüllten.86 Am 20. März informierte Brigadier Mark Kimmitt,
570Sanchez' Stellvertreter, die Öffentlichkeit darüber, das Oberkommando habe gegen sechs Militärpolizisten Anklage erhoben. Einzelheiten gab er aber nicht frei. Erst am 23. März kam der Stein ins Rollen, als sich ein Angehöriger eines der Angeklagten an den Fernsehsender CBS wandte. Die GBS-Redaktion beschaffte sich belastende Bilder, hielt diese auf Wünsch Rumsfelds aber noch zurück.
571Eine erste Ausstrahlung war in der Sendung 60 Minutes auf den 14. April
572geplant, wurde jedoch verschoben. Dann erhielt die Redaktion der Zeitschrift The New Yorker eine Kopie des Taguba- Berichts. Nachdem das Magazin bekannt gegeben hatte, es werde Auszüge drucken, gab es für CBS keinen Grund mehr, sein Material unter Verschluss zu halten. Am 28. April brachte die ehrwürdige Station die Bilder ungekürzt - und sie schlugen weltweit wie eine geballte Ladung ein.
573Sinnbild der Schande
574Was 60 Minutes ausstrahlte, übertraf alle Befürchtungen: Es waren die Originalbilder aus Abu Ghraib mit der 21-jährigen Lynndie England als
575Hauptdarstellerin. Feixend steht die pausbäckige Gefreite hinter einem Haufen nackter Iraker, Arm in Arm mit ihrem Freund, dem 35-jährigen Militärpolizisten Charles Graner, der sie zur sadistischen Tat angeleitet hatte.
576Auf einer zweiten Aufnahme ist ein Gefangener zu sehen, den seine Peiniger an ein Kajütenbett gefesselt hatten, mit Unterwäsche über dem Kopf. In einer weiteren abstossen- den Szene schichten amerikanische Soldaten mit schwarzen Stulpenhandschuhen Iraker in entwürdigender Pose übereinander. Und vollends zum Symbol des Hexentanzes von Bagdad wird das Video, in dem Lynndie England einen am Boden
577liegenden Häftling wie einen Hund an der Leine führt.
578Wie die Gefreite Jessica Lynch stammt die kleingewachsene Lynndie England aus West Virginia, einem der ärmeren
579Staaten der USA. Sie hatte in einem Schlachthof gearbeitet und war, wie Lynch, in die Armee eingetretenem der Armut zu entrinnen. Jetzt war sie die negative «Heldin» des Irak-Feldzuges, das tragische Gegenstück zu Jessica Lynch. Innert Stunden lief ihr Bild mit dem Hundehalsband um die Welt, und unvermittelt wurde die «andere Gefreite» zum Sinnbild der Schande.
580«Der grösste anzunehmende Unfall»
581Amerikanische Offiziere stufen die Bilder von Abu Ghraib als «GAU» ein, als den «grössten anzunehmenden Unfall» in der Informationsführung. Der Griff in den Wortschatz der Kern- kraft- Katastrophen mag zynisch und geschmacklos sein - aber er trifft den Sachverhalt. In der westlichen Welt löste die Demütigung der irakischen Häftlinge Wut und Entsetzen aus. In den islamischen Ländern bestätigten die grausigen Bilder das verbreitete Vorurteil gegen den «grossen Satan» USA: Von nun an galt als authentisch, was an diffamierenden Geschichten über Amerika schon lange herumgeboten worden war.
582Geschickt traf die Fernsehstation Abu Dhabi TV die Stimmung in der arabischen Welt. Sie strahlte die Folterszenen Tage lang ohne Ton aus. In den Stummfilm hinein ertönte monoton nur eine Stimme aus dem Off: «Wir widmen diese Sendung all jenen, die noch immer nicht glauben, worum es im Irak geht.»
583Ausgerechnet in Abu Ghraib
584Die amerikanische Propaganda suchte zu flicken, was nicht mehr zu flicken war. George W. Bush entschuldigte sich bei den Misshandelten und dem irakischen Volk. Er tadelte Donald Rumsfeld dafür, dass dieser ihn zu spät unterrichtet hatte. Rumsfeld erklärte, die Streitkräfte, nicht
585die Medien hätten den Skandal aufgedeckt. Das American Enterprise Institute suchte den Schaden einzugrenzen und klagte: «Fünf oder sechs
586Übeltäter haben das Ansehen aller anderen amerikanischen Soldaten beschmutzt.» Aber alles Flehen half nichts: Ausgerechnet in Abu Ghraib, der Folterkammer Saddams, hatten sich die Vereinigten Staaten Untaten zu Schulden kommen lassen, wie sie sie dem Diktator vorgeworfen hatten.
587Mit Wissen der Vorgesetzten
588Amerika war in den Krieg gezogen, um Saddam zu stürzen, seine Waffen zu
589finden und im Irak Recht und Ordnung zu schaffen. Das Erste gelang, das Zweite und Dritte nicht.Als Lynndie England verlauten liess, sie habe nur Befehle ausgeführt, entwertete sie auch die Entschuldigung, nur eine Handvoll Sadisten habe das humanitäre Völkerrecht verletzt. Die CIA und der militärische Geheimdienst hatten systematisch gefoltert, und im Mai stellte sich heraus, dass Graner, England und ihre Verbündeten mit Wissen und Duldung ihrer Vorgesetzten gehandelt hatten. Sergeant Javal Davis, einer der Sadisten, berichtete vom Lob, das die Gruppe jeweils erhielt, nachdem sie wieder einen Gefangenen weich geklopft hatte: «Gut gemacht! Die brechen jetzt
590rasch zusammen und beantworten unsere Fragen.»
591In einem letzten, schon fast verzweifelten Rettungsversuch entliess Donald Rumsfeld dann auch noch Generalleutnant Sanchez, und der Kongress tat, was er nach Katastrophen immer tut: Er leitete eine Untersuchung ein.Aber der Schaden war angerichtet, und das Ansehen der Vereinigten Staaten und ihrer sonst so pflichtbewussten, reglementsgetreuen und straff geführten Streitkräfte wird nicht so leicht wieder herzustellen sein.87
5929 Terror im Netz
593«Tötet die Ungläubigen, sprengt sie in
594die Luft und schneidet ihnen die Hälse durch.»w (Video von Al Kaida, 17. Mai 2004)
595«Ich heisse Nicholas Berg, ich bin aus West ehester, Pennsylvania,»89 (Nicholas Berg, im Mai 2004)
596Als die Bilder von Abu Ghraib Schlagzeilen und Quoten machten, erfuhr Amerika erneut die ungeheure Macht der Bilder, diesmal im negativen Sinne. Auch schon hatten aufrüttelnde Szenen den Ruf der Vereinigten Staaten gestärkt. 1945 hissten Marine-Infanteristen - nachgestellt - das Sternenbanner auf der japanischen Insel Iwo Jima. Unvergessen bleibt Norman Schwarzkopfs erhobener Arm nach der
597Eroberung von Kuwait. Und gewandt inszenierte die 4th Psychological Operations Group den Sturz des Saddam-Denkmals in Bagdad.
598Jahrhundertbilder
599Lynndie Englands Hunde-Bild dagegen schloss sich nahtlos an die schlimmen Szenen an, die Amerikas Stellung jeweils für lange Zeit beschädigten. 1968 erschoss der Chef der südvietnamesischen Polizei in Saigon einen Vietcong-Agenten auf offener Strasse. 1972 rannten Kinder beiTrang Bang auf der Route Nummer 1 vor dem Napalm-Feuer ums Leben. Das Bild des schreienden Mädchens ist eine, wenn
600nicht die Aufnahme des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls ist es in seiner Wirkung von keinem anderen Bild übertroffen worden. Verheerend waren die Szenen von Somalia 1993. Der Mob schleift tote Amerikaner durch die Slums von Mogadischu. Von dieser Demütigung weiss man, dass sie das Ende der Jagd auf Muhamed Aidid bedeutete. Präsident Bill Clinton brach die Operation «Restore Hope» ab, nachdem er den Film gesehen hatte. Das amerikanische Volk ertrug die Bilder aus Somalia nicht mehr.
601Iwo Jima war von Armee-Fotografen nachgestellt worden, Trang Bang und Mogadischu wurden von zivilen
602Reportern festgehalten. In Abu Ghraib jedoch fotografierten und filmten die Beteiligten selbst, ohne daran zu denken, dass ihre abscheulichen Aufnahmen ans Tageslicht gelangen könnten. Sie wurden das Opfer nicht nur ihres eigenen Sadismus, sondern auch der modernen Technik.
603Szenen, die ans Herz gehen
604Digital lässt sich heute alles dokumentieren, und das Meiste kann in Windeseile und weit gehend unkontrolliert verbreitet werden. Charles Graner und Lynndie England waren sich gar nicht bewusst, welchen Schaden sie anrichteten, als ihre Kollegen die Folterszenen im
605vermeintlichen Triumph wahllos an Freunde sandten.
606Die hochvernetzte Gesellschaft des Westens bietet jedem, der sie bekämpft, Schwachstellen und Lücken. Gnadenlos nutzt der islamistische Terror das Netzwerk aus. Eine Organisation wie Al Kaida spielt souverän auf dem Internet, dem weltweit einsetzbaren Medium des armen Mannes.
607Am 17. Mai 2004 jagt ein von ihr gedungener Attentäter in Bagdad den Politiker und Schriftsteller Issadine Salim90, den Präsidenten des irakischen Regierungsrates, in die Luft. Nur Stunden nach dem Mord stellt Al Kaida
608das Tat-Video ins Internet91. Das schauerliche Band hält für die Ewigkeit fest, wie der «Verräter» Salim krepiert; und es soll neue Suizid-Attentäter anwerben. Zuerst erscheint Salims Mörder beim Abschied von seiner Familie. Der junge bärtige Mann trägt das grüne Stirnband des Märtyrers. Seine Brüder und Schwestern singen Koran-Lieder, er selber umarmt die Mutter - Szenen, die zu Herzen gehen. Dann werden dem Attentäter die Wohltaten ver- heissen, die dem Märtyrer zukommen, der für den heiligen Krieg sein Leben einsetzt: Er wird in die Gärten der Ewigkeit eingehen, wo ihn Milch und Honig, Wohlgenüsse und edle Jungfrauen erwarten.
609Tat und Film als Einheit
610Im Tat-Fahrzeug, einem roten Kastenwagen, zeigt der Mörder selber, wie er Salim in Allahs Namen in die Luft sprengen wird. Probeweise drückt er - bei noch ungeschärfter Ladung - den tödlichen Auslöseknopf. Dann geht es nach Bagdad, wo Issadi- ne Salim noch am selben Morgen in die scharf bewachte Grüne Zone fahren soll. In der Regel begleiten mehrere Terroristen einen Suizid-Attentäter zum Tatort. Einer setzt den Todgeweihten unter Drogen und führt ihn an die Stelle, wo er sein Leben lassen soll. Andere wieder filmen das Geschehen aus einem Kamera- Fahrzeug.
611Am 17. Mai 2004 erfasst der Operateur den roten Kastenwagen von hinten durch die Frontscheibe seines Auto- mobils.Vorne erkennt man Salims weisse Dienstlimousine. Der Kastenwagen schliesst auf, ein paar Meter fahren Täter und Opfer parallel, dann zündet der Mörder die Ladung - und beide Fahrzeuge fliegen in einem gewaltigen Feuerball in die Luft. Der Terrorist, Salim und dessen Leibwächter sind tot oder so schwer verletzt, dass sie im Spital sterben. Der Kamera-Mann filmt die Szene aus der ersten Reihe;doch die Detonation ist so stark, dass sie im Begleitauto einen Spalt quer durch die Windschutzscheibe reisst und die Bilder wackeln lässt.
612Die Erschütterung hindert die Begleitequipe aber nicht daran, in aller Ruhe weiterzufilmen. Immerhin hat Al Kaida soeben den Chef des verhassten Regierungsrates umgebracht, den die amerikanische Besatzungsmacht ins Amt eingesetzt hat. Erst als mit einiger Verzögerung eine Polizei-Patrouille eintrifft, dreht das Kamera-Fahrzeug ab - mit der explosiven Bild- Trophäe im Kasten.
613Die Trümmer der beiden Automobile rauchen noch - und schon flirren die Szenen durchs WorldWideWeb.Al Kaida führt den Einschüchterungs- und Werbe-Feldzug professionell. Die Terroristen betreiben eine eigene
614Film-«Industrie» und verknüpfen ihre Untaten innig mit der propagandistischen Auswertung. Seit 11. September 2001 ereignet sich an der Medienfront eine Revolution. Suizid-Anschläge und Video-Aufnahmen verschmelzen zur Einheit. Die beiden Grössen bedingen, ja «befruchten» sich gegenseitig: Für die Terroristen ist das Attentat erst gelungen, wenn es auf Video gebannt und weltweit verbreitet ist.
615Digitale Gegner
616Ausnahmen macht Al Kaida ganz selten. Im Frühjahr 2004 Hessen die Terror- Filmer im Internet nach einem Anschlag im Irak eine blaue Schrifttafel laufen: «Wir entschuldigen uns bei unserem
617verehrten Publikum, dass wir aus Gründen der Geheimhaltung und der eigenen Sicherheit unsere letzte erfolgreiche Aktion nicht zeigen können.»
618In aller Welt kämpfen die staatlichen Geheimdienste gegen die Terror- Propaganda auf demWorldWide Web.Aber auch Private haben der Al Kaida den Kampf angesagt. Einer der hartnäckigsten digitalen Gegner Osama bin Ladens sitzt mitten in der amerikanischen ProvinzVon Carbondale, Illinois, aus sucht Aaron Weisburd den Netzwerk-Terroristen auf die Spur zu kommen93. Sein Unternehmen heisst Internet-Haganah.
619Haganah ist das hebräische Wort für Verteidigung und war bis zum 14. Mai 1948 der Name der jüdischen Streitkräfte in Palästina. Weisburd durchsucht Tag für Tag Hunderte von
620Web-Seiten. Er kennt die Tarnadressen der Terror-Organisationen und verfolgt sie quer durch das Netz. Manchmal spürt er verdächtige Bewegungen auf und meldet sie den Nachrichtendiensten. Wenn er Glück hat, kommt er Attentätern auf die Spur, bevor diese zuschlagen. Doch nicht immer erreicht er sein Ziel: Im elektronischen Katz-und-Maus-Spiel sind die Verfolgten den Verfolgern meist einen Schritt voraus - und das reicht in der Regel, dass wieder ein Anschlag
621gelingt.
622Nicholas Berg wird enthauptet
623Ihren bisher grössten Coup landeten die Terroristen und ihre Film-Equipen am 11. Mai 2004. Kurz nachdem die Folterszenen von Abu Ghraib bekannt geworden waren, stellte eine Gruppe, die sich «Abu Mussad al-Zarkawi»94 nannte, ein Video ins Internet, das die Ermordung des amerikanischen Technikers Nicholas Berg in voller Länge zeigt.95
624In orangem Umhang kauert der 26- jährige Berg vor seinen Schergen. Orange ist die Farbe der Overalls, welche die Taliban-Gefangenen in
625Guantänamo auf Kuba tragen. Berg nennt den Namen seines Vaters, seiner Mutter und seiner Geschwister. Er gibt bekannt, wie er heisst und woher er stammt. Dann verliest der Sprecher der Terroristen das Todesurteil, und Nicholas Berg wird vor laufender Kamera enthauptet. Einer der schwarz gewandeten, maskierten Mörder liest Bergs Kopf auf und hält ihn in die Kamera.
626Medien im Verbund eingesetzt
627Ganz nach der Doktrin der verbundenen Medien spielen die Verbrecher Bergs letztes Bild der Presse zu, die es begierig aufnimmt; gleichzeitig gibt die Al-Zarkawi-Gruppe bekannt, wo das Berg-Video auf dem Internet zu finden
628ist. Über jedes Suchprogramm sind fortan die Szenen des Grauens anzuwählen - und siehe da, sie werden so oft angeklickt, dass sie es in die
629Google-Hitliste schaffen. Im Mai 2004 hält sich die Ermordung Nicholas Bergs in der Rangfolge des Suchprogramms konstant an zweiter Stelle - hinter dem Wort «American Idol», aber noch vor den Begriffen «Iraq» und «Lynndie England».
630Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man das Internet im Medien-Vergleich heute gleichberechtigt neben Television, Presse und Radio stellt. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und unbestritten
631ist, dass es seit langem die bewegten Bilder des Fernsehens, die farbigen Illustrationen der Zeitungen und die Video-Filme im Netz sind, die die Menschen erschüttern und aufwühlen. Der Rundfunk bleibt das rasche, einfache und kostengünstige Mittel der Ankündigung; aber in der Bildsprache leistet er nicht, was die drei anderen Medien können.
632Neues Zeitaiter
633Der Krimkrieg von 1853-56, aus dem William Howard Russell für die Times berichtete, war der erste Presse-Krieg. Der Zweite Weltkrieg war, zwei Jahrzehnte nach der Erfindung des Rundfunks in Berlin, der erste Radio-
634Krieg. Der Vietnam-Krieg ging als erster Fernseh-Krieg in die Geschichte ein, und als die UCK und ihre serbischen Widersacher im Balkan das World Wide Web als Waffe einzusetzen begannen, brach an der Propaganda-Front das Internet-Zeitalter an.Von der UCK lernte die Al Kaida, und jede Terror-Gruppe weiss heute, wie sehr ihr das Netz als Waffe dienen kann.
635Nicholas Bergs Schergen machten Schule. Wenige Tage, nachdem sie die Enthauptung des Amerikaners aufgenommen hatten, stellten Kinder für eine andere Web-Seite die Szene nach. Der kräftigste Knabe spielte den Henker, der schwächste war - orange gekleidet -
636Nicholas Berg.The Economist
637Poland's unruly politics
638PAGE 27
639Unreformed, under-performing Germany
640PAGES 13, 29 AND 71-73
641Ariel Sharon's Gaza blow
642PAGES 12 ANB 43
643Google's unusual flotation -
644Resign, Rumsfeld
645Die Titelseite der britischen Zeitschrift Economist fordert den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zum Rücktritt auf. Die Redaktion macht den Minister politisch für die Verbrechen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib verantwortlich.
646
647Im Irak wird der Amerikaner Nicholas Berg von Terroristen ermordet. Das erste Video-Biid zeigt die Verkündung des «Todesurteils».
648Auf dem zweiten Bild bereiten sich die Terroristen auf die Ermordung vor. Der Mörder zieht das Messer.
649
650 Nach 41 Sekunden ist die grausige Tat vollbracht. Nicholas Berg liegt in einen orangen Umhang gehüllt rechts auf dem Schlussbild.
651
652Und so sähen die amerikanischen Propagandisten ihren Gegner und seine
653Getreuen gerne (Rückseite des Flugblatts).
654VIERTER TEIL Israel gegen Palästina: Dichtung und Wahrheit
655 10 Wer erschoss Muhamed al-Dura?
656«Es ist alles klar: Die Israeli haben Muhamed erschossen. Wir müssen gar nicht ermitteln,»95 (SaibAjez, 1. Oktober 2000)
657«Der Vater und der Sohn ivaren in einem Winkel von 42 Grad geschützt. Das ist der Winkel gegenüber unserem Stützpunkt. Die israelische Armee kann Muhamed nicht getötet haben.»96 (Jom
658Tov Samia, 7. Oktober 2000).
659«Als ich Jamal und Muhamed al-Dura filmte, erfüllte ich eine heilige Pflicht im Dienst der palästinensischen Sache.»91 (TalalAbu Rahme, 3 Oktober 2000)
660Der Staat Israel eroberte vom 5. bis zum 10.Juni 1967 in sechs Tagen die Sinai- Halbinsel, die Golan-Höhen, die Oststadt von Jerusalem und das ganze Westjordanland. Den Sinai gab Israel nach dem Friedensschluss von Camp David (1978) an Ägypten zurück.Auf dem Golan gilt seit 1981 das israelische Recht. Ost- Jerusalem gehört seit 1967 integral zur Hauptstadt des Staates Israel. Umkämpft sind seither die biblischen Landschaften Judäa und
661Samaria, genannt auch Cisjordanien oder eben: das Westjordanland.
662Am 28. September 2000 betrat der damalige Oppositionsführer Ariel Scharon98 in Jerusalem den Tempelberg. Innert
663Stunden brach die zweite Intifada aus: der bewaffnete Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besetzung. Militärisch verspricht die Intifada den Aufständischen keinen Sieg, keinen Durchbruch.
664Aber es ist eine Rebellion, die den Strassenkämpfern Erfolg an einer anderen Front verheisst: Die Intifada wird gezielt vor den Fernsehkameras der
665Welt ausgetragen. Die Palästinenser zwingen Israel die Medien-Agenda auf. Immer wieder versuchen Jugendliche, von Drahtziehern ins Feuer geschickt, die fast gleichaltrigen israelischen Soldaten als grausame Stiefelknechte darzustellen - und manchmal gelingt es ihnen.
666Einseitig, parteiisch, ungerecht
667Das Bild, das entsteht, ist einseitig, ja ungerecht. Doch es wirkt nachhaltig. Es verdeckt die Ursachen des Konflikts, es zeigt eine Partei in schlechtem Licht, es appelliert an die Gefühle und es nährt Ressentiments. Der Aufstand setzt immer dann ein, wenn die meist einheimischen, parteiischen Kameramänner
668derTelevision erscheinen.
669Der Schreibende kam am 6. Februar 2001, am Tag, an dem das israelische Volk Ariel Scharon zum Ministerpräsidenten wählte, um 12.30 Uhr auf die Ayosch-Kreuzung in Ramallah. Die Jugendlichen, die dort seit dem 28. September 2000 zu randalieren pflegten, hatten sich wieder viel vorgenommen: Auch am Wahltag wollten sie beweisen, wie viel Kraft und Ausdauer die Intifada besass.
670«Heute ist die Intifada um 15 Uhr»
671Doch zur Mittagsstunde, als die Sonne hoch über dem Westjordanland stand, war es noch zu früh. Der alltägliche
672Aufstand war auf später angesetzt. Der Rädelsführer, ein etwa 18-Jähri- ger mit einer Zigarette im Mundwinkel, wusste sehr wohl, auf wann die Fernseh- Equipen aufgeboten waren: «Heute ist die
673Intifada um 15 Uhr», beschied er die wartenden Pressereporter, die ohne TV- Kameras die Show nicht wert waren. Prompt erschienen CNN, das ZDF und die anderen einschlägigen Stationen kurz vor 15 Uhr - und die Intifada ging los, in aller Heftigkeit und ausgestattet mit allen Ingredienzien: Steine wurden geschleudert, Pneus brannten, die Israeli verschossen Gummischrott und Tränengas.
674Bald hatten die Kameramänner die gewünschten Szenen im Kasten - und schon um 16.30 Uhr war Feierabend: für die Television, für die Aufständischen und die Israeli. Erhobenen Hauptes zogen die Jugendlichen von dannen: Das Randalieren hatte sich wieder gelohnt. Schliesslich hatte das Fernsehen anderthalb Stunden gefilmt, und eingängige Bilder waren den Palästinensern weltweit noch am Wahlabend gewiss."
675Auf der Netzarim-Kreuzung
676Die erste schwere Niederlage erlitt Israel im Propagandakampf schon am 30. September 2000, nur zwei Tage nach Scharons «Spaziergang» auf dem
677Tempelberg. Auf der Netzarim-Kreu- zung, sieben Kilometer südlich von Gaza, gerieten der Palästinenser Jamal al-Dura und sein 12-jähriger Sohn Muhamed ins Kreuzfeuer der Aufständischen und der Israeli.
678Die Kreuzung, einer der umstrittensten Punkte des Gaza-Streifens, war hart umkämpft. In der nordwestlichen Ecke hatten die Israeli einen befestigten Wachtturm errichtet, diagonal gegenüber lagen zwei Maschinengewehr-Nester der Fedayin. Vom Turm aus kontrollierten die Israeli den Zugang zur nahen israelischen Siedlung Netzarim. Zudem beherrschten sie die Nord-Süd-Strasse von Gaza zum Flüchtlingslager Bu- rej,
679wo die Familie al-Dura wohnte.
680Zwischen den beiden Fedayin- Stellungen suchten Jamal und Muhamed al-Dura Schutz. Sie duckten sich vor einer Wand und suchten sich hinter einem runden Betonklotz zu ver- stecken. Doch 45 Minuten lang lagen die beiden unter Beschuss. Der Vater suchte den Knaben mit seinem Körper zu decken. «Ich tat alles, um Muhamed zu schützen. Ich betete, dass die Soldaten uns verfehlten, aber umsonst», berichtete Jamal nachher im Spital von Amman. Muhamed wurde von drei Geschossen getroffen und verblutete noch in den Armen des Vaters; dieser überlebte den Kugelhagel schwer verletzt.
681«Kreuzung der Märtyrer»
682Als einziger Kameramann filmte der Palästinenser Talal Abu Rahme Muhameds Todeskampf. Er arbeitete für den französischen Fernsehsender France 2. Am 30. September wusste er schon am Morgen, was an der Netzarim- Kreuzung bevorstand. In Netzarim feierten die rund 300 israelischen Siedler Rosch Haschana, das jüdische Neujahr 5671. In Gaza hatte die Terror- Organisation Hamas100 zum Kampftag aufgerufen. Die Geschäfte waren geschlossen, die Kinder erhielten schulfrei, und der Netzarim-Übergang hiess jetzt «Kreuzung der Märtyrer».
683Auch der israelischen Armee lagen
684Nachrichten vor, die ein Gefecht ankündigten. Der Kommandant des Netzarim- Stützpunktes verstärkte die Wache an der strategischen Kreuzung. 25 Soldaten, mehr als sonst, hielten sich mit M-l6-Ge- wehren bereit. Scharfschützen hatten Zielfernrohre montiert, befohlen war strikt nur Einzelfeuer, und die Schuss-Sektoren waren genäu abgesteckt .Als rund ein Dutzend Kameramänner und Pressefotografen Stellung bezogen, wusste die Besatzung des Militärpostens: Heute kommt es zum Kampf.
68550 Sekunden nur
686Als die Fedayin gegen Mittag den Angriff eröffneten, flüchteten die meisten Fernsehequipen und Fotoreporter. Die Aufständischen griffen den israelischen Wachtturm aus fünf Richtungen an. Talal Abu Rahme harrte im Kreuzfeuer aus. Er suchte
687Deckung hinter einem Kleinbus und richtete seine Kamera auf Jamal und Muhamed al-Dura. Er filmte die Szene hinter dem Betonklotz eine Stunde lang. Nach dem Gefecht rettete er sich in die Stadt Gaza, von wo aus er gegen Abend auf einer Satelliten-Leitung sechs Minuten Film nach Jerusalem überspielte.
688Charles Enderlin, der französische
689Korrespondent von France 2, erkannte die Brisanz des überspielten Materials sofort. Er gab 50 Sekunden Film frei - exakt die Sequenz, die Muhamed zuerst in den Armen des Vaters und dann beim Verbluten zeigt. Einmal verdeckt eine Hand das Objektiv. Die tödlichen Schüsse fehlen auf dem Video-Clip. Enderlin leitete nur die 50 Sekunden nach Paris weiter und überliess die Sequenz dann auch den Agenturen Associated Press und Reuters. Er behielt das Copyright, verzichtete aber auf ein Honorar. Mit dem Tod eines Kindes wollte er kein Geld verdienen.
690Widersprüchliche Darstellung
691Als Muhameds Bild wie ein Lauffeuer um die Welt ging, schien jedermann klar zu sein, was am 1. Oktober Saib Ajez, der Polizeichef von Gaza, in die Worte fasste: «Die Israeli haben Muhamed erschossen, grausam, wie sie sind.» Ajez dachte nicht daran, eine Untersuchung einzuleiten: «Der Fall ist eindeutig, wir brauchen gar nicht erst zu ermitteln.»
692Allein die israelische Armee fand Widersprüche in der palästinensischen Darstellung. General Jom Tov Samia, der Kommandant der Südfront, liess das Feuergefecht nachstellen und gelangte zum Schluss, die tödlichen Schüsse seien von Palästinensern, nicht von
693Israeli, abgefeuert worden.
694Widersprüchlich wirkt schon die Aussage, die Jamal al- Dura zu den Stunden vor dem Drama machte. Im Spital von Amman berichtete er: «Wir wohnen im Lager Burej südlich der Netzarim-Kreuzung.Am Morgen begab ich mich mit Muhamed in die Stadt Gaza, die nördlich der Kreuzung liegt.Wir schauten einen Gebrauchtwagen an und wollten dann zurück nach Burej. Auf der Kreuzung gerieten wir ins Kreuzfeuer, und die Israeli erschossen Muhamed.»
695Jamals Bericht wirft Fragen auf:Warum fuhr er am Morgen nach Gaza, obwohl ein Feiertag ausgerufen worden war?
696Wie konnte er einen Wagen besichtigen, wo doch die Garagen geschlossen hatten? Und vor allem:Weshalb begab er sich mit dem Knaben auf die Kreuzung, auf der ein schweres Gefecht tobte? Wieso nahm er nicht die östliche Umgehung durch die Dattelhaine, auf der er die Gefahrenzone problemlos hätte umfahren können?
697Geschützter 42-Grad-Winkel
698Einleuchtender wirkt die israelische Darstellung, wonach Muhamed ein bekannter Steinewerfer war. Mit anderen Halbwüchsigen hatte ihn sein Vater immer wieder auf die Netzarim- Kreuzung geschickt, wo er Brandsätze
699schleuderte und Reifen anzündete. Auch am 30. September ging er gegen den israelischen Stützpunkt vor, aber nun geriet er ins Feuer der Kriegsparteien. Jamal holte ihn von der Kreuzung und suchte ihn hinter dem Betonklotz zu retten.
700Ballistisch präzis liess General Samia die Schusswinkel und die Schussdistanzen ausmessen. Demnach mass die Entfernung von der vordersten Position im israelischen Wacht- turm bis zur Stelle, an der Muhamed starb, 117,80 Meter. Hinter der Betontonne ergibt das einen Winkel von 42 Grad, hinter dem Muhamed geschützt war. Der geschützte Winkel lag genau dem
701israelischen Stützpunkt gegenüber.101
702Es stellt sich überdies die Frage, weshalb die israelischen Soldaten so lange auf Jamal und Muhamed al-Dura hätten schiessen sollen. Der Tod Muhameds war kein Zufall, war kein Unfall, war kein Missgeschick. Die Schussdistanzen auf der Netzarim- Kreuzung waren zu kurz, die Sicht war zu gut, und die Israeli hielten sich an den Befehl, ausschliesslich Einzelfeuer zu schiessen. Ihre Scharfschützen hätten - so zynisch das tönt - mit ihren Zielfernrohren nicht 45 Minuten gebraucht, um zwei Menschen zu treffen, die hinter einer Betontonne in Todesangst reglos verharrten.
7037,62 und 5,56 Millimeter
704General Samia zog zusätzlich in Erwägung, die israelischen Geschosse hätten den Betonklotz durchschlagen können. Er liess seine Soldaten aus der richtigen Distanz genau auf das Modell schiessen, hinter dem sich Jamal und Muhamed geduckt hatten. Samia wollte wissen, ob die M-l6-Geschosse seiner Scharfschützen den Klotz durchdringen konnten. Das Ergebnis der Schiessversuche war eindeutig: Die israelische Waffe durchschlug die Tonne nicht.102
705Mit den Gewehren ist ein weiteres Rätsel verbunden. Die Palästinenser setzten die AK-47 Kalaschnikow ein.
706Deren Kaliber beträgt 7,62 Millimeter. Die M-l6-Munition der Israeli dagegen misst 5,56 Millimeter. Hätte man im Schifa-Kranken- haus von Gaza, wohin Muhamed gebracht worden war, oder im Spital von Amman, wo Jamal lag, noch eine einzige Kugel gefunden, dann wüssten wir, wer auf die beiden schoss.Aber weder in Gaza noch in Amman waren noch irgendwelche Geschosse zu finden: Die Chirurgen hatten alles Beweismaterial sofort verschwinden lassen.
707Ärzte unterliessen Obduktion
708Überhaupt mutet das Verhalten der arabischen Ärzte seltsam an. Muhamed
709wurde zuerst in Gaza aufgebahrt. Viel Zeit blieb den Pathologen für eine Untersuchung nicht. Muhamed sollte noch am selben Tag als Märtyrer, als Schahid, beerdigt werden. Die tödlichen Schüsse hatten ihn in den Bauch und in die Brust getroffen. An den Einschüssen am linken Bein wäre er vermutlieh nicht gestorben. Für Abed al-Razeh al-Masri, den Chefarzt des Spitals, wäre es leicht gewesen, eine Obduktion vorzunehmen, die Schusskanäle zu vermessen und die inneren Verletzungen zu untersuchen.All das geschah nicht - auch da mit der Begründung: Es ist alles klar, die Israeli brachten Muhamed um.
710Vor dem 30. September hatte Jamal al-
711Dura in Israel beim Baumeister MoscheTaman gearbeitet.Als das israelische Fernsehen die Sequenz von der Netzarim-Kreuzung übertrug, erkannte Taman seinen Arbeiter. Er rief Jamals Frau an und anerbot ihr, ihren Mann nach Tel Aviv in eine Klinik zu bringen, die auf Schussverletzungen spezialisiert ist. Die Palästinensische Autonomiebehörde verbot indessen Jamals Überführung nach Israel. Stattdessen wurde der Überlebende nach Amman geflogen, wo er seinem Arbeitgeber am Telefon bestätigte, die Ärzte hätten aus seinem Körper insgesamt neun Kugeln entfernt, die sie umgehend fortgeworfen hätten.
712Die neun Geschosse deuten an, dass Jamal von Seriefeuer getroffen wurde. Seriefeuer schössen am 30. September nur die Palästinenser.
713«Kameramann des Jahres»
714Ins Bild fügt sich das Verhalten des Kameramanns Talal Abu Rahme. Der Palästinenser verrichtete an der Netzarim-Kreu- zung seine Arbeit nicht als neutraler Berichterstatter. Wie er selber gestand, erfüllte er am wichtigsten Tag seines Lebens «eine heilige Pflicht im Dienst der palästinensischen Sache».
715In Israel und den besetzten Gebieten fahren die einheimischen
716Fernsehequipen und Pressefotografen mitunter allein zu den Brennpunkten der Intifada. Die Bürochefs der grossen Fernsehstationen und Bildagenturen bleiben oft in ihren Studios in Jerusalem undTel Aviv. Das bietet den palästinensischen Kameraleuten und Fotoreportern die Chance, manipulativ zu arbeiten. Sie spannen mit den Drahtziehern der Intifada zusammen und liefern die Bilder, welche die israelischen Soldaten als Unterdrücker und brutale Schläger darstellen.Talal Abu Rahme erfüllte seine Rolle perfekt. Obwohl er einseitig berichtete und die Israeli - nach menschlichem Ermessen zu Unrecht - als Muhameds Mörder hinstellte, erhielt er 2001 den Titel
717«Kameramann des Jahres 2000».
718Was zeigt der gesperrte Film?
719Insgesamt überspielte Abu Rahme sechs Minuten Film von Gaza nach Jerusalem. Frei gegeben wurden nur die 50 Sekunden, auf denen die tödlichen Schüsse fehlen. Die restlichen gut fünf Minuten hält France 2 zurück. Sie könnten mithelfen, die alles entscheidende Frage zu klären:Wer erschoss Muhamed al- Dura? Die ganze Sequenz könnte zeigen, ob es Serie- oder Einzelfeuer war, das die beiden traf. Aber exakt diese Frage beantwortet der frei gegebene Ausschnitt nicht.
720Die Wirkung der 50 Sekunden war
721indessen ungeheuer. Muhameds Todeskampf erschütterte Israel und die arabische Welt. Die Erschütterung übertrug sich auf Europa und die Vereinigten Staaten, wo Israel im Propagandakrieg gleich zu Beginn der zweiten Intifada in Rückstand geriet. Der Filmstreifen mit dem toten Muhamed schadete so nachhaltig, dass Israels Ansehen auf lange Zeit angeschlagen war. Dass es wohl keine israelischen Kugeln waren, die Muhamed töteten, interessierte die Medien nachher nicht mehr - längst jagten sie neuen Geschichten nach.
722Der Märtyrer aller Märtyrer
723Muhamed al-Dura war nun der Märtyrer
724unter den palästinensischen Jugendlichen, die in der Intifada ihr Leben liessen. In den besetzten Gebieten zieren die Graffiti von Jamal und Muhamed die Wände. In Burej gemahnt die ärmliche Gasse, in der Muhamed wohnte, an einen Märtyrer-Tempel. In der ägypti- sehen Stadt Gizeh benannte das Parlament eine Strasse nach Muhamed al-Dura - und wählte dafür die Strasse aus, an der die israelische Botschaft liegt. Dafür, dass Muhamed der Schahid schlechthin wurde, sorgten die Medien, welche die verzerrte Version seines Vaters unbesehen übernahmen und auch dann nicht korrigierten, als alle Indizien dagegen sprachen.103
725Freies Schussfeld
726Eine überzeugende Gegendarstellung gibt die deutsche Fern- seh-Redaktorin Esther Shapira. Sie untersuchte das Geschehen vom 30. September 2000 akribisch. In den Brennpunkt ihrer Erklärung rückt sie die beiden Hochhäuser an der Netzarim- Kreuzung, die am Kampftag von palästinensischen Maschinengewehr-Schützen besetzt worden waren.Vor den Zwillingstürmen breitet sich ein freies Schussfeld aus. Namentlich die Stelle, an der Muhamed und Jamal al-Dura getroffen wurden, liegt ungeschützt im Schussbereich der automatischen Waffen, deren Streufeuer Vater und Sohn leicht treffen konnte.104
727Auch wenn der abschliessende Beweis fehlt, deutet alles darauf hin, dass es arabische Schützen waren, die Muhamed al- Dura töteten. Nur ändert das an der propagandistischen Wirkung, am Schaden, den Talal Abu Rahmes Bilder zu Israels Lasten weltweit anrichteten, nicht mehr viel.
72811 Medienwaffen: Kinder, Frauen und Soldaten
729«Ich winke euch zu, nicht um Abschied zu nehmen, sondern um euch zu bedeuten, dass ihr mir folgen sollt.»105 (Muhamed-al-Dura-Video, Oktober 2000)
730«Zu heiss, zu heiss.»106 (Kim Phuc,
7318.Juni 1972)
732«Die irakischen Soldaten gingen in das Zimmer, in dem Babys in Brutkästen lagen. Sie rissen die Babys aus den Brutkästen, nahmen die Brutkästen mit und Hessen die Babys auf dem kalten Fussboden zurück, wo sie starben.»107 (Nayirah al-Sabah, 10. Oktober 1990)
733Seit Alexander der Grosse seine Schreiber anwies, die Erfolge des makedonischen Heeres gebührend zu verbreiten, suchen Feldherren und Politiker das eigene Volk «unter der Fahne zu halten», die eigene Truppe zu beflügeln, den Gegner in die Irre zu führen und sich selber ruhmreich in den Annalen zu verewigen. Dem Eroberer
734Alexander eilte der Schlachtenruhm voraus - die Soldaten liefen ihm wie von selbst zu.
735Im Gallischen Krieg schrieb Gaius Julius Caesar den Rapport über seine Siege gleich selbst. Er und der Grossneffe Octavian, der spätere Kaiser Augustus, setzten Biographien, Porträts, Statuen und Münzen zum Selbstruhm ein. Ein Grossmeister der Propaganda war Napoleon Bonaparte, der als erster Feldherr Armeezeitungen drucken liess: «Im Krieg gibt die Moral zu drei Vierteln den Ausschlag, das Material zählt nur zu einem Viertel.» Auf dem Höhepunkt seiner Macht befahl er den Redaktoren bis zum letzten Buchstaben,
736worüber, in welchem Ton, Umfang und Inhalt sie zu berichten hatten.
737Zwölf Grundmuster
738Vielfältig sind in der Kunst der Propagandaführung die Sujets. Die Geschichte der psychologischen Operationen (PSYOPS) ist reich an Beispielen, in denen der Gegner angeschwärzt, die eigene Leistung überhöht und die Wahrheit strapaziert wird. Zwölf Grundmuster dienen den Kriegsparteien in ihrem «Kampf um die Herzen und Köpfe».108
7391. Verstösse gegen das Kriegsvölkerrecht: Im Libanon- Krieg von 1982 verteilten israelische Offiziere
740Bilder, die weisse Kisten mit aufgemaltem roten Halbmond zeigten, daneben aber auch offene Kisten mit Artillerie-Granaten. Die Anschuldigung lautete: «Araber missbrauchen Schutzzeichen für Munitionstransport».
7412. Botschaften an Truppen: In den Irak- Kriegen von 1991 und 2003 warfen amerikanische Flugzeuge Handzettel abweiche die irakischen Soldaten zum Überlaufen aufforderten: «Wenn du dein Leben retten willst, verlass deine Stellung und schliess dich den siegreichen Alliierten an.»
7423. Botschaften an Bevölkerung: Im Luftkrieg gegen Rest- Jugoslawien überzog die NATO das serbische Volk
743mit dem Aufruf: «Wir führen Krieg nicht gegen euch, sondern gegen euren Diktator Slobodan Milosevic.» Identisch lauteten die amerikanischen Botschaften 1991 gegen Saddam Hussein, 2001 gegen Osama Bin Laden und 2003 erneut gegen Saddam.
7444. Anschwärzung politischer Führer: In beiden Irak-Krie- gen verbreiteten die amerikanischen PSYOPS-Truppen die Botschaft, Saddam Hussein trinke Alkohol, er esse Schweinefleisch und treibe sich mit fremden Frauen herum. 2001 porträtierte ein Flugblatt einen angeblichen Bin Laden ohne Bart in westlichem Anzug, verbunden mit der Behauptung: «Osama hat sich als
745britischer Geschäftsmann verkleidet und ist geflohen.» Im Zweiten Weltkrieg schwärzte die deutsche Propaganda Wins- ton Churchill stereotyp als Trunkenbold an.
7465. Darstellung der eigenen Überlegenheit: 1991 führten die Amerikaner den Irakern auf Handzetteln drastisch vor Augen, wie ein F-l 17- Tarnkappen-Bomber, ein Abrams- Panzer und ein Apache-Helikopter einen alten T-55 zertrümmern. 2003 zeigten die Sujets zerstörte irakische Flab- Geschütze, Panzer, Kanonen und Schiffe.
7476. Darstellung der eigenen Präzision: 1982 verbreitete die israelische Luftwaffe Bilder aus Beirut, die
748beweisen sollten, wie präzis sie das Hauptquartier Jassir Arafats in einem Stadion bombardiert hatte - ohne Schäden im anliegenden Quartier. Seither brachten die Amerikaner und die NATO Hunderte von Luftbildern und Filmsequenzen in Umlauf, die alle eines belegen sollen: Volltreffer ohne collateral damage.
749Anweisungen und Inszenierungen
750Zu den neueren Mustern zählen eigentliche Anweisungen und raffinierte Inszenierungen, welche die Medien gezielt einsetzen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.
7517. Verhaltensanweisungen an
752militärische Führer: Im Irak-Krieg von 2003 gaben die amerikanische und die britische Führung den irakischen Kommandanten über Radio, Flugblätter und Lautsprecher bekannt, wie sie sich zu ergeben hätten. Direkte Anweisungen erfolgten auch über Mobiltelefon, SMS, Fax und E-Mail.
7538. Gezielte Inszenierungen: Am 27. Mai 1992 töteten Artillerie-Granaten in der belagerten Stadt Sarajevo 20 Menschen, die vor einer Bäckerei für Brot anstanden. Das bosni- sehe Fernsehen filmte die fürchterliche Szene live und beschuldigte die serbischen Belagerer, die Granaten abgefeuert zu haben. Lewis MacKenzie, der kanadische
754Kommandant der UNO-Truppen, äusserte sofort Zweifel an dieser Darstellung: Das TV-Team habe schon vorher in einer Seitengasse auf den Angriff gewartet. Die ballistische Untersuchung ergab, dass die serbische Artillerie von ihren Stellungen auf demTrebevic die enge Strasse vor der Bäckerei gar nicht treffen konnte. Nur von den bosnischen Geschützen aus führten Flugbahnen ins Ziel.
755Gegen Soldaten und Unbeteiligte
756Als häufigster Inhalt der Propagandaführung «bewähren» sich die Anschuldigungen, der Gegner begehe Verbrechen gegen Soldaten und Unbeteiligte. Eine Untersuchung
757bedeutender kriegerischer Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts ergibt, dass diese zentrale «Waffe» durchgehend eingesetzt wurde: im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, in den Indochina-Krie- gen, in allen Nahost-Kriegen, in den neueren Balkan- Kriegen und in den Kriegen am Persischen Golf.
7589. Verbrechen gegen Unbeteiligte: Am 5. Februar 1994 tötete auf dem offenen Markt von Sarajevo ein 120-Millimeter- Geschoss 68 Menschen.Wieder berichtete das bosnische Fernsehen live vom Einschlag, und wieder stellte es die serbische Artillerie an den Pranger. Wie eine kanadisch-französische
759Untersuchung ergab, handelte es sich aber mit aller Wahrscheinlich um eine bosnische Granate.
76010. Verbrechen gegen Kampftruppen: In den Kriegen von 1967 und 1973 warfen sich Israel und Syrien gegenseitig vor, es würden an der Golan-Front keine Gefangenen gemacht: Soldaten, die sich ergeben wollten, würden massakriert. Die Vorwürfe konnten nie gültig belegt werden, erzielten aber Wirkung. Das Verhältnis zwischen Israel und Syrien blieb jahrzehntelang belastet. Demgegenüber ergab sich an der Sinai-
761Front zwischen Israel und Ägypten keine derartige Vergiftung. Das mag dazu beigetragen haben, dass die beiden
762Staaten nach dem Jom-Kippur-Krieg den Weg zum kalten Frieden von Camp David fanden.
76311. Verbrechen gegen Gefangene:Am 12. Oktober 2000 lynchten aufgebrachte Palästinenser im ersten Stock des Polizeigebäudes von Ramallah zwei gefangene Israeli. Die Toten wurden vor der Kamera einer italienischen Fernsehstation in den Hof geworfen.
76412. Verbrechen gegen Frauen und Kinder: Die schärfste Waffe bildet der Vorwurf, der Gegner begehe Verbrechen an Schwachen. Im Ersten Weltkrieg verbreiteten die französische und die britische Propaganda die Mär, deutsche
765Soldaten ässen belgische Frauen und Kinder. Obwohl frei erfunden, verfehlte die verzerrte Darstellung des hässlichen, barbarischen, bösen Deutschen die Wirkung nicht. In Paris war der Deutsche der boche, in London der Hunne.
766Muhamed, Kim Phuc und die Babys von Kuwait
767Es ist kein Zufall, dass von den Jahrhundertbildern gleich mehrere Fotos leidende Kinder zeigen.Von Muhamed al-Dura ist im vorangegangenen Kapitel die Rede. Sein Todeskampf erschütterte die Welt wie die Szene, die der vietnamesische Fotograf Huynh Cong Nick Ut am 8. Juni 1972 am Rande des
768Dorfes Trang Bang aufnahm: Sein unsterbliches Foto zeigt die 9-jährige Kim Phuc, die vor einem Napalm- Angriff der südvietnamesischen Luftwaffe flieht. «Zu heiss, zu heiss», schreit das Kind mit schmerzverzerrtem Gesicht. Der Körper ist verbrannt, die Arme stehen in hilfloser Verzweiflung ab.
769Nick Ut erfasste intuitiv, dass er ein einmaliges Bild eingefangen hatte. Kim Phucs Körper wies zur Hälfte schwere Verbrennungen auf. Nick Ut brachte das Mädchen im Wagen seiner Agentur, der Associated Press, ins 40 Kilometer entfern- te Saigon, wo es die Ärzte retteten. Kim Phuc wurde zur Metapher
770des Krieges. 1972 lag das amerikanische Expeditionskorps schon im Hintertreffen. Kims Bild beschleunigte den Rückzug. Monate lang schwebte das Mädchen zwischen Leben undTod. Es überstand 17 Operationen und kehrte zu seiner Familie zurück. Heute lebt Kim Phuc in Kanada. Sie ist überzeugt davon, dass ihr Bild die Vorstellung vom Krieg veränderte wie kein zweites.
771Vielleicht rüttelte die Szene von Trang Bang die Menschen so innig auf, weil Nick Ut die Aufnahme nicht stellte. Kim Phucs Leiden war echt. Das Foto zeigt die grässliche Fratze des Krieges ungeschützt.
772Unecht war die Inszenierung, welche die
773kuwaitische Diplomatentochter Nayirah al-Sabah am 10. Oktober 1990 vor dem amerikanischen Kongress aufführte, als sie die irakische Armee beschuldigte, in Kuwait Brutkästen geraubt und Babys getötet zu haben. Der Schwindel flog später auf; aber im Senat hatten die Lüge entscheidend dazu beigetragen, dass der Präsident George Bush freie Hand für den ersten Irak-Feldzug erhielt.
774Das Schicksal eines Kindes
775Echt dürfte das Bild sein, das während der Kampagne von 2003 die Vorstellung vieler Menschen vom zweiten Irak- Krieg prägte. Wieder peinigt das Schicksal eines Kindes den Betrachter.
776Im al-Kindi-Spital von Bagdad liegt der 12-jährige Ali Ismail Abbas, der Bauch voller Verbrennungen, die Stümpfe seiner Oberarme einbandagiert. Alis Eltern und sein Bruder seien beim amerikanischen Luftangriff umgekommen, teilte das Krankenhaus mit; aber der verstümmelte Knabe werde überleben.109
77712 Der Tote,
778der keiner war
779«Die Israeli haben in Jenin schon Hunderte umgebrachty10 (Saeb Erakat, 3- April 2002)
780«Wir hören Geschichten von
781Massengräbern, von mehr als 500 Toten.»111 (Ben Wedeman, 4.April 2002)
782«Israel richtet unsere Bürger hin. Unter den Trümmern liegen mehr als 400 Tote.»112 (Palästinensischer Arzt, 4. April 2004)
783«Wir kommen uns vor wie Pizza- Kuriere, die an der Haustür klingeln.»111 (Israelischer Soldat, 8. April 2002)
784«In Jenin gab es kein Massaker.»114 (Human Rights Watch, Mai 2002)
785Am 27. März 2002 sprengte sich ein palästinensischer Suizid- Attentäter in
786der israelischen Küstenstadt Netanya in die Luft. Im Park-Hotel riss er am Pessach-Fest sich und 29 Israeli in den Tod. 172 Hotelgäste wurden verletzt. Zum Attentat bekannte sich die Hamas.
787Am 28. März überfiel ein arabischer Extremist die jüdische Siedlung Elon Moreh östlich von Nablus. Er feuerte mit einem Maschinengewehr auf eine Siedlerfamilie und tötete vier Israeli. Auch für diesen Angriff übernahm die Hamas die Verantwortung.Am 30. März jagte sich erneut ein Selbstmordattentäter in die Luft, diesmal in Tel Aviv. In einem Café an der Kreuzung von Allenby- und Bialik- Strasse verletzte er 30 Israeli.
788Verantwortlich zeichneten die Al-Aksa- Brigaden.
789Am 31. März richtete ein Palästinenser in Haifa ein verheerendes Blutbad an. In der Nähe eines Supermarkts zog er die Sprengladung in einem gut besuchten Restaurant ab. 16 Israeli kamen um, 30 wurden teils lebensgefährlich verletzt. Zur Tat bekannte sich erneut die Hamas.
790Operation Schutzwall
791Ende März befahl Premierminister Ariel Scharon die Operation Schutzwall. Die israelische Armee sollte in Hebron, Bethlehem, Ramallah, Kalkilja, Tulkarem und Jenin die Terrorzellen der Hamas, des Islamischen Jihad und der
792Al-Aksa-Brigaden ausheben. Im Brennpunkt stand dabei das Flüchtlingslager von Jenin, einer Stadt im Norden von SamarÃa, von der aus die Terror-Organisationen die Anschläge an der Mittelmeerküste und in Galiläa gesteuert hatten.
793Während der gesamten Operation galt für die israelischen Truppenverbände die strikte Weisung, Opfer unter der zivilen Bevölkerung seien zu vermeiden. Im Grundbefehl hatte das Oberkommando angeordnet: «Eines der Kriterien für den Erfolg der Operation in den Lagern ist eine möglichst tiefe Zahl an zivilen Opfern.»115
794Verlustreicher Ortskampf
795Die Kommandanten an der Front hielten sich an die Weisung. Sie setzten keine Erdkampfflugzeuge, keine Kampfhelikopter und auch keine Kampfpanzer ein. Sie verzichteten auf Artilleriefeuer und nahmen den mühsamen, gefährlichen Ortskampf durch die engen, verwinkelten Gassen der palästinensischen
796Städte auf sich. «Ich könnte den Auftrag mit einem Pfiff erfüllen», bekannte Didi Yedidya, dessen Bataillon Jenin einnahm, «Feuer frei aus allen Rohren auf das Lager, das hätte genügt. Aber wir verhalten uns anders.»116
797Namentlich in Jenin riskierte der
798örtliche Kommandant viel, weil auch er ein Massaker vermeiden musste und wollte. Das Hauptquartier von Hamas und Islamischem Jihad befand sich mitten im Lager, auf einer Fläche von 80 auf 100 Metern. Die israelischen Truppen kämpften sich Haus um Haus, Gasse um Gasse ins Zentrum vor. «Wir kommen uns vor wie Pizza-Kuriere, die an der Haustür klingeln», klagte ein Soldat am achten Kampftag.
799«Massaker, Massaker»
800Insgesamt verlor die israelische Armee allein in Jenin 23 Soldaten - ein hoher Blutzoll für ein kleines Land. Am 9- April um 5.45 Uhr, kurz vor Abschluss der Operation, geriet eine Gruppe in
801einen Hinterhalt - auf einen Schlag verlor sie 13 Mann. Hätte die Führung Kampfflugzeuge, Kampfhelikopter, Kampfpanzer und Artillerie eingesetzt, wäre die Besetzung von Jenin schneller und für Israel «gnädiger» verlaufen.
802Aber im Kampf um die öffentliche Meinung half den israelischen Streitkräften alle Zurückhaltung nichts. Schon am 3. April verkündete der palästinensische Politiker Saeb Erakat von Jericho aus: «Die Israeli haben in Jenin schon Hunderte umgebracht.» Ben Wedeman, der Reporter von CNN, kolportierte vor Ort, er habe Geschichten von Massengräbern gehört; es gebe schon mehr als 500 Tote.
803Wie immer kamen die obligaten Ärzte und Krankenschwestern zum Zuge, die in den Spitälern in düstersten Farben schilderten, wie grausam Israel wieder wüte. Ein Arzt verstieg sich zur Behauptung: «Die Israeli holen unsere Bürger aus den Häusern. Sie führen sie ab und richten sie hin. Im Lager lie- gen unter den Trümmern schon mehr als 400 Tote.» Und ganz dem Regieplan entsprechend postierten die Verteidiger an den neuralgischen Punkten leere Ambulanzen, die von den Angreifern beseitigt werden mussten. «Nicht einmal auf Krankenwagen nehmen die Israeli Rücksicht», monierte Saeb Erakat beredt.
804Minen und Richtladungen
805Im Flüchtlingslager hatten sich mehrere 100 palästinensische Kämpfer verschanzt, die seit den israelischen Waffenlieferungen von 1994/95 gut gerüstet waren.117 Die meisten Hauseingänge waren vermint, Richtladungen sollten die Angreifer abschrecken. Von den ursprünglich 14'000 Einwohnern des Lagers wurden zu Beginn der Gefechte rund 7000 evakuiert, und vom 2. April befanden sich im Lager nur noch gut 1000 Zivilpersonen, die sich in ihren Häusern verbargen.
806Die Show aller Shows zog die palästinensische Propaganda am 5 April
807ab. Um der Welt dasAusmass des angeblichen Massakers drastisch vor Augen zu führen, trugen junge Männer Tote auf Bahren durch das Stadtzentrum von Jenin - immer dann, wenn die Fernseh-Equipen in der Stadt filmten. Trauerzüge sind immer eindrücklich und finden in den Tagesschauen jeweils prominent Platz.Aber nicht immer sind sie echt.
808Lug und Trug
809Schon am 4. April hatte die israelische Aufklärung begonnen, über Jenin Drohnen einzusetzen. Was eines der unbemannten Luftfahrzeuge aufnahm und zur Bodenstation übermittelte, übertraf
810an Lug und Trug alles, was selbst hart gesottene Propagandisten in Krise und Krieg erlebt hatten.
811Der Film zeigt eine Bahre, um die Bahre herum ein paar Träger - und, auf die Bahre zuschreitend, einen kerngesunden Mann. An der Bahre angekommen, klettert der Mann behende hinauf, dann sitzt er eine Augenblick aufrecht da, dann legt er sich hin und wird mit einer Fahne in den palästinensischen Farben zugedeckt.
812Umringt von der trauernden Menge tragen die Totenwächter den Mann durch die Stadt.Aber die Bahre lastet ihnen so schwer und so schief auf den Schultern, dass der Mann dreimal auf die Strasse
813fällt. Zweimal steigt er wieder auf die Bahre; doch beim dritten Mal wird er so wütend, dass er wegläuft.
814Herdentrieb, Unvermögen - oder Absicht?
815Die israelische Armee stellt den Film rasch ins Internet. Dort kann ihn jeder anschauen, der den Betrug zur Kenntnis nehmen will.Aber nur wenige Medien nehmen von der Gegendarstellung Notiz - die Entlarvung des Spektakels läuft ihren Horrorberichten vom israelischen «Blutbad» zuwider. In der Schweiz bestätigt eine ernsthafte Zeitung die palästinensische Inszenierung in einer sachlichen Reportage .Aber die
816Mehrheit der Medien heizt die «Massaker»-Stimmung weiter an.
817Im Mai veröffentlicht dann die neutrale Menschenrechtsorganisation Human Rights Waich einen gründlichen Untersuchungsbericht zu den Vorgängen in Jenin.118 Selbst die kritischen Wächter aus New York halten fest, dass sich in der palästinensischen Stadt kein Massaker ereignete. Der Rapport spricht von 52 palästinensischen Opfern; davon seien die meisten bewaffnete Kämpfer gewesen. Zu einem identischen Schluss gelangen die Vereinten Nationen, die in ihren Ermittlungen auf l4Tote in der zivilen Bevölkerung kommen, neben 38 Fedayin.
818Beide Meldungen sind den Medien höchstens noch eine Randnotiz wert - wenn sie die Korrekturen überhaupt bringen. Der Bericht von Human Rights Watch verschweigt Fehler im israelischen Vormarsch nicht. Aber er widerlegt die An- schuldigung, Israel habe in Jenin ein Massaker begangen. Daran aber sind die meisten Redaktionen nicht mehr interessiert. Was ist es, das sie so einseitig berichten lässt? Ist es Herdentrieb, Unvermögen - oder böse Absicht?
819Der Terrorist als Lichtgestalt
820Einen Tiefpunkt erreicht die gegen Israel gerichtete Polemik am 22. März 2004. Genau einen Monat nach dem
821fürchterlichen Anschlag auf den Bus Nummer 14 in Jerusalem tötet die israelische Armee den Hamas-Gründer und -Führer Scheich Ahmed Yassin. Ein Helikopter der Luftwaffe trifft bei Tagesanbruch den Wagen des Scheichs.
822Sofort erheben zahlreiche Medien schwere Vorwürfe gegen Israel. Sie beklagen den Tod des Hamas- Vordenkers und stilisieren ihn zur Lichtgestalt empor. Dass auch neutrale Nachrichtendienste Yassin über ein Jahrzehnt lang als einen der vier gefährlichsten Terroristen der Welt eingestuft hatten, wird verschwiegen.119
823Er klettert hinauf.
824
825Er sitzt auf der Bahre ...
826. und wird durch Jenin geführt.
827Das Terror-Zentrum von Jenin. Der «Tote» nähert sich der Bahre.
828Er erreicht die Bahre.
829Die Aufnahme des französischen Senders France 2 zeigt den Todeskampf des 12-jährigen Muhamed al-Dura auf der Netzarim-Kreuzung.
830p ,!«,, .p. 1 ; fW, WWWMTaiBBBj
831The fine exchange in the Netzarim junction] and the death of the Palestinian boy
832Location of j Palestinian father and child I (enlargement) I
833Palestinian posi shooting towards iOF stronghold
834Ipalastinian ihoftitngi
835Israelische Luftaufnahme der Netzarim- Kreuzung während des Gefechts. Im Kreis der Betonklotz, hinter dem Muhamed al-Dura starb.
836
837
838Im Gaza-Streifen, aber auch im Westjordanland zeigen zahlreiche Wandmalereien Muhamed al-Dura und seinen Vater.
839
840 Im Flüchtlingslager von Burej (südlich der Stadt Gaza) verklärt Muha- meds Porträt den Knaben zum Märtyrer.
84127.März 2002,10 Uhr, an einer Kreuzung bei Ramallah: Die israelische Armee entdeckt in einer palästinensischen Ambulanz eine starke Sprengladung. Ein Roboter entfernt 10 Kilogramm Sprengstoff.
842FÜNFTERTEIL Schatten der Vergangenheit
843 13 Stasi, Spiegel, Stern und Süddeutsche
844«Unser Auftrag lautete, Parteien, Organisationen und staatliche Einrichtungen im gegnerischen Lager auszuspähen, irrezuführen und zu destabilisieren.»120 (Herbert Brehmer, 1992)
845«Kein Medienorgan im Westen war für unser Stasi-Material so empfänglich wie der Stern.»121 (Günter Bohnsack, 2001)
846In der Zeit des Kalten Krieges warteten westdeutsche Medien immer wieder mit geheimen Dokumenten auf, die prominente Politiker der Bundesrepublik schwer belasteten. Schon damals vermuteten die Betroffenen, das Belastungsmaterial stamme vom Staatssicherheitsdienst der DDR und sei gefälscht. Aber belegen liess sich der Verdacht nicht.
847Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, und die Deutsche Demokratische Republik brach zusammen. In den Beständen der Stasi fanden die Ermittler Akten auch aus der Abteilung X der Hauptverwaltung A, deren Auftrag gelautet hatte, in der Bundesrepublik die
848Persönlichkeiten zu diskreditieren, die der DDR-Führung nicht genehm waren.
8491992 legten zwei Offiziere aus der Abteilung X offen, wie sie westdeutsche Redaktionen in ihre Kampagnen eingespannt hatten. Günter Bohnsack, ein gelernter DDR-Journalist mit dem Tarnnamen Herbert Buchner, und Herbert Brehmer, ein promovierter Historiker mit dem Alias Günter Grünwald, gaben ihrem Buch den bezeichnenden Titel: «Auftrag Irreführung». Bohnsack und Brehmer hatten in der Abteilung X den Grad eines Oberstleutnants bekleidet. Ihr Buch belegt die Verstrickung führender deutscher Medien in die Stasi-Intrigen
850schonungslos: Mehrere Redaktionen sassen den Lügen aus Ost- Berlin immer wieder willfährig auf.122
851Dennoch ist die Rolle westdeutscher Journalisten bis heute umstritten. Zweifelsfrei steht fest, dass die Stasi alles unternahm, missliebige Politiker zu beschädigen. Kritische Historiker nahmen die Spur nach dem Mauerfall auf und verfolgten sie bis in die Redaktionen der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschriften Stern und Spiegel hinein.123
852Aber wehe, als sie schrieben, in Hamburg und München seien Redaktoren der Stasi auf den Leim gekrochen, gerieten sie selber unter Beschuss.
853Namentlich der Stern klagt Autoren ein, die zu Papier bringen, zwischen der Abteilung X und dem Magazin habe ein zu enges Verhältnis bestanden.
854Der «Abhör-Skandal»
855So lässt sich das spannende Kapitel der Stasi-Desinformation nur behutsam behandeln. Unbestritten ist, dass die Abteilung X mehrmals spektakuläre Erfolge erzielte.
8561975 hörte die Stasi ein Telefongespräch zwischen dem CDU- Vorsitzenden Helmut Kohl und dessen damaligem Generalsekretär Kurt Biedenkopf ab. Die Abteilung X übertrug die Niederschrift auf ein
857gestohlenes Formular aus den Beständen des amerikanischen Abwehrdienstes Military Intelligence Group. Rasch wurde das getürkte Dokument zwei Redaktionen in Hamburg zugestellt, und prompt fand die Fälschung den Weg in die Öffentlichkeit.
858«Die Abhör-Affäre» titelte eine Zeitschrift in fetten Lettern. Der Staatssicherheitsdienst der DDR hatte zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen. Die Fälschung erweckte den Eindruck, Kohl und Biedenkopf seien fürchterlich zerstritten - was beiden schadete. Und gross war die Empörung in der Bundesrepublik, weil der amerikanische Formularkopf suggerierte, die Alliierten
859hörten hinterrücks die Telefonate ihre eigenen Verbündeten ab.
860
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862Strauss am Pranger
863Eine weitere tückische Operation richtete die Abteilung X gegen Franz Josef Strauss, den Vorsitzenden der bayerischen CSU. Die Stasi schnitt im September 1976 ein Telefongespräch mit, das Strauss mit Wilfried Scharnagl, dem Chefredaktor des Bayernkuriers, führte.
864Strauss sollte als Politiker diskreditiert werden, der mit der amerikanischen Flugzeugfirma Lockheed kungelte. Die Stasi wollte den Eindruck erwecken, Lockheed habe den ehemaligen Verteidigungsminister bestochen: Strauss habe sich dafür eingesetzt, dass die Bundeswehr den F-104 Starfighter
865kaufe, nachdem er von Lockheed geschmiert worden sei.
866Strauss und Scharnagl hatten nichts miteinander beredet, was den CSU-Chef hätte belasten können. Das Abhörprotokoll erwies sich als stumpfe Waffe. Da half die Abteilung X nach. Sie fälschte die Aufzeichnung und fügte einen Abschnitt hinzu, wonach Strauss verfügt habe, Lockheed-Akten auszulagern. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte die Fälschung prompt.
867Stoltenberg im Visier
868Im Herbst 1987 nahm die Stasi den Finanzminister Gerhard Stoltenberg ins Visier. Stoltenberg galt als «Ziehvater»
869von Uwe Barschel, dem Ministerpräsidenten von Schleswig- Holstein. Barschel hatte sich in Affären und Lügen verstrickt, als er versucht hatte, vor der Landtagswahl den Herausforderer Björn Engholm anzuschwärzen. Am 11. Oktober 1987 starb Barschel im Genfer Hotel Beau Rivage unter ungeklärten Umständen. Zuerst deuteten alle Indizien auf Selbstmord hin; doch die Angehörigen zogen die Annahme in Zweifel.
870Der Stasi ging es darum, Stoltenberg in den Strudel hineinzuziehen. Die Abteilung X fingierte einen Brief von Barschel an seinen Patron. Der Text erweckte den Eindruck, Stoltenberg habe
871über Barscheis Machenschaften alles gewusst. Was noch fehlte, war Barscheis Unterschrift. Der Stasi besass von vielen deutschen Politikern Originaldokumente. Von einem echten Barschel-Brief nahmen die Fälscher die Signatur ab - so sah dann der getiirkte Hilferuf wie ein echter aus.
872Als Empfänger der Fälschung diente diesmal das Fern- seh-Magazin Panorama. Stoltenberg erstattete Strafanzeige und wollte die Ausstrahlung der Sendung verhindern, in welcher das fingierte Barschel-Schreiben vorkam. Dennoch brachte Panorama den Beitrag mit dem verlogenen Dokument - ein Linguist hatte der Redaktion die
873«Echtheit» bestätigt.
874Der Lübke-Coup
875Einen fast schon historischen Coup landete die Stasi in den Sechzigerjahren, als es ihr gelang, den Bundespräsidenten Heinrich Lübke als «KZ-Baumeister» anzuschwärzen. Führend in der Kampagne gegen Lübke waren die Hamburger Magazine Stern und Spiegel - im Verbund mit den einschlägigen Fernsehstationen.
87614 «Der KZ-Baumeister»
877«Antworten Sie, Herr Lübke!»125 (Stasi-Flugblatt, 1966)
878«Was muss das für ein Staat sein, dessen oberster Repräsentant ein solcher Verbrecher ist.»126 (Neues Deutschland, 16. Oktober 1968)
879«Das Ansehejt Deutschlands leidet Schaden, wenn wir unsere Bereitschaft zur Sühne nicht durch die Tat beweisen.»121 (Heinrich Lübke, 1965)
880Heinrich Lübke wurde am 14. Oktober 1894 im Sauerland geboren. Er studierte Vermessungsingenieur und gehörte 1926 zu den Gründern der Deutschen Bauernschaft, als deren Direktor er bis 1933 fungierte. Als Mitglied der Zentrumspartei war er von 1931 bis 1933 Abgeordneter im Preussischen Landtag. 1933, nach der Machtergreifung
881durch die Nationalsozialisten, verlor er alle Ämter. 1934/35 sass er in Haft.
882Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Lübke als Ingenieur für das private Büro Schlempp, das vom Regime zum Dienst verpflichtet wurde und Bauaufträge für die deutsche Rüstungsindustrie ausführte. 1944 betreute die Gruppe Schlempp eine Aussensteile der Waffenversuchsanstalt Peenemünde und Bauten in Sachsen-Anhalt.
883Auf beiden Baustellen waren Häftlinge aus Konzentrationslagern, ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene beschäftigt. Das Büro Schlempp baute für die Häftlinge Wohnbaracken. Lübke
884war stellvertretender Leiter des Büros und soll am 3. und am 16. September 1944 für ein Barackenlager Bauzeichnungen unterschrieben haben, einmal mit «i.A. Lüb- ke»128, einmal mit «i.V Lübke»129.
8851945 trat Lübke der CDU bei, 1946 wurde er in Nord- rhein-Westfalen Mitglied des Landtags. 1949 gelangte er in den Bundestag, 1953 wurde er Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Am l.Juli 1959 wählte ihn die Bundesversammlung zum Bundespräsidenten, 1964 wurde er für zweite fünf Jahre im Amt bestätigt.
886«Gestapo-Spitzel»
887Die DDR-Presse bezeichnete Lübke bei seiner Wahl als «Vertreter der Grossagrarier und des Monopolkapitals.» Als ihn die Bundesversammlung zum Staatsoberhaupt erkor, suchte die Stasi bereits in den Archiven nach belastendem Material - zunächst ohne Erfolg. Sechs Laufmeter umfassen die Lübke- Akten im Stasi-Archiv, aber viel Belastendes fanden die Propagandisten nicht. Die treibende Kraft war Albert Norden, der seit 1958 als Sekretär des SED-Zentralkomitees für Agitation und Propaganda amtierte. Er heftete Lübke die Begriffe «Ge- stapo-Spitzel» und «Bauleiter in Peenemünde» an.
888Aufwind erhielt Norden, als er der Öffentlichkeit Baupläne vorführte, die nach seiner Aussage Lübkes Unterschrift trugen. Wie Norden im Januar 1966 berichtete, seien in Sach- sen-Anhalt Bauzeichnungen gefunden worden, die Lübke schwer belasteten. Der Bergmann Willi Parade habe das Material 1945 auf dem Dachboden seines Hauses versteckt und die Dokumente 1965 der SED- Leitung des Kreises Stassfurt übergeben. Fortan brandmarkten die DDR-Medien Lübke als «Kriegsverbrecher».
889Als Beweisstücke legte Norden Baupläne vor, die alle entweder Lübkes Unterschrift oder dann seine Paraphe trugen. Brisant war eines der
890Deckblätter, auf dem zu lesen war: «Vorentwurf zur Erstellung eines KZ- Lagers für 2000 Häftlinge der Firma Kalag bei Schacht VI in Neu- Stassfurt».Auf den Plänen selbst fehlte das Wort «Konzentrationslager»; aber das ominöse Deckblatt führte den Begriff «KZ-Lager» ausdrücklich auf. Eine Unterschrift trug das Deckblatt nicht.
891«Verbrecherische Sache»
892Um das Deckblatt entbrannte nun der Streit, den Lübke verlieren musste. Nach Nordens neuer Attacke liess der Bundespräsident über seinen Pressesprecher verbreiten, bei den Dokumenten handle es sich um
893Fotokopien. Auf Kopien könne man Namen und gefälschte Unterschriften leicht hinzufügen, was im Fall der Bauzeichnungen auch geschehen sei.
894Auf Lübkes Dementi hatte Albert Norden gewartet. In einer internen Mitteilung schrieb er: «Dadurch, dass die Echtheit der Unterschriften geleugnet wird, wird ja gerade zugegeben, dass es sich bei den KZ-Entwürfen um eine verbrecherische Sache handelt, sonst würde sich der Pressereferent von Lübke nicht so ins Zeug legen. In dieser Sache muss schnell etwas Spektakuläres geschehen. Beweisen wir durch westlich anerkannte Persönlichkeiten die Echtheit der Unterschriften, können die Folgen
895unabsehbar sein.»130
896Gelehrte streiten sich
897In der Tat suchte die Stasi nun zu belegen, dass Lübke die Pläne unterschrieb.Aber die Schriftgelehrten wurden nicht einig. Norden mobilisierte Experten, die den Bundespräsidenten belasteten, Lübke sorgte für die Gegenmeinung.
898Selbst nach dem heutigen Forschungsstand ist umstritten, ob die Unterschriften echt sind. Rudolf Morsey, der Biograph Heinrich Lübkes, kommt zum Schluss: «Vermutlich waren die Unterschriften und Paraphen Lübkes auf den Barackenzeichnungen und den
899Lichtpausen von Bauzeichnungen zwischen den jeweiligen Aktendeckeln echt, hingegen deren Deck- und Titelblätter - in Schreibmaschinenschrift, ohne Unterschrift - gefälscht.»131
900Hubertus Knabe, der die West-Arbeit der Stasi untersuchte, bestätigt Morseys Einschätzung: «Vermutlich handelte es sich bei dem Material um eine Mischung aus echten und verfälschten Dokumenten.» Fälschungsabsichten habe schon ein ehemaliger Mitarbeiter des tschechoslowakischen Geheimdienstes bezeugt, der nach der Niederschlagung des Pragers Frühlings in den Westen übergelaufen war und von der Fälschung
901seiner ostdeutschen Kollegen berichtete.132
902Papier aus der Nazi-Zeit
903Licht ins Dunkel bringt wieder Günter Bohnsack. Der Stasi- Oberstleutnant bekannte 1992, die Barackenpläne seien so ergänzt worden, «dass sie zweifelsfrei bewiesen, was sie beweisen sollten: dass Lübke einst mitgebaut hatte an den Konzentrationslagern der Nazis». Die Stasi habe die Fälschungen mit erheblicher Sorgfalt vorgenommen.
904Die Deckblätter seien so geschickt bearbeitet worden, dass nicht einmal die Kriminalisten der Berliner Humboldt-
905Universität die Eingriffe erkannt hätten. Für die Deckblätter habe die Stasi eigens Papier aus der Nazi-Zeit besorgt, ebenso eine alte Schreibmaschine. Mit dieser Schreibmaschine habe der Fälscher dann das alles entscheidende Wort «Konzentrationslager» auf das Belastungsmaterial geschrieben.
906Rufmord-Kampagne
907So kann heute angenommen werden, dass die Stasi mindestens einen Teil des Belastungsmaterials fälschte. Von 1966 an lief gegen Heinrich Lübke eine eigentliche Rufmord-Kampagne. Er selber suchte zu retten, was zu retten war. Aber es raste der Sturm, und er wollte sein Opfer haben. Je heftiger
908Lübke dementierte, desto unbedarfter wirkten seine Auftritte. Auch wenn er kein Nationalsozialist war, verlor er zunehmend an Glaubwürdigkeit; und immer stärker wurde er für die Bundesrepublik auch im Ausland zur Last.
909Schemenhafte Erinnerung
910Vergeblich versuchte Lübke, die Angriffe zu ignorieren. Selber besass er keine Unterlagen über seine Arbeit während des Krieges. Er erinnerte sich nur noch schemenhaft an Vorgänge und Namen aus der Kriegszeit und war, wie Morsey schreibt, «nicht in der Lage, mehr oder weniger konkret belegte
911Sachverhalte oder gar Vorwürfe eindeutig zu widerlegen, geschweige denn die Art seiner Kriegstätigkeit überzeugend zu erläutern».
912Walter Schlempp, der Chef des nach ihm benannten Baubüros, bezeugte öffentlich, Lübke sei in der Nazi-Zeit als Regime- Gegner bekannt gewesen. Als Adolf Hitler die Sowjetunion angegriffen habe, sei Lübke laut geworden: «So, jetzt haben wir den Krieg verloren.» Lübke habe Hitler des öfteren als Verbrecher bezeichnet, politisch gefährdete Personen in der Baugruppe untergebracht und sie so der Verhaftung entzogen.133
913Frontalangriff
914So sehr sich Lübkes Freunde für den Angegriffenen einsetzten, so wenig Resonanz fanden sie noch. Den Schlusskampf führten Lübkes Gegner im Revolutionsjahr 1968, in dem der bieder wirkende Bundespräsident als Symbol der Adenauer-Jahre abqualifiziert wurde. Verheerend wirkte das Etikett «KZ-Baumeister», das die Stasi- Propaganda in Umlauf brachte.
915Den politischen Todesstoss versetzten Lübke die Hamburger Wochenmagazine. Der Spiegel stellte Lübke 1968 in neun Ausgaben an den Pranger: am 29. Januar, am 5. Februar, am 4., 11. und 18. März, am 1 .April, am 6. und am 20. Mai
916und dann nochmals am 8. Juli. Parallel dazu griff der Stern Lübke am 28. Januar, am 4. und 25. Februar, am 11. und 17. März sowie am 5. und 12. Mai frontal an.
917Kampagne beendet
918Im Juni 1968 begann der 74-jährige Lübke zu resignieren. Im Herbst dann war er mürbe.Am 14. Oktober gab er bekannt, er werde sein Amt vorzeitig aufgeben.
919Im Propagandakrieg zwischen der DDR und der Bundesrepublik hatte die Stasi ihren bisher grössten Erfolg errungen. Ihre längste, gründlichste und wohl auch perfideste Rufmord-Kampagne war am
920Ziel angelangt. «Was muss das für ein Staat sein, dessen oberster Repräsentant ein solcher Verbrecher ist», frohlockte das Neue Deutschland.
921Am 28. Juni 1969, fast auf den Tag zehn Jahre, nachdem Albert Norden die Suche nach belastendem Material aufgenommen hatte, meldete der Stasi- Oberst Günter Halle seinem Vorgesetzten: «Mit dem Rücktritt des Bundespräsidenten kann die Kampagne als beendet angesehen werden.»134
92215 Die hohe Kunst der Skandalierung
923«In keinem anderen Beruf ist die Kollegenorientierung so intensiv und so schnell wie im Journalismusy35 (Hans
924Mathias Kepplinger)
925«Ich bin entsetzt! Das kann man doch nicht machen!»136 (Peter Alexander, 20. Juni 1995, während der Brent-Spar- AJfäre)
926«Der Diskurs der wechselseitig Empörten.»131 (Hermann Lübbe)
927Jeder Skandal ist anders. Aber alle Skandale sind den gleichen Gesetzen unterworfen. Trefflich umschreibt Professor Hans Mathias Kepplinger die ehernen Gesetzmässigkeiten der Skandale. Kepplinger lehrt an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz Empirische Kommunikationsforschung. Das folgende
928Kapitel beruht auf seinem Buch: Die Kunst der Skandalierung und die Illusion der Wahrheit, erschienen im Jahr 2001.
929Gesetz 1: Umgang mit Ungewissheit
930Am Beginn eines Skandals beurteilen verschiedene Personen den umstrittenen Sachverhalt in aller Regel unterschiedlich. Einige halten den Sachverhalt für einen Missstand, den es anzuprangern gilt; andere sehen das nicht so. Die eine Meinung ist davon überzeugt, dass der Akteur schuldig ist; die andere bestreitet das. Je lauter die Meinungsmacher «Skandal» rufen, desto rascher gleichen sich ihnen die Sichtweisen anderer Menschen an. Ist die Auffassung, es sei ein Skandal
931vorhanden, einmal etabliert, erscheinen Fakten und Deutungen, die dem widersprechen, als fälsch oder irreführend. Dagegen wird alles, was in das Schema Skandal passt, bereitwillig akzeptiert.
932Gesetz 2: Die Etablierung von Schemata
933Im Skandal liegt die Chance der Überzeugungstäter. Die Skan- dalierer sind von der sachlichen Richtigkeit und der moralischen Notwendigkeit ihrer Aktion überzeugt. Sie betrachten ihre Arbeit als Dienst an der Sache, auch wenn die Skandalie- rung auch ihnen dient: ihrem Verdienst, ihrer Laufbahn - und vielleicht ihrem Ruf.
934Der Skandalierer baut seine Anklage schrittweise auf, prägt vernichtende Etiketten («Blutdiamanten», «Stahlhelmfraktion», «Schnüffelstaat», «Lauschangriff») und sucht das Bündnis mit Gleichgesinnten in anderen Medien. Haben sich die Verbündeten einmal gefunden, spielen sie sich - für die Öffentlichkeit kaum erkennbar - die Bälle gegenseitig zu.
935Als die Umweltorganisation Greenpeace im Frühjahr 1995 gegen die Shell AG antrat, etablierten die Skandalierer erfolgreich ihre nachgewiesen falsche Sichtweise zuerst: Sie behaupteten, die Ölplattform Brent Spar enthalte 30 Tonnen radioaktiven Abfall. Das war
936barer Unsinn.
937Aber Shell hatte mit der Wahrheit keine Chance. Diese bestand darin, dass die Plattform ohne Belastung des Meeresbodens hätte versenkt werden können; die Rückstände bestanden zu 90 Prozent aus Sand und zu 10 Prozent aus Rohölrückständen. Die Intensität der Strahlung entsprach derjenigen von Hausfassaden oderTrottoirplatten aus Granit.
938In den deutschen Medien fand Greenpeace Gehör. In der entscheidenden Phase des Konflikts, vom 17. bis zum 22. Juni 1995, entsprachen 93 Prozent aller Aussagen der Sichtweise, die Greenpeace etabliert
939hatte. Shell hatte nicht die geringste Aussicht, die eigene - und wahre - Sichtweise zu verbreiten. Erst lange nach dem Kampf veröffentlichten einzelne Medien die Wahrheit; aber die meisten waren an den Shell-Ver- lautbarungen gar nicht interessiert.
940In Deutschland zog Greenpeace Nutzen aus der Tatsache, dass dort die überwiegende Zahl von Redaktoren dem Umweltschutz einen hohen Stellenwert einräumt. Wie Kepp- linger ermittelte, waren von den Journalisten, die sich selber als «links» einstuften, 86 Prozent der Meinung, der Umweltschutz habe Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen. In der Brent-Spar-Affäre hielten die
941meisten Redaktionen die Grossunternehmung Shell für unglaubwürdig.
942Gesetz 3: Die Dramatisierung des Geschehens
943In jedem Skandal bedienen sich die Skandalierer des Mittels der Dramatisierung. Das treibt den Skandalierten in die Enge und die Quoten und die Auflagen in die Höhe. Kepplinger unterscheidet dabei sechs Typen.
944Erstens Horror-Etiketten. Missstände und Schäden werden mit grellen Etiketten belegt: «Waldsterben», «Giftregen», «Killerbakterien».
945Zweitens Verbrechens-Assoziationen. Sachverhalte werden als kriminell oder unethisch charakterisiert: «Verfassungsbruch», «Blutbad», «Wasserdiebstahl», «Blutordensträger».
946Drittens Super-Gau-Spekulationen. Ungeheure Schäden werden an die Wand gemalt, auch wenn das der Wahrscheinlichkeit widerspricht. Während des Golfkriegs von 1991 prophezeite ein deutsches Nachrichtenmagazin den «nuklearen Winter».
947Viertens Katastrophen-Collagen. Missstände und Schäden werden in eine Reihe mit Extremfällen gestellt. Nach den Aidsviren, dem Rinderwahnsinn und
948der Schweinepest führen die Killerbakterien den finalen Schlag gegen die Menschheit. Wie Aliens, Wesen aus dem Weltraum, fressen die den Homo sapiens in Windeseile auf.
949Fünftens Schuld-Anhäufungen. Kleinere Sachverhalte werden als Serie dargestellt. Es entsteht der Eindruck eines skandalösen Missstandes. Dem sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf lasteten die Medien Gästehaus-, Koch-, Gärtner-, Putzfrauen- und Yacht-Affären an.
950Sechstens optische Übertreibungen. Fotografien und Filme stellen Kundgebungen, Schäden und
951Katastrophen überrissen dar. Nachdem fundamentalistische Fanatiker in Luxor Reisende ermordet hatten, färbten Schweizer Medien auf Bildern blutrot das Wasser, mit dem der Tatort gereinigt worden war.
952Gesetz 4: Herdentrieb und Konsens
953Der Skandal vereint die Gleichgesinnten. In keinem anderen Beruf ist die Kollegenorientierung so intensiv und so schnell wie im Journalismus. Laut Kepplinger gibt es bei jedem Skandal wenige Wortführer, einige Mitläufer, viele Chronisten und kaum Skeptiker.
954Bei den Skandalierern selbst handelt es
955sich in aller Regel um eine Handvoll Journalisten, um mehr nicht. Meist sind es drei, vier Skandalierer,die den Skandal vorantreiben. Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt davon ab, ob es ihnen gelingt, Mitläufer und Chronisten zu gewinnen.
956Bei den Mitläufern handelt es sich um Redaktoren, die keine eigenständigen Recherchen betreiben. Sie stützen sich auf die Berichte der Skandalierer, reichern deren Behauptungen mit Details an und blähen so den Skandal erst richtig auf.
957Die Chronisten wieder bringen keine eigenen Wertungen ein. Doch verleihen ihre Beiträge den Skandalierern
958Glaubwürdigkeit und Gewicht. Sie stellen die Anschuldigungen der
959Skandalierer nicht in Frage. Nicht was wahr ist, ist relevant. Relevant ist, was die Kollegen sagen, schreiben und senden. Es die höchste Form des Herdentriebs; für den Skandalierten kann sie vernichtend sein.
960In fast allen Skandalen treten wenige Skeptiker auf. Sie misstrauen der Sichtweise der Skandalierer, sie stellen deren Anschuldigungen in Frage und bieten neutrale Informationen dar. Bei den Skeptikern handelt es sich um eine Minderheit; in der Medienwelt finden sie kaum Gehör.
961Gesetz 5: Die Zeit der Empörung
962Der Skandal ist die hohe Zeit der Empörung. Nüchterne Skepsis gilt nicht als Tugend, sondern als Uneinsichtigkeit.Wer sich dem Protest nicht anschliesst oder für den Skandalierten einsteht, der wird isoliert und abgestraft.
963Im Skandal geht es vorrangig nicht um die Richtigkeit der Behauptungen, sondern um Emotionen. Die Skandalierer verbinden ihre Vorstellungen mit moralischer Erregung. Aufs Tapet kommt alles, was die Erregung verstärkt und die Empörung verschärft. Der «Diskurs der wechselseitig Empörten» feiert Urständ.
964Sobald die Erregung abgeklungen ist, erinnert man sich zwar noch an das, was man sich vorgestellt hatte, versteht aber nicht mehr, warum man so empört war. Die Medien und ihr Publikum wenden sich einem neuen Skandal zu.
965Gesetz 6: Missstände und Skandale
966Skandale können auf Missständen beruhen, aber nicht alle Missstände führen zu Skandalen. Häufig verlaufen Skandalie- rungen im Sande, weil sich nicht genügend Medien für das Thema interessieren. Kepplinger erinnert an den fehlgeschlagenen Versuch, den deutschen Aussenminister Joschka Fischer an den Pranger zu stellen. Die Skandalierer
967warfen Fischer vor, in seiner Jugend eine politisch motivierte Schlägergruppe angeführt zu haben. Kepplinger erkennt den Grund für den Fehlschlag in der Biographie der Journalisten, die über Fischers Vergangenheit urteilten: «Mehr als die Hälfte der 68er-Generation unter den Journalisten (57 Prozent) hatte an friedlichen Demonstrationen teilgenommen, fast die Hälfte (47 Prozent) hatte Gewalt bei Demonstrationen erlebt, nahezu ein Drittel (31 Prozent) war in der Studentenbewegung aktiv.»
968Umgekehrt verlief die Skandalierung des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl, der anonyme Spender nicht verraten
969wollte. Fast alle Medien, die ihn skandalierten - allen voran der Spiegel, der Stern, die Zeit und die Süddeutsche Zeitung - hatten Kohl seit 1976 nahezu permanent angegriffen.
970Als Kanzler setzte Kohl den NATO- Doppelbeschluss durch, und die deutsche Vereinigung vollzog er gemäss Artikel 23 des Grundgesetzes. Beides hatten die führenden Medien abgelehnt. Kohl überstand die Angriffe auf seine Person mit erkennbarer Verachtung für seiner Kritiker. Als der Spenden- Skandal platzte, bot sich seinen Gegnern die Chance zur Abrechnung.
971Gesetz 7: Umgang mit Nonkonformisten
972Wer sich im Skandal der vorherrschenden Meinung widersetzt, wird mundtot gemacht und ausgegrenzt. Helmut Mancher, der ehemalige Vorsitzende der Nestlé AG, spendete Kohl 500'000 Mark, damit dieser den Schaden beheben konnte, den er angerichtet hatte. Sogleich rief Heide Simonis, die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, die Öffentlichkeit dazu auf, Nestlé-Produkte zu boykottieren.
973Wenn die Skandalierer einen Nonkonformisten isolieren, dann diskreditieren sie ihn moralisch. Es geht weniger darum, dass der «Abweichler» etwas sachlich Falsches sagt; es geht vor
974allem darum, dass er «sich unmöglich benimmt». Die
975Ächtung der Nonkonformisten erstreckt sich auch auf die Medien, die den Skandalierten die Plattform boten, ihre Sichtweise darzulegen.Weil solche Medien geächtet werden, finden die Skandalierten oft kein Organ mehr, in denen sie sich gegen die Anprangerung zur Wehr setzen können.
976Gesetz 8: Das erschütterte Selbstwertgefühl
977Die Skandalierung eines Menschen erschüttert sein Selbstwertgefühl. Sie suggeriert ihm, dass er ein schlechter Mensch sei. Sie zerstört seinen Glauben,
978dass die Welt alles in allem gerecht und wohlwollend ist. Und sie macht ihn durch die Fixierung auf die Angriffe zunehmend handlungsunfähig.
979Je länger die Attacken dauern und je mächtiger die Angreifer auftreten, desto stärker lähmen sie den Skandalierten. Die Attacken blockieren seine Leistungsfähigkeit. Der Angegriffene nimmt Vorwürfe ernst, die er zuvor als unsinnig verworfen hatte. Gleichzeitig wird sein Ansehen in der Öffentlichkeit immer mehr ruiniert.
980Oft verliert der Skandalierte die Kontrolle über sich selbst.Auf sein Erscheinungsbild nach aussen hat er jeden Einfluss verloren. Der unbeirrte
981Trotz, der zuletzt nur noch Fassade war, schlägt in panikartige Unterwerfung um. Der Skandalierte macht das, was die Skandalierer von ihm erwarten: Er gesteht, oft gegen den wahren Sachverhalt, eine Schuld ein.
982Gesetz 9: Die Illusion der Wahrheit
983Ist die Affäre einmal angeheizt und möglichst noch mit einem deftigen Namen versehen, hat die Wahrheit ausgedient. Rechtliche Regeln und die Berufsethik werden ausgeschaltet. Im Skandal werden illegal beschaffte Informationen veröffentlicht. Im Skandal werden Informanten für ihre Aussagen bezahlt. Im Skandal werden anonyme
984Anschuldigungen publiziert. Im Skandal werden Vorwürfe aufgrund der Aussagen ano- nymer Zeugen erhoben. Im Skandal werden vor Abschluss der juristischen Ermittlungen amtliche Schriftstücke abgedruckt. Im Skandal werden harmlose Messwerte ohne Einordnung der Daten zu Alarmmeldungen erhoben; und im Skandal werden Informationen, die der etablierten Sichtweise widersprechen, unterschlagen oder diskreditiert. Auf der Strecke bleibt die Wahrheit.
985Gesetz 10: Das endgültige Urteil
986In einem Rechtsstaat gehört die Möglichkeit, dass ein Verurteilter Berufung einlegt, zu jedem geregelten
987Verfahren. In der Justiz eröffnen die Gerichte dem Verurteilten die Chance der Revision.
988Anders verhält es sich in der Kunst der Skandalierung. Das Medienrecht bietet dem Angeschuldigten keine Chance, sich gegen die Verfemung rechtzeitig zu wehren. Ist das Stadium der Empörung einmal erreicht, hilft ihm kein Gericht. Die Persönlichkeitsrechte sind gegenüber Skandalierern schwach geschützt: In der Regel kommt die Gegenwehr zu spät.
989Im Skandal findet im Unterschied zu einem ordentlichen Rechtsverfahren eine Revision nicht statt. Die Skandalie- rer
990jagen ihr Opfer, bis es erlegt ist. Bis sich Anschuldigungen als falsch oder unhaltbar erweisen, haben sich die Wörtführer längst stillschweigend von der Bühne verabschiedet.
991
992 Heinrich Lübke (hinten links) 1941 in Peenemünde. Vorne Reichsminister Fritz Todt, Oberst Walter Dornberger und General Friedrich Olbricht. Lübke gehörte zur Baugruppe Schlempp.
9931962 in Bonn: General Hans Speidel, Bundespräsident Heinrich Lübke, General Lauris Norstad, der Oberbefehlshaber der NATO, und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss (vorne von links).
994
995 Der Leumani führt
996wi« .In« im M») diu JseUA. I<xwd 4ul di« SdiUchtWoJc - WMa wir n nlmo.
997Das Bundeswehr-Flugblatt wendet sich an die Soldaten der DDR. Zuständig für den Text war das Referat «Psychologische Kampfführung».
998
99915 Januar 1990: Der Sturm auf die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin. In den
1000Archiven wurden Dokumente zu verdeckten Operationen gefunden.
1001
1002In der Zeit des Kalten Krieges verfügte die Bundeswehr-Truppe für Psychologische Verteidigung über erhebliche Mittel. So gelangten Lautsprecher-Wagen, Flugblatt-Ballone, mobile Druckereien und stationäre Rundfunk-Verbände zum Einsatz. Im Bild ein Lautsprecher- Trupp, wie ihn auf amerikanischen Fahrzeugen die US- Streitkräfte nach wie vor einsetzen.
1003SECHSTERTEIL Helvetische Irrungen und Wirrungen
1004 16 Ringier gegen Borer
1005«Was gibt's so Dringendes in Bern? Findet ihr eure Ostereier nicht?»1''* (Thomas Borer, 29 März 2002)
1006«Im selben Moment hält eine Mercedes- Limousine neben dem Fiesta. Die Beifahrertür fliegt auf, die Frau steigt sofort ein. Am Steuer der Limousine sitzt der Schweizer Botschafter, Dr. Thomas Borer- Fielding.»m (Sonntagsblick, 31-
1007März 2002)
1008«Deiss will eine schnelle Darstellung des Sachverhalts.»140 (Ruedi Christen, 31. März 2002)
1009«Am Steuer des Wagens habe ich den Botschafter Dr. Thomas Borer-Fielding erkannt. Der Wagen fuhr wenige Augenblicke später in die Tiefgarage der Botschaft. Nach knapp zwei Stunden verliess Frau Djamile R. das Botschaftsgebäude,»141 (Manfred Neugebauer, 1. April 2002)
1010«Borer ist nicht mehr tragbar.»142 (Claude Frey, 7. April 2002)
1011Am Karfreitag 2002 fliegt Thomas
1012Borer, der Schweizer Botschafter in Berlin, mit seiner Frau Shawne Fielding nach Mauritius. Am Ostersonntag ruft ihn Bernardino Regazzoni an. Regazzoni ist ein persönlicher Mitarbeiter von Aussenminister Joseph Deiss. Er bittet Borer, mit Deiss Verbindung aufzunehmen. Im Scherz fragt Borer Regazzoni, ob sie in Bern die Oster-eier nicht fänden. Im Ernst antwortet Regazzoni, der Sonn-tagsblick habe am Ostersonntag einen Artikel gebracht, über den Deiss mit Borer reden wolle,143
1013
1014Am 31. März erscheint der Sonntagsblick mit der neun Zentimeter
1015hohen Schlagzeile: «Borer und die nackte Frau». Das Titelbild zeigt die 34- jährige Berliner Visagistin Djamile » Rowe in verführerischer Pose und eingeklinkt ein Foto von
1016
1017Thomas Borer.144
1018
1019Sechs Bilder
1020
1021
1022Auf den Seiten 2 bis 5 berichtet der Sonntagsblick in Wort und Bild, Borer habe die Visagistin in der Nacht vom 20. zum 21. März 2002 in der Botschaft empfangen, während Shawne Fielding in Interlaken übernachtet habe. Als Beweis für den angeblichen Besuch von Djamile Rowe bringt der Sonntagsblick sechs zum Teil unscharfe Bilder. Die Fotos zeigen das Gesicht von Frau Rowe in einem dunklen Automobil, dann einen schwarzen Mercedes vor der Schweizer Botschaft, einen roten Ford Fiesta, Frau Rowe stark verschwommen vor der Botschaft und bei ihrem Wagen.
1023Der Text bezieht sich direkt auf den Sicherheitsdienst des Bundeskanzleramtes, das im Berliner Regierungsviertel an die Schweizer Botschaft angrenzt. In der Nacht zum 21. März hätten die Wächter einen roten Fiesta beobachtet: «Gut möglich, dass ihnen der Wagen schon mal aufgefallen ist, weil er nachts auf dem bestbewachten Parkplatz der deutschen Hauptstadt steht.»
1024
1025«Mehrfach vorbestraft»
1026Dann schreibt Alexandra Würzbach, die Verfasserin des Artikels: «Die Videokameras des Kanzleramtes zeichnen alles auf, was in der Umgebung verkehrt. Der Eingang zur Schweizer Botschaft gehört zum Sichtfeld dieser magischen Augen, weil er im Hochsicherheitstrakt der deutschen Politik liegt. Möglich, dass die Kanzler- Schützer sogar überprüft haben, wer der Halter des Fiesta ist. Dann wissen sie, dass der Wagen einem mehrfach vorbestraften Berliner gehört.»
1027
1028Von 0.47 bis 2.34 Uhr
1029Im Kernabschnitt schildert Alexandra Würzbach, was sich nach Mitternacht abgespielt haben soll: «Es ist 0.47 Uhr. Aus dem Fiesta steigt eine junge Frau mit langen dunklen Haaren, sie trägt einen langen, kamelfarbenen Mantel, darunter einen Minirock, dazu kniehohe Stiefel mit Absatz. Im selben Moment hält eine Mercedes-Limousine neben dem Fiesta. Die Beifahrertür fliegt auf, die Frau steigt sofort ein. Am Steuer sitzt der Schweizer Botschafter, Dr. Thomas Borer (44). Wenige Sekunden später verschwindet der schwere Mercedes in der Tiefgarage der Schweizer Botschaft.»
1030Genau eine Stunde und 27 Minuten später, um 2.34 Uhr, habe sich die Tür zur Schweizer Botschaft geöffnet, und die Frau, die zu Borer in den Wagen gestiegen sei, habe das Gebäude verlassen. Im Weiteren zitiert der Sonntagsblick Djamile Rowe mit der Aussage, zwei Wochen zuvor sei es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Frau Rowe und Shawne Fielding gekommen. Djamile Rowe sagt: «Sie hat mich getreten, ich musste zumArzt.»
1031
1032«Aufruhr im Departement»
1033Zum Schluss erwähnt Alexandra Würzbach ausdrücklich die «Affäre des Botschafters», die in Berlin nicht unentdeckt geblieben sei: «Zuletzt wurde immer lauter getuschelt, ob der Botschafter nicht Gefahr laufe, erpressbar zu werden.» Hervorgehoben werden noch einmal die angeblichen Vorstrafen des Mannes, der im Artikel als der Vater des Kindes von Djamile Rowe bezeichnet wird.
1034
1035In einem Kasten berichtet der Sonntagsblick von «Aufruhr im Departement von Aussenminister Joseph Deiss.» Ruedi Christen, der Pressechef des Ministeriums, gibt in einem
1036Interview bekannt, Deiss erwarte von Borer eine schnelle und klare Darstellung des Sachverhalts. Auf die Frage, wie viele Eskapaden sich Borer noch leisten könne, antwortet Christen: «Ob Botschafter Borer in der Ausübung seiner Arbeit irgendwie beeinträchtigt sein könnte, diese Frage muss nun gründlich abgeklärt werden.»
1037Ob in Bern mitten im Osterfrieden Aufruhr herrschte, ist schwer zu sagen. Fest steht, dass Christen von der Absicht des Sonntagsblicks wusste, einen Artikel zu veröffentlichen, ohne dass er Borer informierte. Und fest steht auch, dass Thomas Borer in der Nacht zum 21. März 2002 keinen Damenbesuch hatte.
1038Er war am Abend Gast in der Baden- Württembergi- schen Landesvertretung und fuhr nach 1 Uhr mit seinem Chauffeur in die Botschaft zurück.145
1039Nachweislich falsch
1040An der Geschichte im Sonntagsblick fällt vieles auf, was der Wahrheit widerspricht. Der Artikel insinuiert, Thomas Borer und Djamile Rowe seien von den Kameras des Kanzleramtes beobachtet worden. Das ist nachweislich falsch. Die Überwachungskameras können keine Bilder von der angeblichen Besucherin aufgenommen haben, weil sie ausschliesslich auf den Eingangsbereich des Kanzleramtes gerichtet sind.Was
1041sich vor der Schweizer Botschaft abspielt, wird vom Bundesgrenzschutz nicht aufgezeichnet. In der Nacht zum 21. März 2002 bemerkten die Beamten vor der 30 Meter entfernten Botschaft nichts Besonderes.
1042Als unwahr erwies sich ebenso die Behauptung, der frühere Freund von Djamile Rowe habe mehrere Vorstrafen in seinem Register. Diese Behauptung war von Gewicht, weil sie belegen sollte, dass Botschafter Borer durch sein angebliches Verhältnis mit Djamile Rowe erpressbar geworden sei. Widerlegt wurde ebenso die Behauptung, Shawne Fielding habe Djamile Rowe getreten.
1043Die Bilder im Sonntagsblick waren weder mit dem Namen des Fotografen noch mit einer Agentur-Angabe versehen. Sie stammten nicht von den Kameras des Bundesgrenzschutzes, sondern vom Berliner Fotoreporter Manfred Neugebauer. Er bestätigte Alexandra Würzbachs Geschichte am 1. April in einer eidesstattlichen Erklärung. Neugebauers Bilder beweisen aber überhaupt nichts. Fünf von sechs Aufnahmen sind unscharf. Vor allem aber zeigen sie in keiner Weise Thomas Borer. Unbewiesen bleibt auch, dass der abgebildete Mercedes der Wagen der Botschaft war.
1044Scharfe Kampagne
1045Von Mauritius aus weist Thomas Borer am 1. April auf die Unstimmigkeiten hin, und in Berlin dementiert Djamile Rowe am Ostermontag den Artikel im Sonntagsblick. Am Dienstag fliegt sie nach Zürich, wo sie im Ringier-Haus an der Dufourstrasse empfangen wird Jetzt dementiert sie ihr eigenes Dementi vom Vortag an Eides statt.
1046Der Blick, das Schwesterblatt des Sonntagsblicks, legt nun jeden Tag nach. Die beiden Ringier-Zeitungen führen gegen Borer eine scharfe Kampagne. Am 2. April zitiert der Blick Djamile Rowe, «Thomas Borers nächtliche Besucherin», auf der Front mit der Behauptung: «Er fuhr mich in die
1047Tiefgarage.» Und auf Seite 3 bekräftigt Djamile Rowe: «Er zeigte mir die Botschaft, auch die Privat-Räume.» Illustriert wird die Geschichte mit Bildern aus dem Sonntagsblick.
1048Am 3-April lautet die Schlagzeile, diesmal elf Zentimeter hoch: «Warum sagen Sie nicht die Wahrheit, Herr Borer?» Wieder im Zeitungsinnern folgen wörtlich die eidesstattlichen
1049Erklärungen von Djamile Rowe und Manfred Neugebauer. Beide belasten Borer schwer. Djamile Rowe behauptet: «Hiermit versichere ich, dass ich in der Nacht vom 20. auf den 21. März 2002 gegen Ol .00 Uhr nachts vor dem Gebäude der Schweizer Botschaft in
1050Berlin in ein von Dr. Thomas Borer- Fielding gesteuertes Fahrzeug gestiegen bin.Wir fuhren gemeinsam in die Botschaft. Gegen 02.30 Uhr habe ich das Botschaftsgebäude alleine wieder verlassen.»
1051«Lügen-Botschafter»
1052Am 4. April lautet die Schlagzeile im Blick'. «Herr Borer, Sie lügen». Im Kommentar fordert der Chefredaktor Borers Abberufung: «Thomas Borer ist ein trauriger Narr.» Djamile Rowe doppelt nach: «Immer, wenn Shawne weg war, hatten wir Sex in der Botschaft.» Und erneut unterlegt der Blick die Vorwürfe mit Bildern aus dem
1053Sonntagsblick.
1054Am 5. April nimmt die Jagd politische Dimensionen an. «Antreten!», heisst es auf der Frontseite: «Bundesrat Deiss stellt Botschafter Borer zur Rede». Und auf den Seiten 1 und 3 stempelt das Blatt Borer zum «Lügen-Botschafter»: «So schamlos geht er mit der Wahrheit um.»
1055Rowes Telefonrechnung
1056Auf dem Presseplatz Zürich verhalten sich andere Zeitungen zurückhaltender. Am 2. April fragt die Neue Zürcher Zeitung: «Affäre Borer oder Blick?»'46 Und der Tages-Anzeiger schreibt am 4. April: «Im eskalierenden Streit zwischen Thomas Borer und dem
1057Ringier-Verlag erzählt die mutmassliche Zeugin Djamile R. jeden Tag etwas anderes.»147
1058Bundesrat Joseph Deiss befindet sich noch auf einer Asien-Reise. Im Berner Aussenministerium liegt dem Krisenstab Djamile Rowes Telefonrechnung vor, die vier Anrufe an Thomas Borer belegt.Wie Borer ausführt, dauerten dreiTelefo- nate lediglich fünf Sekunden, weil der Botschafter jedes Mal darauf hinwies, er habe jetzt keine Zeit, und das Gespräch beendete. Das vierte Telefonat ging unwesentlich länger und war inhaltlich belanglos.148
1059Anzumerken ist, dass der Krisenstab in Bern Djamile Ro- wes Telefonrechnung
1060über die Redaktion des Blicks erhielt.149 Das Aussenministerium unternahm Nachforschungen auch beim Personal der Botschaft in Berlin. Botschafter Borers Fahrer und das Hausmädchen bezeugten übereinstimmend, Thomas Borer habe in der Nacht zum 21. März 2002 keinen Damenbesuch empfangen.150
1061Chefredaktor verneint Honorarzahlung
1062Am 5. April widmet die Fernsehsendung Arena ihre Wochendiskussion dem Streit zwischen Ringer und Borer. Der Aargau- er Ständerat Maximilian Reimann sucht Botschafter Borer den Rücken zu stärken. Er wird gefragt, ob
1063Borer abberufen werden solle, und antwortet: «In keiner Art und Weise. In den Augen der Aussenpolitischen Kommission wird er gemessen an seinen Taten. Ich hoffe, dass diese Krise den Botschafter in Berlin noch stärken wird.»
1064Reimann deutet an, vielleicht werde Djamile Rowe bezahlt. Der Chefredaktor des Blicks verneint das: «Warum macht jetzt der Herr Reimann wieder so eine bösartige Unterstellung und spricht von Checkbuchjournalismus, wenn wir gesagt haben, es ist kein Geld hin- und hergeschoben worden? Warum machen Sie jetzt das? Warum kommen sie jetzt als ehrenwerter Politiker und
1065hebeln hier noch mal mit Gerüchten herum? Das geht doch nicht!»
1066Borer wird vom Chefredaktor scharf angegriffen: «Kümmert euch doch mal weniger um das arme Opfer Borer als um das, was er gesagt hat in dieser ganzen Affäre! Lesen Sie das mal nach, und fragen sie sich, ob das vielleicht die Amtsführung von diesem Botschafter, wie ihr sagt, der wichtigste Botschafterposten auf der Welt, ob das die Amtsführung nicht beeinträchtigt! Ihr macht ja förmlich ein Plädoyer für einen Boulevardbotschafter! Wollt ihr noch mehr Borers auf dieser Welt? Dann werden wir vielleicht ein ganzes Tollhaus!»
1067Vom 7.April an überstürzen sich die Ereignisse. Bundesrat Deiss kehrt in die Schweiz zurück. Die Sonntagszeitimg, zusammen mit der neu lancierten NZZ am Sonntag ein Konkurrenzprodukt zum Sonntagsblick, wirft demAussenministe- rium vor, es habe Borer in die Falle tappen lassen. Im Zürcher Privatsender Radio 24 verlangt der Neuenburger Nationalrat Claude Frey scharfe Massnahmen: «Borer ist nicht mehr tragbar. Es wäre das Beste, wenn er sich einen Job in der Privatwirtschaft sucht.»
1068«Treten Sie zurück!»
1069In Bern verschärft sich die Krise, als die deutsche Illustrierte Bunte dem Kampf zwischen Ringier und Borer eine
1070internationale Dimension verleiht.Auch die Bunte hat Djamile Rowe interviewt. Ihre Behauptungen fallen noch deftiger aus als ihre Aussagen gegenüber der Ringier-Presse. Als Vorabdruck gelangt das Interview zum Krisenstab - noch bevor es in der Zeitschrift erscheint.
1071Am 8. April erleidet Shawne Fielding auf Mauritius eine Fehlgeburt. Zum entscheidenden Gespräch zwischen Bundesrat Deiss und Botschafter Borer kommt es am 9. April in den Abendstunden. «Treten Sie zurück», fordert der Aussenminister den Diplomaten am Telefon auf. «Ich lasse Sie dann noch drei Monate in Berlin, damit Sie alles abwickeln können;
1072anschliessend bekommen Sie einen schönen Posten im Ausland.»
1073Borer wehrt sich, erinnert an seine Unschuld und lehnt das Angebot des Aussenministers ab: «Warum sollte ich zurücktreten? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich lasse mir mein Leben nicht von der Boulevardpresse diktieren, und das Schweizer Volk würde es sicherlich nicht goutieren, wenn sich der Bundesrat sein Handeln von den Medien vorschreiben liesse.»
1074Deiss erwidert, er lasse sich sein Handeln nicht von Rin- gier diktieren. Borers Stellung in Deutschland sei aber unhaltbar geworden: «Sie können die
1075Interessen der Schweiz nicht mehr mit Würde vertreten.»
1076Abberufung auf Ende April
1077Borer kontert, die deutsche Presse stehe überwiegend auf seiner Seite und halte die Kampagne für widerwärtig. Der Bundesrat würde die Schweiz durch eine Abberufung in Deutschland lächerlich machen.
1078Nun droht Deiss Borer mit der Absetzung Ende Juni. Borer bietet Deiss ein letztes Gentlemen's Agreement an: «Sie stärken mir jetzt den Rücken, und ich scheide im Herbst, wenn sich die Wögen geglättet haben, freiwillig aus dem diplomatischen Korps aus.» Wie
1079Borer schreibt, hätten so beide, der Aus- senminister und sein Botschafter, die Arena erhobenen Hauptes verlassen können.161
1080Aber Deiss reagiert unwirsch. Er macht Borer klar, dass der Entscheid gefallen sei:Wenn Borer nicht freiwillig zurücktrete, dann werde er, Deiss, den Botschafter rasch aus Berlin abberufen und ihm einen Posten in Bern zuweisen. Doch Borer bleibt hart, worauf ihm Deiss mitteilt, er werde ihn auf Ende April aus Deutschland abziehen.
1081«Die Party ist aus»
1082So beschliesst es am 10. April der einstimmige Bundesrat. Am 11. April
1083titelt der Blick: «Die Party ist aus!» Die Kommentar- Überschrift lautet: «Borer drehte durch - Deiss hat geführt.» Der Chefredaktor wiederum titelt: «Hochmut kommt vor dem
1084Fall». Bundesrat Deiss erklärt in einem Interview: «Herr Borer schlug meine Hand aus.» Und ausdrücklich weiss der Blick zu berichten: «Politiker begrüssen Borers Abberufung».
1085Thomas Borer und Shawne Fielding fliegen am 12.April nach Berlin zurück. In den letzten Apriltagen unterbreitet das Aussenministerium Borer einen Vorschlag; es offeriert ihm den Posten eines Chefs für internationale Verhandlungen im Botschafterrang.
1086Borer selbst bezeichnet dieses Angebot als fair.
1087Einseitige Willenserklärung
1088Dennoch kündigt Borer am 27. April per Fax. Der Presse übergibt er die Erklärung: «Ich beende meine diplomatische Karriere. Berufliche und persönliche Gründe machen diesen Schritt unumgänglich, darunter insbesondere der offensichtliche, gut dokumentierte Mangel an Unterstützung und Loyalität durch mein Aussenministerium in der zurückliegenden Auseinandersetzung.»
1089Darauf ersucht Bundesrat seinen Generalsekretär Thomas Litscher, er
1090solle Borer kündigen. Peter Bratschi, Borers Anwalt, erinnert Litscher daran, dass eine Kündigung eine einseitige Willenserklärung darstellt, die man weder zurückweisen noch seinerseits mit einer Entlassung erwidern kann.
109117 Der Bilderstreit
1092«Das Gesicht der Frau sieht so aus, als wäre es vor dem vertikalen Balken, was physikalisch unmöglich ist.»1''2 (Murat Kunt, 30. April 2002)
1093«Ich habe Mühe, an die Echtheit zu glauben, viele Indizien sprechen dagegen, aber wir können nichts hundertprozentig beweisen, da wir das Original nicht haben.»TM (Bert Müller,
109430. April 2002)
1095«Blick und Sonntagsblick arbeiten weder mit gefälschten Bildern noch mit faulen Geschichten,»154 (Blick, 5. April 2004)
1096Kaum hat Thomas Borer gekündigt, entbrennt in der Schweiz der Bilderstreit.Am 30.April schreibt der Tages-Anzeiger, eine von Neugebauers Fotografien sei «sehr wahrscheinlich eine Fälschung». Heftig umstritten ist die Aufnahme, die Djamile Ro- wes Gesicht in einem schwarzen Mercedes zeigt. Der Tages- Anzeiger lässt fünf Experten zu Wort kommen, die alle die Echtheit des Bildes anzweifeln, ohne dass sie abschliessend urteilen wollen.155 Die
1097fünf Kenner der Digitalfotografie sind:
1098Professor Murat Kunt, der Direktor des Signal Processing Institute an der ETH Lausanne;
1099Bert Müller, Privatdozent am Institut für Bildverarbeitung an der ETH Zürich;
1100Rob J. Hall, Spezialist für Software bei der Systemfirma TopixAG;
1101Michael Gradias, der als Autor Fachbücher zur Bildbearbeitung veröffentlicht;
1102und Markus Näf, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung der Gretag Imaging AG.
1103Erhebliche Bedenken
1104Nachforschungen stellt in Berlin auch Bernd Lammel an, der Landesvorsitzende beim Fachausschuss Bildjournalisten des Deutschen Journalistenverbandes. Lammel lässt die Szene nachstellen, die sein Kollege Manfred Neugebauer vor der Schweizer Botschaft aufgenommen haben will. Ein schwarzer Mercedes 500 fährt vor und hält kurz vor der Garageneinfahrt an. Auf dem Beifahrersitz simuliert eine schwarzhaarige Frau Djamile Rowe.156
1105Lammel hat sich eine Canon- Digitalkamera besorgt, wie sie Neugebauer benutzte. Er will wissen, ob Neugebauer fototechnisch die
1106Aufnahmen so erstellen konnte, wie sie im Sonntagsblick erschienen. Beim Mercedes handelt es sich um den Wagen von Thomas Borer, der das Fahrzeug für Lammeis Versuch zur Verfügung stellt. Auch Lammel äussert nachher erhebliche Zweifel an der Echtheit des Bildes, das Djamile Rowe im Automobil zeigt.
1107Zweifel 1: Die Stellung
1108Seltsam starr wirkt das Gesicht der angeblichen Botschaftsbe- sucherin. Borers Mercedes hat stark getönte Scheiben. Durch das so genannte «Mafia-Glas» sind Menschen nicht einmal bei Tageslicht zu erkennen, geschweige denn mitten in der Nacht.
1109Wird die Beifahrertüre geöffnet, geht lediglich an der Autotür ein Lämpchen an, dass den Fahrer und die Person auf dem Beifahrersitz nicht beleuchtet.
1110Wie Neugebauer Botschafter Borer aus Distanz durch die getönten Scheiben hätte erkennen können, ist schleierhaft.
1111Noch zweifelhafter ist der Lichteinfall auf Djamile Rowes Gesicht. Borers Mercedes hat eine kleine Kartenleselampe, die den Beifahrer oder die Beifahrerin nicht anstrahlt. Damit das Gesicht der zweiten Person beleuchtet wird, muss diese fast unmögliche Verrenkungen vornehmen. Auf Neugebauers Foto erscheint Djamile Rowe in hellstem Licht.
1112Professor Kunt schreibt dazu, das Licht, das auf Djamile Rowes Gesicht falle, komme frontal von einem Punkt, der sich sehr wahrscheinlich ausserhalb des Wagens befunden habe. Und Michael Gradias vermutet, beim Bild der Frau handle es sich um eine Studio- Aufnahme.
1113Zweifel 2: Der Wagen
1114Wohl zeigt Neugebauers Foto einen schwarzen Mercedes, wie ihn Botschafter Borer besass. Doch wie Borer zu Recht schreibt, zeigt im Sonntagsblick keine der sechs Aufnahmen das Nummernschild des Wagens, «und schwarze Modelle fahren
1115in Berlin zu Tausenden herum».157
1116Wie Lammel nachweist, wäre es für Neugebauer ein Leichtes gewesen, die Nummer von Borers Automobil aufzunehmen, sei es von vorne oder von hinten. Ebenso hätte Neugebauer die Schilder von Djamile Rowes Ford Fiesta gut fotografieren können. Wie Oliver Zihlmann und Philippe Pfister in ihrem Borer-Buch anmerken, hätten sich bei der Perspektive, die der jB/i'cfe- Fotograf einnahm, solche Bilder «geradezu aufgedrängt».158
1117Zweifel 3: Der Pfosten
1118Auf Neugebauers umstrittenem Bild ragt Djamile Rowes Gesicht in einen
1119vertikalen braunen Holzpfosten hinein. Rob J. Hall brachte das Gesicht, den Pfosten und das linke Vorderrad des Mercedes in Verbindung: «Vergleicht man das Gesicht mit dem darunter stehenden Rad, so wirkt das Gesicht zu wenig stark verdeckt und zu scharf.» Professor Kunt urteilt noch härter: «Das Gesicht der Frau sieht so aus, als wäre es vor dem vertikalen Balken, was physikalisch unmöglich ist.» Gradias sagt im Tages-Anzeiger: «Ich wüsste auch nach intensiven Recherchen keine Gründe, die die Echtheit des Bildes belegen. Es ist eine laienhafte Fälschung. Das würde ich auch vor Gericht bezeugen.»
1120Zweifel 4: Die Unschärfe
1121Dubios mutet schliesslich der Gegensatz zwischen Djamile Rowes scharf aufgenommenem Gesicht und dem verschwommenen Mercedes an.
1122Das Automobil ist verwackelt, die Frau nicht. Kunt analysiert: «Sehr wahrscheinlich bewegte sich die Kamera während der Belichtungszeit, ganz im Gegensatz zum Gesicht der Frau, das keine Bewegung hat und scharf ist.» Bert Müller hält fest, die Unterkante des Gesichts sehe künstlich aus. Und Rob J. Hall urteilt: «Das Auto weist eine Bewegungsunschärfe auf, die im Gesicht nicht nachvollziehbar ist.»
1123Gesamthaft äussern alle fünf Gutachter substanzielle Zweifel an der Echtheit des Bildes. Markus Näf kommt zum Schluss: «Ausgehend von allen Indizien neige ich dazu, dass das Foto nicht echt ist.» Rob J. Hall schreibt: «Es ist meine persönliche Meinung, dass das Gesicht in das Bild hineinmontiert wurde.» Und Bert Müller fasst zusammen: «Ich habe Mühe, an die Echtheit zu glauben, viele Indizien sprechen dagegen, aber wir können nichts hundertprozentig beweisen, da wir das Original nicht haben.»
1124Anzumerken ist, dass die fünf Fachmänner übereinstimmend bekunden, ein vollkommen sicherer
1125Fälschungsnachweis sei bei Digitalbildem nicht machbar.
1126Zu reden gibt sodann das Fehlen des Originals. Aus unerfindlichen Gründen fehlt sogar die Datumsignatur. Als Verena
1127Vonarburg vom Tages-Anzeiger den Fotografen Neugebauer fragt, ob er die Originale nicht als Beweismaterial hätte aufbewahren müssen, entgegnet der Berliner: «Muss ich überhaupt nicht. Ich sehe nicht ein, dass ich meinen Computer mit irgendwelchen Bildern voll lade. Der Ausschuss geht in den Papierkorb.»
1128Neugebauer verteidigt Bilder...
1129Überhaupt verteidigt sich Neugebauer vehement. Gegenüber Verena Vonarburg besteht er darauf, seine Aufnahmen seien echt: «Ich schick doch kein gefälschtes Bild durch die Gegend, das kann ich mir überhaupt nicht leisten.» Zu den Vorwürfen der fünf Digital-Experten sagt er: «Darüber kann ich mich nur totlachen.»
1130Selbst auf die letzte kritische Frage weiss Neugebauer eine Antwort. Seine Kamera ist eine moderne Canon 1-D, die in der Sekunde acht BÜder aufnehmen kann. Warum hat er dann nur ein Bild vom Mercedes, und erst noch ohne Borer? «Ich bin kein Superpaparazzo. Vielleicht hatte ich die Kamera auf
1131Einzelbildschaltung eingestellt.»159
1132... und Ringier verteidigt Neugebauer
1133Von Anfang an verteidigt Ringier die Echtheit der Bilder. Schon in der Osterwoche kommen Zweifel an Neugebauers Aufnahmen an. Aber am 5. April schreibt der Blick in einem Kasten ohne Autorenzeichen: «Wenn einem zum Text nichts mehr einfällt, geht man aufs Bild los. An dieser Unterstellung ist nichts wahr. Blick und Sonntagsblick arbeiten weder mit gefälschten Bildern noch mit faulen Geschichten.»
1134Als die Vorwürfe, die Bilder seien getürkt, nicht verstummen, gibt Ringier eine eigene Expertise in Auftrag. Die
1135neutrale Prolabor AG soll die Echtheit der Bilder unabhängig von den bisher veröffentlichten Expertenmeinungen ab- klären. Die Prolabor AG ist eine private kriminaltechnische Dienstleistungsfirma in Kloten und geniesst einen guten Ruf. Sie untersucht die Compact Disc, die Manfred Neugebauer an die Redaktion des Sonntagsblicks übermittelte. Doch Marcel Widmer, der Chef der Prolabor, wird seine Schlüsse für sich behalten - das Ergebnis seiner Untersuchung wird nicht veröffentlicht.160
1136Weshalb fehlt Borer?
1137So steht im Bilderstreit Aussage gegen Aussage. Relevant ist das fototechnische Pro und Contra indessen nicht. Letztlich
1138hätten die Aufnahmen nur gezählt, wenn Botschafter Borer auf ihnen klar und deutlich erschienen wäre. Davon aber ist keine Spur: Auf keinem der sechs Bilder ist Thomas Borer auch nur andeutungsweise zu sehen.
1139Und damit bleibt die Frage unbeantwortet, weshalb Manfred Neugebauer ausgerechnet Borer, um den es dem Sonntagsblick ja ging, nicht vor die Kamera bekam.
114018 Borer gegen Ringier
1141«Ich bin zu keinem Zeitpunkt in einem Bot- schaftswagen von Herrn Dr. Thomas Borer in die Schweizer Botschaft gefahren.»161 (Djamile
1142Rowe, 4. Juli 2002)
1143«Ringier hatte sich wohl zu sehr auf die eidesstattliche Aussage von Frau Rowe verlassen, welche bekanntlich von ihr in der gleichen Form widerrufen ivurde.Dies war ein Fehler.»m (Michael Ringier, 14.Jidi 2002)
1144«Wegen der Kampagnen des Zürcher Medienhauses gegen mich hätte das Departement alarmiert sein müssen. Zumindest hätte man mich informieren sollen.»m (Thomas Borer, 3- April 2003)
1145Anfang Mai 2002 bezieht Thomas Borer die Villa Kampffmeyer in Potsdam. Er wird selbstständiger
1146Unternehmensberater. Den Kampf gegen den Ringier-Verlag nimmt er zusammen mit Peter Bratschi, dem Berliner Anwalt Andreas Schulz und dem Hamburger Professor Matthias Prinz auf.
1147Schulz nennt die Operation gegen Ringier «Cross Return». Cross Return ist im Tennis ein gefürchteter Rückhand- schlag, mit dem der Gegner in eigener Bedrängnis überwunden wird. Der Verleger Michael Ringier liebt den Tennissport - auf diese seine Leidenschaft spielt das Codewort an.
1148Borers Strategie richtet sich in der ersten Phase auf Djamile Rowe, die ihre Anschuldigungen widerrufen soll. In einer zweiten Phase soll Ringier unter
1149Druck gesetzt werden. Shaw- ne Fielding, Borers amerikanische Frau, erlitt auf Mauritius eine Fehlgeburt; geplant ist eine Schadenersatzklage gegen Ringier in denVereinigten Staaten. In der dritten Phase schliesslich soll Ringier freiwillig bezahlen.
1150Das Schaubild
1151Schulz erstellt in seiner Berliner Kanzlei eine grosse Schauwand, an die er die Bilder der Beteiligten hängt. Aus dem Schweizer Aussenministerium prangt gross ein Porträt von Bundesrat Joseph Deiss an der Wand - und klein eine Fotografie von Pressechef Ruedi Christen. Gut vertreten ist der Rin- gier-
1152Konzern. Erkennbar sind:
1153Der Verleger Michael Ringier, seine Frau Ellen und Uli Sigg, der Präsident des Verwaltungsrates;
1154Frank A. Meyer, der Chefpublizist; Bernhard Weissberg, Mitglied der Konzernleitung; und Fridolin Luchsinger, der Konzernsprecher;
1155Mathias Nolte, der Chefredaktor des Sonntagsblicks, Ralph Grosse-Bley, dessen Stellvertreter und Textchef; und Alexandra Würzbach, die Verfasserin des Artikels vom 31. März 2002, die mit Grosse-Bley verheiratet ist;
1156Djamile Rowe,Ringiers einzige Zeugin,
1157und der Fotograf Manfred Neugebauer;
1158und Jürg Lehmann, der Chefredaktor des Blicks, der am 4. April 2002 Borers Abberufung aus Berlin verlangt hatte.
1159Der Widerruf
1160Ihr erstes Ziel erreicht die Operation «Cross Return» am 4. Juli 2002: In Berlin widerruft Djamile Rowe ihre Anschuldigungen an Thomas Borer vollumfänglich. Sie gibt an Eides statt: «Ich habe zu keinem Zeitpunkt eine sexuelle Beziehung mit Herrn Dr. Borer gehabt. Ich bin zu keinem Zeitpunkt in einem Bot- schaftswagen von Herrn Dr. Thomas Borer in die Schweizer Botschaft gefahren.» Ebenso nimmt
1161Djamile Rowe in ihrer Erklärung Bezug auf die Nacht vom 20. zum 21. März 2002, in der sie sich weder vor noch in der Botschaft aufgehalten habe.Aus- drücklich dementiert sie die Veröffentlichungen im Blick und im Sonntagsblick über eine Beziehung zu Thomas Borer «mit den diesbezüglichen Detailangaben (Verabredungen, Häufigkeit der Treffen und die Trefforte, Vorlieben etc.).»
1162Ringier unter Druck
1163Ebenfalls am 4. Juli wird in Berlin ein Video-Band aufgezeichnet, auf dem Djamile Rowe erscheint. Wegen einer Nasenoperation trägt sie eine Gesichtsmaske. Ihre früheren Aussagen
1164erklärt sie wie folgt: «Da ich durch den enormen psychischen Druck, den Würzbach, Michael Ringier und dessen Mitarbeiter auf mich ausübten, für mich keinen anderen Ausweg mehr sah, und aufgrund des hohen angebotenen Geldbetrages, willigte ich schliesslich ein, Blick und Sonntagsblick bei ihrer unwahren Geschichte zur Verfügung zu stehen.»164
1165In der Schweiz schlagen der Widerruf und die Erklärung wie eine Bombe ein. Ringier erleidet einen schweren Rückschlag. Erstens verlieren der Sonntagsblick und der Blick die einzige Zeugin, die ihre Anschuldigungen stützte. Neugebauers Bildmaterial enthält keinen
1166einzigen Beweis gegen Borer, und auch sonst kann Ringier seit dem 31. März keinen zweiten Belastungszeugen beibringen. Djamile Rowe war die einzige Person, die Borer belastete.
1167Glaubwürdigkeit erschüttert
1168Nun erweist sie sich - in der einen oder anderen Form - als zweifelhafte Zeugin.Von ein und derselben Person liegen zwei eidesstattliche Erklärungen vor, die sich diametral widersprechen. Die Glaubwürdigkeit der Kronzeugin ist angeschlagen:
1169Was soll man von Djamile Rowe noch halten? Am 2.April gibt sie an Eides statt, sie sei von Botschafter Borer
1170nachts in die Garage der Schweizer Botschaft gefahren worden - und am 4.Juli nimmt sie, wieder unter Eid, das Ganze ohne die geringste Einschränkung zurück.
1171"lO'OOO Euro Honorar
1172Zweitens sagt Djamile Rowe aus, es sei ihr ein hoher Geldbetrag angeboten worden.Wie sich herausstellt, empfing sie von Ringier lO'OOO Euro. Damit erweist sich die Aussage, die in der .Arena-Sendung vom 5. April gemacht wurde, als unwahr. Die lO'OOO Euro erschüttern die Glaubwürdigkeit des Ringier-Ver- lages direkt.
1173In der Schweizer Presse gerät der
1174Ringier-Konzern unter Druck. «Die Kronzeugin setzt alle matt», schreibt das Magazin Facts. In Anlehnung an den Titel «Lügen-Botschafter» nennt die Basler Zeitung Michael Ringier einen «Lügen-Verleger». Obwohl Michael Ringier in der ganzen Affäre die Wahrheit sagt, urteilt die Zeitung: «Ringier sieht sich nun selbst der Perversion der Boulevard-Justiz ausgesetzt. Der Angeschwärzte muss seine Unschuld beweisen. Das Mitleid hält sich bei Ringier in noch engeren Grenzen als bei Borer.»
1175Mit dem Rücken zur Wand
1176Der Tages-Anzeiger spricht von der Wende im Fall Borer/- Ringier, die
1177Neue Zürcher Zeitung diagnostiziert den Totalschaden auf dem Ringier- Boulevard. Die Berner Zeitung schreibt: «Die von Sonntagsblick und Blick in degoutanter Art und Weise ins Rollen gebrachte Affäre um den angeblich untreuen Ex-Botschafter Thomas Borer reitet Ringier immer tiefer in den Boulevard-Sumpf. Ringier steht mit dem Rücken zur Wand.» Die Südostschweiz erkennt in der Affäre ein Lehrstück für Medien: «Wo sich diese auf Quellen von der Qualität einer
1178Djamile Rowe stützen, die morgen vielleicht auch behaupten würde, sie habe auf dem Mond einen Marsmenschen getroffen, müssen sie
1179damit rechnen, dass der journalistische Super- GAU eintreffen könnte.»
1180Selbst deutsche Medien registrieren die Wende. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung setzt den Titel «Rufmord» und mutmasst: «Die Affäre des Thomas Borer war offenbar erfunden.» Dazu schreibt in Zürich die Weltwoche, vernichtender könne man über Journalisten nicht urteilen.
1181Unter falschem Vorwand
1182Eine weitere Hiobsbotschaft erreicht Ringier, als Radio DRS 1 meldet, die Korrespondentin Alexandra Würzbach habe im März die anzüglichen Bilder von Djamile Rowe unter falschem
1183Vorwand beschafft. Würzbach und Neugebauer fuhren damals zum Archiv der Zeitschrift Super-Illu, wo die Reporterin erklärte, sie schreibe eine Reportage über Ostdeutschland.Würz- bach bezahlte für die Bilder 150 Euro, und Neugebauer fotografierte die Rowe- Aufnahmen ab Printvorlage.
1184Nachdem der Sonntagsblick eines der Bilder veröffentlicht hatte, verlangte die Super-Illu mehr als die ursprünglichen 150 Euro. In der Tat war das zuerst bezahlte Honorar in Anbetracht der Auflage des Blicks und des Sonntagsblicks zu tief. Ringier will das Nebenthema denn auch rasch vom Tisch haben. In einem Vergleich einigen sich
1185das Zürcher Verlagshaus und die Berliner Illustrierte auf 5'000 Euro.
1186Uli Sigg verhandelt
1187Am 9 Juli leitet Thomas Borer in der Operation «Cross Re turn» die dritte Phase ein. In Berlin beginnen zähe Verhandlungen, in denen Borer eine Entschuldigung und Schadenersatz verlangt. Der Verlag Ringier ist an einer schnellen Einigung interessiert. Am 12. und 13. Juli verhandelt Verwaltungsratspräsident Uli
1188Sigg mit Borer am Telefon. Sigg war selber Diplomat und steht seit dem Ostersonntag auf Borers Seite. Er strebt einen ausser- gerichtlichen Vergleich an
1189und bietet Borer in Euro, Dollar oder Franken eine hohe Summe an. Diese bewegt sich in allen Währungen im siebenstelligen Bereich.
1190Der 13-Juli ist ein Samstag, und Ringier will die Affäre noch vor dem Sonntag regeln. Kurz nach 23 Uhr, eine Stunde vor Mitternacht, nimmt Thomas Borer Siggs Angebot an.
1191«Entschuldigung!»
1192Am 14. Juli erscheint der Sonntagsblick mit der weiss-roten Schlagzeile: «Entschuldigung! Streit mit Thomas Borer beigelegt. Der Brief von Michael Ringier.»
1193Auf der Seite 3 gesteht der Verleger Michael Ringier redaktionelle Fehler in aller Offenheit ein: «Wir sind bei unserer Aufarbeitung auf Tatsachen gestossen, die wir nicht akzeptieren können. So hat sich erstens herausgestellt, dass Djamile Rowe ein Informationshonorar von lO'OOO Euro bekommen hat. Zweitens musste die oberste Konzernspitze zur Kenntnis nehmen, dass Fotos von Frau Rowe unter einem Vorwand beschafft worden sind.»
1194Beide Vorfälle stellten Verstösse gegen die journalistische Sorgfaltspflicht dar, die im Hause Ringier nicht geduldet werden könnten. Dafür entschuldigt sich
1195Michael Ringier bei den Lesern. Ebenso teilt er mit, dass er mit sofortiger Wirkung den Rücktritt von zwei Verantwortlichen angenommen habe; es betrifft dies den Chefredaktor Nolte und die Korrespondentin Würzbach.
1196Gerade tritt Michael Ringier auch dem Ehepaar Borer- Fielding gegenüber: «Auch Herrn Dr.Thomas Borer und seiner Frau stand eine Entschuldigung zu. Sie haben beide Ungemach erlitten, was ich bedaure. Wir haben uns bei ihnen entschuldigt.»
1197Offen gesteht Michael Ringier sodann Fehler in der Osterwoche ein: «Ringier hat sich wohl zu sehr auf die eidesstattliche Aussage von Frau Rowe
1198verlassen, welche bekanntlich von ihr vor kurzem in der gleichen Form widerrufen wurde. Dies war ein Fehler.» Ringier habe sich auch verpflichtet, für den finanziellen Schaden aufzukommen, der dem Ehepaar Borer-Fielding entstanden sei.
1199Umgekehrt ziehen Thomas Borer und Shawne Fielding ihre Vorwürfe an Michael und Ellen Ringier zurück. Sie bedauern, dass der Eindruck entstanden ist, Ellen und Michael Ringier persönlich hätten die Berichterstattung über sie veranlasst und Djamile Rowe Geld angeboten. Damit ist die bisher schwerste Schweizer Medien-Affäre erledigt.
1200Nur Verlierer
1201In der Bilanz hinterlässt der Medien- Skandal mehr Verlierer als Sieger. Michael Ringier macht schwere Tage durch, führt seinen Konzern dann aber aus der Krise. Am 28. August 2002 wird Frank A. Meyer für ein halbes Jahr beurlaubt; danach kehrt er auf die publizistische Bühne zurück. Am 17. September kündigt Fridolin Luchsinger drei Monate vor der Pensionierung; er bleibt indessen Chef der Ringier- Journalistenschule. Gleichentags tritt Ralph Grosse-Bley zurück; und am 23. Oktober teilt Jürg Lehmann mit, er werde Ende Januar 2003 als Chefredaktor des Blicks ausscheiden.
1202Die Eidgenossenschaft verliert einen tüchtigen Diplomaten, der ihr als Chef derTask Force «Schweiz / Zweiter Weltkrieg» und als Botschafter in Berlin hervorragend gedient hat. Für Bundesrat Joseph Deiss hat dieAffäre nur ein sanftes Nachspiel. Am 10. Dezember 2003 wird er von der Bundesversammlung in seinem Amt bestätigt; es ist der denkwürdige Tag, an dem seine Parteikollegin Ruth Metzler ihren Bundesratssitz verliert. Gleichentags wählt das Parlament Joseph Deiss auch zum Bundespräsidenten für das Jahr 2004. Pressesprecher Ruedi Christen schliesslich wird auf einen nicht unangenehmen Posten in New York
1203versetzt.
1204Der unentschuldbare Fehler
1205Vom 13- November 2002 an untersuchte die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates die Informationsführung des Aussenministeriums «in Bezug auf den Rückruf des Schweizer Botschafters in Deutschland im Frühjahr 2002». Unter der Leitung des freisinnigen Fribourger Nationalrates Jean-Paul Glasson führte die Subkommission EDA/VBS die Untersuchung durch.
1206Thomas Borer wurde am 3. April 2003 angehört. Er machte geltend, das Aussenministerium hätte ihn vor dem Ostersonntag 2002 rechtzeitig
1207informieren müssen: «Ich war abgesehen von der Zeit im Flugzeug (Karfreitag 17.30 Uhr bis Ostersamstag 6 Uhr) immer erreichbar.Wäre eine zeitgerechte Vorwarnung erfolgt, hätten wir präventive Massnahmen in die Wege leiten können, insbesondere die Vorbereitung einer gemeinsamen Medienstrategie, Interventionen bei der Führung des Zürcher Medienhauses und die Einleitung gerichtlicher Schritte. Gemäss Rechtsexperten hätte dies grosse Erfolgschancen gehabt.»Pointiert spricht Borer von einem «entscheidenden, unentschuldbaren Fehler» des Departementes.165
1208In einem Berichtsentwurf vom 3-
1209November 2004 krit- sierte die nationalrätliche Geschäftsprüfungskommission die Informationsführung des Aussenministeriums ausdrücklich. Der Schlussbericht lag beim Abschluss des vorliegenden Buches noch nicht vor.
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1223VOH ALEXANDRA IVORZBACH :
1224BERLIN/ZÜRICH - In der Botschafter- Affäre um Thomas Borer (44, Bifd o.) bestätigt ein Zeuoe die Darstelluna von Diamile R. (34i:
1225In der Tageszeitung Blick behauptet Djamile Rowe, Thomas Borer habe sie in Berlin in die Tiefgarage der Schweizer Botschaft gefahren.
1226
1227 Der Blick wirft Botschafter Borer vor, er habe gelogen. Er beruft sich dabei auf zwei Eidesstattliche Erklärungen.
1228 J
1229Tag für Tag wird Botschafter Borer in der Schlagzeile der Lüge bezichtigt. Der Blick bringt «die ganze Wahrheit».
1230Botschafter-Afra
1231
1232 Als Kronzeuge gegen Thomas Borer tritt
1233der Fotograf Manfred Neugebauer auf.
1234| «Di! Kritik ans Deutschland Grosses InMsw mit Mlcltiel RHgier SEITM
1235Mit der Anschuldigung, auch Deutsche hätten genug von Botschafter Borer, verschärft das Boulevard-Blatt die Kampagne.
1236
1237VON GEORGES WÜTHRICH ' : :y
1238BERN - Der Bunderat hat gehandelt: Botschafter Thomas Borer (44) wird per
1239Ende April in die Zentrale in Bern versetzt. Er ist
1240lieh. «Nach reiflich« ich zur Überzeugung; schafter Bora- als M mehr tragbar Ist.«
1241Deshalb blieb ihm t rat den Antrag um die
1242«Eine Botschaft ist
1243«Die Party ist aus!» - triumphal berichtet der Blick, dass Bundesrat Joseph Deiss Botschafter Borer aus Berlin nach Bern zurückruft.
1244Im Sonntagsblick entschuldigt sich der Verleger Michael Ringier für Fehler seiner Redaktionen.
1245SIEBTER TEIL Die im Dunkel sieht man nicht
1246 19 Die Geheimwaffen
1247«Wouter Basson, der südafrikanische Leiter eines geheimen Giftgasprojektes, konnte während der Apartheid auf die Unterstützung von Schweizer Militärs zählen.»166 (Sonntagszeitung, 14. März 1999)
1248«Der in den Medien erhobene Vorwurf der Nachrichtendienst und insbesondere dessen Chef Divi- sionär Peter Regli, habe sich am Aufbau des geheimen
1249chemisch-biologischen Waffenprojekts von Südafrika beteiligt, hat sich auf Grund der Abklärungen der GPDel als haltlos erwiesen. Die Unterstellungen, Divisionär Peter Regli sei Mitwisser oder gar Förderer dieses Wajfenprojekts gewesen, entbehren jeglicher Grundlage.»161 (Geschäftsprüfungsdelegation, 12. November 1999)
1250
1251
1252Wie Hans Mathias Kepplinger schreibt, braucht der Skandalie- rer ein Opfer, einen Skandal, etwas Ungeheuerliches, das er dem Skandalierten vorwerfen kann; und er braucht die Mitläuferschaft anderer, die ihm helfen, die Empörung zu entfachen, ohne die der Skandal verpufft. Ob das Ungeheuerliche wahr oder erfunden ist, spielt keine Rolle.
1253Das Vorgehen der Ringier-Presse gegen Thomas Borer zeigt, dass der Skandalierer den Skandal sogar dann auslösen kann, wenn das Opfer unschuldig ist. Als Skandal wurde ein Damenbesuch konstruiert, der nie stattgefunden hatte. Um dem Skandal die nötige Würze zu verleihen, behaupteten
1254die
1255Skandalierer, deutsche Kameras hätten alles aufgenommen, obwohl die besagten Kameras anders ausgerichtet waren. Zu den Ingredienzien des Skandales gehörte auch, dass Botschafter Borer erpressbar sei, weil der Freund der Dame Vorstrafen aufweise, was sich ebenfalls als unwahr erwies.
1256In drei Phasen gegen Regli
1257Nach dem gleichen Muster verlief die Skandalierung des Schweizer Nachrichtenchefs Peter Regli. In einer ersten Phase insinuierten die Skandalierer vom Frühjahr 1999 an, Regli habe in Südafrika ein Giftwaffen-
1258Programm gefördert, mit dem das seinerzeitige Apartheid-Regime die schwarze Bevölkerung bekämpft haben soll. Diese Verdächtigung erwies sich als vollständig falsch.
1259Zu Beginn der zweiten Phase - im Hochsommer 1999 - platzte im Nachrichtendienst eine schwere Unterschlagungsaffäre, in deren Verlauf der Täter behauptete, er habe das veruntreute Geld auf Befehl Reglis für eine Geheimarmee abgezweigt. Auch diese Behauptung erwies sich vollumfänglich als unwahr.
1260In der dritten Phase - vom August 2001 an - brachten die Skandalierer die Verdächtigung ins Spiel, zwischen der
1261Schweiz und Südafrika habe zu B- und C-Waffen ein Geheimabkommen bestanden. Die Medien nahmen die Kampagne gegen den Schweizer Nachrichtendienst und gegen Peter Regli nochmals auf und verschärften sie. Aber auch das Geheimabkommen konnte nicht belegt werden - es existierte nicht.
1262Opfer an den Pranger
1263Gemeinsam ist den Skandalierungen von Thomas Borer und Peter Regli, dass sie auf unwahren Behauptungen beruhten, die widerlegt wurden. Aber in beiden Fällen gelang es den Skan- dalierern, den Medienwirbel zu erzeugen, den sie brauchten, um die Skandalierten an den
1264Pranger zu stellen. Exakt nach Kepplingers Schema schwärzten sie die Opfer an, und wie von Kepplinger analysiert, fanden sie Mitläufer in den Medien und in der Politik. In beiden Inszenierungen erwiesen sich die Angeschuldigten im Schlussakt als unschuldig. Dennoch kosteten die Skandalierungen beide Skandalierten ihre Stellung: Botschafter Borer verlor seinen Posten in Berlin, und Divisionär Regli biisste sein Amt als Schweizer Nachrichtenchef ein.
1265«Dr. Death»
1266Gegen Thomas Borer leitete die Ringier- Presse die finale Kampagne mit einem Paukenschlag ein. Der Bericht vom
1267Ostersonntag 2002 im Sonntagsblick markiert den Beginn der Skan- dalierung scharf. Demgegenüber begann die erste Kampagne gegen Peter Regli schleichend. Die Skandalierer kolportieren Gerüchte. Über Verdächtigungen und Mutmassungen kamen sie nicht hinaus. Beweise für Reglis angebliche Schuld fehlten von Anfang an.
1268Im Brennpunkt der Kolportagen stand die erfundene Beteiligung des Schweizer Nachrichtendienstes an einem B- und C- Waffen-Programm Südafrikas. In den Jahren der Apartheid entwickelte der südafrikanische Militärarzt Wouter Bas- son biologische und chemische Waffen,
1269mit denen die farbige Bevölkerung des Landes vergiftet werden sollte. Basson erhielt den Übernamen «Dr. Death» und wurde in den Medien mit dem Nazi-Arzt Dr. Mengele verglichen.
1270Der Schweizer Nachrichtendienst hatte in der Zeit des Kalten Krieges mit dem südafrikanischen Geheimdienst Beziehungen aufgenommen. In den Siebziger)ahren waren die Spezialisten in Bern am Wissen interessiert, das die Südafrikaner über das Engagement sowjetischer, ostdeutscher und kubanischer Berater und Truppenkontingente vor allem in Angola sammelten. Die Schweiz unterhielt in Schwarzafrika kein
1271Netz von Militärattaches, war aber gleichwohl auf Informationen aus den Krisengebieten angewiesen. So war es nicht abwegig, dass die damalige Untergruppe Nachrichtendienst im Generalstab mit südafrikanischen Partnern Verbindung hatte. Die Partnerschaft mit Pretoria ergänzte ein weit gefächtertes Netz zweiseitiger Beziehungen mit anderen Staaten und war entsprechend einzuordnen.168
1272Gegenseitige Besuche
1273In der ersten Phase der Kontakte reiste General Christoffel van der Westhuizen, der damalige Chef des südafrikanischen Geheimdienstes, nach Bern; und Divisionär Mario Petitpierre, in den
1274Achtzigerjahren der Schweizer Unterstabschef Nachrichtendienst und Abwehr, besuchte Südafrika im März 1982. In den Unterredungen ging es um die strategische Lage im südlichen Afrika und um den Krieg in Angola. Beredet wurden auch Bewegungen der sowjetischen Flotte im Indischen Ozean. Die Verhältnisse in den eigenen Ländern wurden ausgeklammert, was den geheimdienstlichen Gebräuchen entspricht. Irgendein B- oder C-Waffen- Programm kam nicht zur Sprache.
1275Peter Regli, im Militär Hunter-Pilot, war von 1981 bis 1988 Chef des Flieger- und Fliegerabwehr- Nachrichtendienstes169. Zu seinen
1276Informationsbedürfnissen gehörten Berichte über die Einsatzverfahren östlicher Flugzeuge; von Belang war ebenso die Taktik gegen Stellungen der radarisierten Kanonen- und Raketen- Fliegerabwehr. Wie die Schweiz besass Südafrika Mirage-Flugzeuge, weshalb das Land am Kap für Bern interessant war. Das war auch der Grund dafür, dass es zwischen der Schweiz und Südafrika zum Austausch von Piloten kam.
1277In den Beziehungen zwischen Bern und Pretoria spielte ein Schweizer Miliz- Luftwaffen-Nachrichtenoffizier eine zwielichtige Rolle, die später zu berechtigten Beanstandungen Anlass
1278gab. Es handelt sich um den Geschäftsmann und Waffenhändler Jürg Jacomet170, der 1968 mit Peter Regü die Flieger- Offiziersschule absolviert hatte. Regli pflegte mit Jacomet auch noch Kontakt, nachdem er 1991 als Divisionär Chef der Untergruppe Nachrichtendienst geworden war.
1279Jacomet brachte Basson Anfang der Neunziger)ahre zu Regli, der den südafrikanischen Militärarzt in seinem Büro im Berner Bundeshaus zu einem Höflichkeitsbesuch empfing. Von Bassons B- und C-Waffen-Programm wusste Regli nichts. Im Verlauf des 45- minütigen Gesprächs wurden biologische oder chemische Kampfstoffe
1280nicht angesprochen. Im Zentrum der Unterredung, an der auch der südafrikanische Polizeigeneral Lothar Neethling171 teilnahm, stand die allgemeine strategische Lage. Den Usanzen gemäss blieben innere Fragen der Schweiz und Südafrikas ausgeklammert.
1281«Projekt Coast»
1282Den Auftakt zur ersten Skandalierung des Schweizer Nachrichtendienstes machten im März 1999 Meldungen aus Südafrika, wonach der Westschweizer Fernsehjournalist Jean-Phi- lippe Ceppi in Kapstadt verhaftet worden sei, wo ihn die Polizei «mit Strassenräubern, Ratten und Moskitos»172 in eine Zelle
1283geworfen habe. Die örtlichen Behörden hielten Ceppi vor, er besitze Geheimpapiere. Nach wenigen Tagen wurde Ceppi auf freien Fuss gesetzt; doch der Eclat im fernen Land reichte aus, dass in der Schweiz das Karussell der Spekulationen, Gerüchte und Anschuldigungen in Schwung geriet.
1284In der Schweizer Presse wurde gemutmasst, in Bern hätten Offiziere von Bassons Giftwaffen gewusst, ja sein tödliches Programm gefördert. Am 14. März schreibt die Sonntagszeitung auf der Titelseite: «Wöuter Basson, der südafrikanische Leiter eines geheimen Giftgasprojektes, konnte während der Apartheid auf die Unterstützung von
1285Schweizer Militärs zählen.»173 Dann bezeichnet die Zeitung Basson als den «Dr.
1286Mengele Südafrikas»; ausdrücklich bringt sie Basson in Verbindung mit dem Nachrichtenchef Regli. Damit sind erste Grundlagen für die Skandalierung hergestellt.Alles ist vorhanden: die Apartheid, Basson als «Dr. Death», Josef Mengele, der KZ-Arzt, Giftwaffen - und der geheimnisumwobene Chef des Schweizer Nachrichtendienstes.
1287Im Blattinnern wird der Code für Bassons Geheimunternehmen genannt: «Projekt Coast». Im Titel heisst es, die Schweiz sei «Südafrikas Agenten stets zu Diensten» gewesen. Und: «Die
1288Schweiz war dem Apartheidstaat in Sachen C-Waffen freundschaftlich verbunden.» Der Lauftext deutet mehrfach an, Schweizer Offiziere hätten am «Projekt Coast» mitgewirkt. Von Regli heisst es, er habe mit General Neethling freundschaftliche Kontakte gepflegt, was frei erfunden ist.174
1289Gegenstimme NZZ
1290In der Schweizer Presse gab es früh auch Gegenstimmen. So schrieb die Neue Zürcher Zeitung schon am 12. März: «Man darf davon ausgehen, dass Südafrika seine Pläne zum Aufbau eines Arsenals an biologischen und chemischen Kampfstoffen sicher nicht
1291mit Schweizer Armeevertretern besprochen hat. Solche Absichten gehören zu den am besten gehüteten militärischen Geheimnissen, wie sich im Irak gezeigt hat. Südafrika musste um so weniger Interesse an einem diesbezüglichen Informationsaustausch haben, als es Signatarstaat der Nonpro- liferationsverträge ist.»175
1292Von sich aus bat Divisionär Regli die Delegation der Geschäftsprüfungskommissionen der Eidgenössischen Räte darum, diese möge ihn zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen anhören. Die Delegation war daran, die Beziehungen des Schweizer Nachrichtendienstes zum
1293südafrikanischen Apartheidregime auszuleuchten. Der sechsköpfige Ausschuss stand 1999 unter dem Präsidium des Schaffhauser Ständerates und
1294Obersten Bernhard Seiler. Die Delegation setzte ihre Untersuchung fort und bezog auch das in Fachkeisen sehr angesehene AC-Labor der Schweizer Armee in Spiez in die Abklärungen ein, nachdem die Medien auch gegen diese Anstalt Verdächtigungen erhoben hatten.
1295Weder Mitwisser noch Förderer
1296Am 12. November veröffentlichte die Geschäftsprüfungsdelegation das Ergebnis ihrer Untersuchung. In der
1297zusammenfassenden Würdigung hielt sie fest: «Die GPDel ist auf Grund von intensiven Abklärungen zur Auffassung gelangt, dass der schweizerische Nachrichtendienst zur Zeit des Kalten Krieges mit Recht das beachtliche Informationspotenzial genutzt hat, welches sich durch die Kontakte mit den südafrikanischen Diensten an einer wichtigen weltpolitischen Front angeboten hatte. Hinweise dafür, dass die Informationsbeschaffung mit illegalen Mitteln erfolgte oder gegen bestehende Weisungen ver- stiess, liegen keine vor.»176
1298Dann entlastet die Delegation Peter Regli vom Vorwurf, er habe sich am
1299Aufbau des geheimen chemisch- biologischen Waffenprojekts von Südafrika beteiligt: «Die Unterstellungen, Divisionär Peter Regli sei Mitwisser oder gar Förderer dieses Waffenprojekts gewesen, entbehren jeglicher Grundlage.» Ebenso wenig treffe es zu, dass Regli mit dem Leiter des südafrikanischen Geheimprojekts Kontakte «gepflegt» habe; nachweisbar sei nur ein einziger Besuch Bassons im Bundeshaus.
1300Bedenken zu Jacomet
1301Kritisch äussert sich die Delegation zur Tatsache, dass der Nachrichtendienst in einer gefahrvollen Zeitperiode an einer sensiblen Informationsfront ohne
1302Direktiven und ohne nennenswerte Führung der politisch verantwortlichen Behörden tätig sein konnte. Mit dem Begriff «problematisch» versieht die
1303Delegation die Rolle JürgJacomets: «Dieser konnte sich offensichtlich während Jahren ungehindert als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes ausgeben.» In diesem Zusammenhang könne Regli der Vorwurf nicht erspart bleiben, zu wenig Gewicht auf die Auswahl, Instruktion und Beaufsichtigung des informellen Mitarbeiters gelegt zu haben.
1304Lob für AC-Labor
1305Ein gutes Zeugnis stellt die Delegation
1306dem AC-Labor Spiez aus. Die Verantwortlichen hätten sich sehr zurückhaltend, ja geradezu vorbildlich verhalten. Von einer aktiven oder auch nur passiven Beteiligung der Fachstelle an einem geheimen Waffenprojekt Südafrikas könne keine Rede sein: «Im Gegenteil, die Bestrebungen des AC- Laboratoriums galten und gelten nachweislich dem Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren derartiger Waffen und nicht deren Förderung.»
1307Damit schien die Sache erledigt zu sein. Die Geschäftsprüfungsdelegation hatte eindeutig festgehalten, dass weder der Schweizer Nachrichtendienst noch das
1308AC-Labor von Bassons Vorhaben gewusst, geschweige denn daran mitgewirkt hatten. Aber der Schein trog: Im August 2001 nahmen einzelne Schweizer Medien die alten, bereits widerlegten Vorwürfe wieder auf - und noch einmal setzten zwei gründliche Untersuchungen ein.
130920 Die Geheimarmee
1310«Gestehe, Pietrof»111 (Carla del Ponte zu Peter Regli, 18. August 1999)
1311«Carla, du machst einen schweren Fehler.»TM (Peter Regli zu Carla del Ponte, 18. August 1999)
1312«Bellasi kaufte Hunderte von Waffen -
1313für Mafia oder Geheimarmee?»119 (Sonntagsblick, 22. August 1999)
1314«Der grösste Schaden, der der Untergruppe Nachrichtendienst mit dieser Affäre entstanden ist, dürfte der Vertrauensverlust sein, den sie dadurch bei den ausländischen Diensten und Informationsquellen sowie in der Öffentlichkeit erlitten hat. Im Übrigen entstand der Schaden nicht so sehr durch die Affäre selbst als vielmehr durch die Art und Weise, wie die Behörden und die Medien damit umgingen.»180 (Geschäftsprüfungsdelegation, 24. November 1999)
1315Dino Bellasi, geboren i960, trat am 1. März 1988 als Fachbeamter in die
1316Untergruppe Nachrichtendienst des Generalstabs ein. Er führte die Korpskontrolle der entsprechenden Armeestabsteile und organisierte deren Dienstleistungen. Er hatte keinen Zugang zu Geheimakten ausser zur Korpskontrolle seiner Armeestabsteile, die rund 500 Namen umfasste. In seiner Milizstellung war Bellasi Hauptmann. Beruflich unterstand er bis zum 31. Dezember 1995 dem Generalstabsobersten Fred Schreier, der in der Untergruppe als anerkannter Fachmann den strategischen Nachrichtendienst führte. Vom 1. Januar 1996 bis zum 30. April 1998 war Bellasi dem Direktionsadjunkten des Stabschefs zugeordnet; im Mai 1998
1317unterstand er direkt dem Stabschef Jean- Denis Geinoz; auch Geinoz war Oberst im Generalstab.Am l.Juni 1998 wurde Bellasi zur Sektion Militärprotokoll versetzt, bevor er am 30. September 1998 aus dem Bundesdienst ausschied.181
13188'839'Q00 Franken veruntreut
1319Bellasi besass als Rechnungsführer einen unbefristet gültigen Ausweis, mit dem er bei Poststellen oder bei der Schweizerischen Nationalbank Bargeld abheben konnte. Vom Frühjahr 1994 an bezog er bei der Nationalbank systematisch grössere Beträge, die er nicht für Truppenkurse ausgab, sondern veruntreute. Dazu benutzte er
1320Vorschussmandate, die er zunächst von seinen Vorgesetzten unterschreiben liess und später selbst mit gefälschten Unterschriften versah.
1321Vom März 1994 bis zum Juli 1999 erschwindelte Bellasi 8'839'000 Franken. Dieser Betrag entspricht rund lOO'OOO Diensttagen, die nie stattfanden. 127 Mal hob Bellasi bei der Nationalbank Geld ab, 35 Bezüge erfolgten noch nach seinem Austritt aus dem Bundesdienst.
1322Festnahme in Kloten
1323Am 10. August 1999 entdeckt Thomas Leider, Bellasis Nachfolger im Amt, die schwere Unterschlagung. Er unterrichtet
1324Divi- sionär Regli, der am 11. August seinen Vorgesetzten, den Generalstabschef Hans-Ulrich Scherrer, informiert. Scherrer wiederum setzt seinen Chef, Bundesrat Adolf Ogi, den Vorsteher des VBS, ins Bild. Am gleichen Tag wird Dino Bellasi zur Fahndung ausgeschrieben. Am 12. August lässt das VBS in einer Pressemitteilung verlauten, im Departement sei das Vermögensdelikt eines ehemaligen Beamten aufgedeckt worden. Das VBS habe die Bundesanwaltschaft mit der strafrechtlichen Abklärung beauftragt und im Departement eine administrative Untersuchung eingeleitet.
1325In der Nacht vom 12. zum 13.August wird Dino Bellasi im Flughafen Kloten festgenommen. Nach seiner Verhaftung treten das VBS und die Bundesanwaltschaft vor die Presse. Bellasi wird als Täter genannt, die Deliktsumme wird mit rund 9 Millionen Franken angegeben. Das VBS teilt mit, Bellasi habe zu militärischen Geheimnissen keinen Zugang gehabt.
1326Waffen beschlagnahmt
1327Am 15. August berichtet die Sonntagspresse vom luxuriösen Lebensstil Bellasis. Einen Tag darauf teilt die Bundesanwaltschaft mit, Bellasi werde der ungetreuen Amtsführung, der Urkundenfälschung im Amt, der
1328Geldwäscherei, der Hehlerei und der Anstiftung zu Verbrechen oder Vergehen verdächtigt. Ebenfalls am lö.August beschlagnahmen die Behörden in der Nähe von Bern ein Waffenlager.
1329Am 18. August verhört die Bundesanwältin Carla del Ponte den verhafteten Bellasi lange. Bellasi behauptet, er habe im Auftrag von Divisionär Regli gehandelt. Er habe das Geld abgezweigt, um eine Geheimarmee aufzubauen. Der Bundesrat führt an diesem Tag in Murten eine Klausur durch. Carla del Ponte begibt sich nach Murten und informiert Bundesrat Ogi und Bundesrätin Ruth Metzler, die Vorsteherin des Justiz- und
1330Polizeidepartementes. Die Bundesanwältin unterrichtet Ogi und Metzler von ihrer Absicht, am Abend Divisionär Regli und die beiden Obersten Schreier und Geinoz festzunehmen.
1331Regli sitzt zu Hause am Computer, als um 20.45 Uhr im Garten das Licht angeht.Vier dunkle Gestalten steigen die Gartentreppen hoch und läuten. An der Tür präsentieren die Bundespolizisten einen Vorführ- und Hausdurchsuchungsbefehl. Beide Dokumente sind vom stellvertretenden Bundesanwalt Felix Bänziger unterschrieben. Regli wird zum Sitz der Bundesanwaltschaft an der Berner
1332Taubenhalde geführt. Derweil durchsucht die Bundespolizei Reglis Haus.
1333Carla del Ponte vernimmt Regli von 22 Uhr an. Sie leitet das Verhör wie folgt ein: «Ich habe heute Bellasi den ganzen Nachmittag befragt. Er hat alles ausgesagt. Es tönt alles sehr glaubwürdig. Es ist für dich am besten, wenn du sofort ein volles Geständnis ablegst.» Während sie den Haftbefehl unterschreibt, fordert sie Regli nochmals auf: «Pietro, gestehe!»182
1334«Absolut grotesk»
1335Carla del Ponte und Peter Regli duzen sich seit Jahren und führen die
1336Einvernahme zuerst in ihrer italienischen Muttersprache. Die Bundesanwältin konfrontiert den Nachrichtenchef mit Bellasis Anschuldigungen. Regli antwortet: «Absolut grotesk. Es stimmt überhaupt nichts.» Del Ponte erwidert: «Glaubst du etwa, dass Bellasi lügt? Wozu denn?» Worauf Regli erklärt: «Er lügt, um sich zu entlasten und mich zu belasten.»
1337Um 2.30 Uhr wird Belassi Regli gegenübergestellt. Regli frägt Bellasi, ob er sich bewusst sei, was er dem Bundesrat, dem Departement und dem Nachrichtendienst angetan habe. Bellasi verzieht keine Miene und besteht auf seiner Aussage vom Nachmittag. Er gibt
1338nur zu, gelogen zu haben, als er aufgrund einer angeblichen Krebserkrankung kündigte.
1339Um 3-15 Uhr zieht Carla del Ponte ihren Haftbefehl zurück. Sie entlässt Regli nach Hause. Regli warnt die Bundesanwältin zweimal: «Carla, du machst einen schweren Fehler.» Verhaftet und wieder entlassen wird auch Oberst Geinoz, der Bellasi bei der Gegenüberstellung ins Gesicht sagt, er lüge.Aus Budapest wird der Verteidigungsattache Bernhard Stoll eingeflogen, der 1996/97 Bellasis Vorgesetzter gewesen war. Er wird in Kloten abgeholt, um das Flugbillet und das Mobiltelefon «erleichtert» und nach
1340Bern überführt. Auch er bezichtigt Bellasi der Lüge, bevor er auf freien Fuss gesetzt wird. Regli, Geinoz und Stoll halten fest, dass Bellasi nicht die Wahrheit sage. Carla del Ponte bleibt von der Darstellung Bellasis überzeugt.
1341«In der obersten Liga»
1342Am 22.August erscheint der Sonntagsblick mit Bellasis Bild auf der Frontseite und der Schlagzeile: «Hunderte von Waffen entdeckt - für Geheimarmee?» Auf der Seite 2 heisst es dann: «Bellasi ist nicht der kleine Rechnungsführer des Nachrichtendienstes, sondern ein Geheimnisträger, der in der obersten Liga der Agenten und Waffenschieber
1343mitmischelt.»183
1344Dann nimmt die Zeitung Bezug auf den Waffenfund und schreibt: «Die Beamten stiessen bei Köniz auf ein Waffenarsenal, das Bellasi gehörte. Der Polizei fielen dabei Hunderte von Hochpräzisionswaffen in die Hände, dazu kistenweise Munition. Keine herkömmlichen Militärgewehre, sondern Spezial- waffen, wie sie von Sondereinsatztruppen wie der GSG 9 oder von Scharfschützen verwendet werden. Für wen die Waffen bestimmt waren, ist noch Gegenstand der Untersuchung.»
1345Spur zur «Geheimarmee»
1346Zwei Spuren nimmt der Sonntagsblick auf: «die Militärmafia- Spur» und «die Geheimarmee-Spur». Zur zweiten Spur schreibt die Zeitung, gegenüber der Bundesanwaltschaft erkläre Bellasi standhaft, er habe im Auftrag der Armee gehandelt: «Meine Chefs haben mir befohlen, beim Aufbau einer geheimen Einsatztruppe mitzuwirken. Dafür waren die Waffen bestimmt.»
1347Das habe Bellasi auch seinem engen Vertrauten F. L.184 gesagt: «Die Treffs der Exponenten der Geheimarmee fanden im Interlakner Luxushotel Jungfrau statt.» Ob Geheimarmee oder Waffen für die Militärmafia - so oder so, bei der Bundesanwaltschaft und im
1348YBS sei nach dem Waffenfund bei Köniz klar: «Bellasi hatte Kontakte zur organisierten Kriminalität». Darauf deuteten weitere Fakten hin, so Bellasis geheime Auslandkontakte und Bellasis geheime Agentenliste.
1349Noch am Sonntag tritt Bundesrat Ogi vor die Presse. Das YBS bestätigt den Waffenfund und gibt bekannt, es handle sich um ein Lager, das Dino Bellasi privat angelegt habe. Gegenüber der Bundesanwältin habe Bellasi ausgesagt, die Waffen seien für einen geheimen Nachrichtendienst bestimmt gewesen. Ogi spricht von Dimensionen, die «man sich nicht in den wildesten Träumen habe vorstellen können». Die
1350Bundesanwaltschaft teilt mit, Bellasi habe mehrere Offiziere schwer belastet.
1351«Giasnost im Pentagon»
1352Divisionär Regli erklärt gegenüber der Presse, er selber sei von Bellasi beschuldigt worden, den Aufbau der Geheimarmee in Auftrag gegeben zu haben. Das treffe überhaupt nicht zu. Ogi gibt bekannt, er habe Regli beurlaubt und die Leitung des Nachrichtendienstes an Divisionär Martin von Orelli übertragen. Von Orelli ist der Stellvertreter des Generalstabschefs.
1353Am 23. und am 25.August lässt der Berner Anwalt André Seydoux verlauten, sein Mandant Bellasi habe im
1354Auftrag seiner Vorgesetzten gehandelt. Divisionär Regli habe Bellasi zwischen März und Mai 1994 beauftragt, einen geheimen Nachrichtendienst aufzubauen. Zur Finanzierung des Projektes sei Bellasi angewiesen worden, Gelder aus einer fiktiven Truppenbuchhaltung abzuzweigen. Als Schuldige nannte Seydoux neben Regli auch die Obersten Geinoz, Schreier und Stoll.
1355Am 24.August versiegelt die Bundesanwaltschaft Reglis Büro. Geinoz und Schreier werden beurlaubt. Am 25. August teilt Bundesrat Ogi der Presse mit, er werde den Nachrichtendienst umgestalten. Er verspricht «Giasnost im Pentagon»185
1356und bekräftigt seinen Willen, im seinem Departement Transparenz zu schaffen. Am 26. August beschliesst die Geschäftsprüfungsdelegation, den Nachrichtendienst einer vertieften Abklärung zu unterziehen; und am 27. August führt die Bundesanwaltschaft der Presse Waffen und Munition aus Bellasis geheimem Arsenal vor.
1357In den Schweizer Medien beherrscht die Bellasi-Affäre vom 22. August an die Schlagzeilen. Bellasis Lüge, er habe mit dem veruntreuten Geld eine Geheimarmee aufbauen müssen, gibt dem Unterschlagungsfall eine neue, unheimliche Dimension. Das Fernsehen widmet die Tagesschau, das Magazin 10
1358vor 10, den Zischtigsclub und die Arena dem Skandal im Nachrichtendienst. Täglich berichten im Radio das Morgenjournal, das Rendez-vous am Mittag und das Echo der Zeit über die neuesten Mutmassungen, Verdächtigungen und Gerüchte.186
1359Beülasi gesteht
1360Am 29. August berichtet die Sonntagspresse, dass Bellasi seine privaten Waffen in einem Wiederholungskurs von Armeeangehörigen der Untergruppe Nachrichtendienst eingesetzt habe .Auch diese neueste Enthüllung findet in den anderen Medien wieder Resonanz.
1361Am 31. August indessen nimmt die Affäre eine Wende. Am Morgen verliest Adolf Ogi im Nationalrat eine Erklärung des Bundesrates; er verspricht, den Fall Bellasi vollständig aufzuklären. Am Nachmittag ruft Ogi Regli zu sich. Der Departementsvorsteher teilt dem Nachrichtenchef mit, Bellasi habe gestanden. Der Täter habe die Anschuldigungen gegen Regli, Stoll und Geinoz zurückgenommen; er habe zugegeben, mit einer reinen Schutzbehauptung operiert zu haben.
1362Gleichentags bestätigt die Bundesanwaltschaft Bellasis Geständnis. Mit Sicherheit könne festgehalten werden, dass niemand
1363Bellasi beauftragt habe, einen Schattennachrichtendienst aufzubauen. Es stehe fest, «dass die Herren Regli, Stoll und Geinoz unschuldig und strafrechtlich rehabilitiert» seien. Die Büros der drei Beamten seien entsiegelt und die Verfahren eingestellt worden. Einzig gegen den Obersten Schreier werde weiter ermittelt.
1364Das VBS informiert, Regli bleibe beurlaubt, bis die Administrativuntersuchung abgeschlossen sei. Schreier sei weiterhin suspendiert, während Geinoz die Arbeit im Nachrichtendienst wieder aufnehme, allerdings nicht mehr als Stabschef. Stoll bleibe Attaché in
1365Budapest.
1366In den Grundfesten erschüttert
1367Damit war endgültig bewiesen, dass Bellasi gelogen hatte. Und die Affäre hätte erledigt sein können. Aber wer das dachte, der hatte weit gefehlt. Als längst bekannt war, dass es sich im Fall Bellasi um eine gravierende Unterschlagung, nicht jedoch um mehr gehandelt hatte, nahm die Angelegenheit noch einmal Weiterungen, die den Schweizer Nachrichtendienst in seinen Grundfesten erschütterten.
1368Peter Regli kehrte nicht mehr in sein Amt zurück, obwohl er Dino Bellasis Anschuldigung, er habe eine
1369Geheimarmee aufbauen wollen, widerlegt hatte. Fred Schreier blieb suspendiert und trat später vorzeitig in den Ruhestand; sein Wissen und Können ging jedoch nicht ganz verloren. Jean- Denis Geinoz fand in der Armee eine neue Position, und Bernhard Stoll setzte, wie beschlossen, seine Attaché- Laufbahn fort.
1370Sechs Jahre Zuchthaus
1371Der Berner Anwalt André Seydoux wurde mit einer Busse von 500 Franken belegt. Das hinderte ihn nicht daran, Dino Bellasi in dessen Strafprozess zu verteidigen. Bellasi sass lange in Untersuchungshaft und wurde vom Berner Wirtschaftsstrafgericht im
1372Februar 2003 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
1373Der Schuldspruch lautete auf Betrug, falsche Anschuldigung und Urkundenfälschung. Für Bellasis Auftragstheorie fand das Gericht keine Bestätigung. Für schuldig befand es den Angeklagten auch der Geldwäscherei und des unerlaubten Tragens einer Waffe. Bellasi hielt sich im Zuchthaus gut und wurde im August 2003 vorzeitig auf freien Fuss gesetzt.
1374Nachhaltig waren die Auswirkungen im difficilen Gefüge des Nachrichtendienstes. Im September 1999 setzte Adolf Ogi den früheren
1375Botschafter Edouard Brunner als Präsidenten einer Reformkommission ein, die zum Schluss kam, die Untergruppe Nachrichtendienst sei - je nach Lesart - zu zivilisieren oder zu entmilitarisieren.187
1376Geheimhaltung weckt Misstrauen
1377Einen entsprechenden Beschluss fasste der Bundesrat im September 2000. Am 1. Januar 2001 wurde aus der militärischen Untergruppe, die zum Generalstab gehört hatte, der zivile Strategische Nachrichtendienst. Die Armee behielt nur den Militärischen Nachrichtendienst, der personell nicht eben stark bestückt wurde. Im November 1999 beschloss der Bundesrat überdies,
1378ein Lage- und Früherkennungsbüro zu schaffen, dem seit Juni 2000 ein Nachrichtenkoordinator vorsteht.
1379Die Geschäftsprüfungsdelegation untersuchte vorrangig Bellasis Unterschlagung und gelangte zu eindeutigen Schlüssen. Sie bestätigt, dass der Täter keinen Zugriff auf sensible Daten hatte - ausser auf seine eigene Korpskontrolle.188
1380Zum Thema «Geheimhaltung und Transparenz in der Untergruppe Nachrichtendienst» schreibt die Delegation, im Normalfall kümmere sich kaum jemand um den Auftrag des Dienstes und seine geheimnisvolle
1381Arbeit. Sobald aber die Untergruppe aufgrund besonderer Vorkommnisse ins Gespräch komme, werde alles ganz anders: «Die Geheimhaltung weckt nun Misstrauen und Zweifel; und für viele wird das Wort geheim gleichbedeutend mit ungesetzlich, verboten, unkontrolliert und ungeahndet.» Die Geheimhaltung des Nachrichtendienstes werde dann zu Unrecht als ein Versuch ausgelegt, die Wirklichkeit zu verdecken und sich der öffentlichen Meinung zu entziehen.
1382In der Schlussbilanz ortet die Delegation den grössten Schaden im Vertrauensverlust, den der Schweizer Nachrichtendienst bei den ausländischen Partnern und in der Öffentlichkeit
1383erlitten habe. Der Schaden sei nicht so sehr durch die Bellasi-Affäre selbst entstanden; gravierender sei die Art und Weise gewesen, wie die Behörden und Medien mit dem Fall umgegangen seien.
1384Bewusst emotional
1385Das VBS schliesslich beauftragte den Berner Medienprofessor Matthias Steinmann, seine Informationsführung im Fall Bellasi zu durchleuchten. Steinmann stellte mit seinem Team Thesen auf, die er kritisch überprüfte.
1386Die Auffassung, wonach die Informationspolitik des Departementes in der Affäre bewusst emotional geprägt gewesen sei, wurde bestätigt. Die These
1387dagegen, wonach das VBS offen und sachlich informiert und so an Glaubwürdigkeit gewonnen habe, wollte Steinmann nur teilweise bekräftigen.189
138821 Das Geheimabkommen
1389«Der Abend ist warm, und soeben ist die Sonne über der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria untergegangen. Im Speisesaal des Restaurants Die Werf klappern leise die Gabeln, die sich über Bo- boties hermachen, eine Spezialität des Hauses. Chris Thirion, der Besitzer des Restaurants, ein Mann mit stahlblauen Augen, hat gerade die ersten Happen genommen. Er speist mit einem Gast, der extra aus der Schweiz angereist ist. Sein Gast - er trägt einen
1390buschigen Schnauzbart und tadellos gescheiteltes Haar - ist ein ausgewiesener Kenner Südafrikas, und diesmal hat er seine hübsche Frau Irene mitgebracht. Das alles spielt Ende der neunziger Jahre, ivahrscheinlich 1999-»190 (Jean-Philippe Ceppi, 27. Oktober 2001).
1391«Die Werf habe ich nie betreten, und 1999 waren meine Frau Irene und ich überhaupt nicht in Südafrika.»191 (Peter Regli, 20. Dezember 2004)
1392Die Verbindungen zwischen dem Schweizer Nachrichtendienst und Südafrika hatten im Jahr 2001 ein groteskes Nachspiel. Als die
1393südafrikanische Justiz dem ehemaligen Militärarzt Wouter Basson den Prozess machte, sagte dieser vor Gericht aus, die Schweiz und andere Staaten hätten an seinem B- und C-Waffen-Programm mitgewirkt. Vom August 2001 an nahmen einzelne Schweizer Medien den Faden nochmals auf. Im Brennpunkt ihrer Kampagne standen nun nicht mehr Bassons biologische und chemische Kampfstoffe selbst, sondern Verdächtigungen, der Schweizer Nachrichtendienst habe mit Südafrika ein geheimes Abkommen über den Informationsaustausch zu B- und C- Waffen abgeschlossen.
1394Ein solches Abkommen existierte
1395nachweislich nicht. Zwischen dem schweizerischen und dem südafrikanischen Geheimdienst gab es einen einzigen Vertrag, der aber mit giftigen Kampfstoffen nichts zu tun hatte .Am 31 · März 1983 schlossen der Nachrichtenchef der südafrikanischen Streitkräfte und der Chef der damaligen Schweizer Geheimhaltungssektion ein Abkommen zum Informationsschutz, wie es die Schweiz zu zahlreichen anderen Staaten unterhielt. Das Abkommen wies gegenüber entsprechenden Vereinbarungen mit anderen Diensten keinerlei Besonderheit auf. Es war ein Standardvertrag wie jeder andere.192
1396Vorstösse im Parlament
1397Dennoch lösten Bassons Aussagen im Tages-Anzeiger, im Blick und bei Radio DRS noch einmal eine Welle von Spekulationen und Anschuldigungen aus. Im Tages-Anzeiger war es Bruno Vanoni, der das Thema noch einmal aufbrachte, und für das Radio reiste Philipp Burkhardt zu Recherchen eigens nach Südafrika.
1398Parallel zur Medienkampagne reichte die grüne St. Galler Nationalrätin Pia Hollenstein im Parlament mehrere Vorstösse in deutscher Sprache ein, während ihr sozialdemokratischer Genfer Amtskollege Jean-Nils de Dardel die Westschweizer Flanke abzudecken suchte. De Dardel verlangte, das
1399Parlament müsse wie nach der Fichen- Affäre von 1989/90 eine Untersuchungskommission (PUK) einsetzen. Sein Antrag scheiterte aber deutlich: Der Nationalrat lehnte die parlamentarische Initiative de Dardels mit 94 Nein- zu 60 Ja-Stimmen ab und setzte keine PUK ein.
1400Unter den journalistischen Arbeiten ist der mehrseitige Beitrag von Jean- Philippe Ceppi im Magazin des Tages- Anzei- gers das Prunkstück. Ceppi beschuldigt den Schweizer Nachrichtendienst, im Herbst 1986 mit dem südafrikanischen Partner ein geheimes Abkommen geschlossen zu haben, in dessen Ausführung die
1401Schweiz Informationen zur B- und C- Waffen- Entwicklung nach Südafrika geliefert habe.193
1402Zwei Untersuchungen parallel
1403Kurz nach Erscheinen des Artikels, am 2. November, ordnete das VBS eine Administrativuntersuchung an. Mit der Federführung betraute Bundesrat Samuel Schmid, Adolf Ogis Nachfolger an der Spitze des Departementes, den Professor Rainer Schweizer, der an der Universität St. Gallen als Ordinarius öffentliches Recht lehrt.
1404Am 13- November beschloss auch die Delegation der Geschäftsprüfungskommissionen, eine
1405zusätzliche eigene Abklärung einzuleiten. Wie schon im Jahr 1999 zog sie den erfahrenen Juristen Nikiaus Oberholzer bei, den Präsidenten der Anklagekammer des St. Galler Kantonsgerichts. Damit liefen zwei eidgenössische Untersuchungen parallel, was zu Reibungen führte.
1406Leise klappern die Gabeln
1407Der Hauptauslöser für beide Untersuchungen war Ceppis Bericht. Sein Beitrag verdient es, unter die Lupe genommen zu werden. Die deftige Reportage aus Südafrika zeigt, wie ein Skandalierer einen Skandal mit Mutmassungen, Andeutungen und prallen Bildern anheizen kann.
1408Schon die Einleitung ist für die Betroffenen desaströs. Ceppi beschreibt ein Nachtessen in Pretoria. Im Restaurant Die Werf klappern leise die Gabeln, als der Wirt, der frühere Geheimdienstgeneral Chris Thirion194, mit zwei Schweizer
1409Gästen die ersten Happen nimmt. Der eine Gast - er trägt einen buschigen Schnauzbart und streng gescheiteltes Haar - wird nicht beim Namen genannt, doch der geneigte Leser weiss sofort: Es kann sich nur um Peter Regli handeln, den sagenumwobenen Geheimdienstchef. Datiert wird das Essen auf Ende der Neunzigerjahre: «wahrscheinlich 1999».
1410Giftgasbilder im «Pentagon»
1411Ceppi erzählt so anschaulich, als wäre er bei Tisch gesessen. Er kennt die Hauptspeise und beschreibt Thirions stahlblaue Augen - gerade richtig für einen früheren Spionagechef. Selbst Reglis Frau Irene kommt vor, und nicht einmal der Sonnenuntergang fehlt. Dumm ist nur, dass Peter und Irene Regli Thirions Restaurant nie im Leben betraten. Und im Jahr 1999 hielten sich die beiden nicht in Südafrika auf.195
1412Knüppeldick kommt es auf der ersten vollen Textseite. Ceppi berichtet detailliert, was ihm Thirion über das Zustandekommen des Geheimvertrages rapportiert habe. 1986, vermutlich im
1413Herbst, habe im Hauptquartier des Schweizer Nachrichtendienstes eine Besprechung stattgefunden. Im «Pentagon» an der Berner Papiermühlestrasse 20 hätten Thirion und zwei seiner Mitarbeiter den Gastgebern Bilder von Giftgasopfern vorgelegt.
1414Das Abkommen - und Basson
1415Dann zitiert Ceppi seinen Kronzeugen Thirion, der in der Wir- Form spricht, weil die Südafrikaner zu dritt aufgetreten seien: «Wir baten sie» - gemeint ist der Schweizer Geheimdienst - «darum, uns mit ihrem Wissen bei der Verteidigung zu unterstützen. Ich betone
1416ausdrücklich, bei der Verteidigung. Sie waren bereit, uns zu helfen. In Südafrika haben wir dann unter strengster Geheimhaltung einen Bericht verfasst. Ich erinnere mich sehr gut, dass einige Punkte Gegenstand von Verhand- lungen waren und dass wir von den Schweizern eine schriftliche Bestätigung erhielten. Dieses Abkommen war sehr wichtig für uns. Ich bin überzeugt, dass Peter Regli davon wusste.»
1417Noch einmal hebt Thirion das Abkommen im nächsten Abschnitt hervor: «Sobald die Übereinkunft getroffen war, verschwand die Akte von unseren Schreibtischen und wurde denjenigen übergeben, die das
1418Abkommen umsetzen sollten. Ihre Aufgabe war es, ein Programm für die konkrete Zusammenarbeit zu erstellen. Wir wussten, dass die Sache mit den Schweizern laufen würde.» Nicht fehlen darf dann Wouter Basson, der «Dr. Death»: «Wir haben Basson den Weg bereitet», schliesst Thirion, «und er hat seine Mission erfüllt.»
1419Hart dementiert
1420Peter Regli dementierte Ceppis Artikel sofort nach dem Erscheinen, und auch Chris Thirion nahm umgehend Abstand vom Inhalt. In einem Brief an Regli hält er fest, er habe Ceppi keine derartigen Auskünfte erteilt. Und er bestätigt ausdrücklich: Es gab kein
1421Geheimabkommen ausser dem Vertrag von 1983 zum Informationsschutz.196
1422Damit stand - einmal mehr - Aussage gegen Aussage .Auf der einen Seite hatte sich Ceppi in seiner Reportage ausdrücklich auf Thirion berufen und das Zustandekommen des Abkommens in plastischer Anschaulichkeit geschildert. Auf der Gegenseite setzten sich Regli und Thirion zur Wehr; sie stellten Ceppis ganze Geschichte hart in Abrede.
1423In dieser extremen Konfrontation war es gar nicht so abwegig, dass Professor Schweizer und die Geschäftsprüfungsdelegation den Fall noch einmal untersuchten. Im August
14241998 hatten die Schweizer Grossbanken mit dem Jüdischen Weltkongress ein Abkommen geschlossen, in dem sie sich verpflichteten, den Überlebenden des Holocausts eine Entschädigung zu bezahlen. In den Jahren 2000 und 2001 wurden in Südafrika Stimmen laut, die von der Schweiz eine ähnliche Entschädigung für die Opfer des dortigen Bürgerkriegs forderten. Selbst im Nationalrat erhob sich auf der politischen Linken wieder die Forderung, die Schweiz müsse «Gerechtigkeit walten lassen».
1425So betrachtet, mag es angemessen gewesen sein, dass die Untersuchung von 1999 durch die beiden Abklärungen
1426von 2002 und 2003 ergänzt, erweitert und vertieft wurden. Was das Geheimabkommen betrifft, Hessen die Ergebnisse beider Untersuchungen an Deutlichkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrig.
1427Schweizer: «Kein Abkommen»
1428Rainer Schweizer veröffentlichte seinen 154-seitigen Bericht am 20. Dezember 2002. Zum angeblichen Geheimvertrag schreibt er wörtlich: «Zwischen den südafrikanischen Nachrichtendiensten und dem schweizerischen Nachrichtendienst gab es kein geheimes Abkommen über die Zusammenarbeit. Es wurde nur 1983 mit den anderen Partnerdiensten ein
1429Informationsschutzabkommen geschlossen, das nach einem Standard verschiedene formelle Geheimhaltungsverpflichtungen festschreibt und das übrigens noch heute gilt.»197
1430Zur Verdächtigung, die Schweiz habe das Projekt «Coast» gefördert, hält Schweizer fest: «Divisionär Peter Regli und dem schweizerischen Nachrichtendienst kann meines Erachtens keine aktive Beteiligung an Geschäften des Dr.Wouter Basson vorgeworfen werden.»
1431Scharf geht Schweizer mit Regli ins Gericht, weil dieser «zahlreiche
1432Unterlagen, entgegen den geltenden Archivierungsvorschriften, routinemässig oder gezielt vernichtet» habe: «Zwischen 1992 und 1997 wurden, ob aus angenommenen Datenschutz-, Geheimhaltungs- oder nur aus Platzgründen, die so wichtigen Protokolle über die Kontakte mit anderen Diensten, soweit diese mehr als fünf Jahre zurücklagen, vernichtet.» Regli hielt Schweizer entgegen, unter den bestehenden Geheimschutzabkommen sei er den Partnerdiensten gegenüber verpflichtet gewesen, die Akten nach fünf Jahren zu vernichten. Die Vernichtung habe vollumfänglich den geheimdienstlichen Vorschriften und Usanzen
1433entsprochen.198
1434Authentizität bestritten
1435Die Geschäftsprüfungsdelegation arbeitete fast zwei Jahre lang an ihrem Bericht, den sie am 18.August 2003 freigab.Was das angebliche Geheimabkommen angeht, kommt das 152-seitige Dokument zum Schluss: «Die Delegation fand keinen Hinweis auf die Existenz einer geheimen - schriftlichen oder mündlichen - Vereinbarung zwischen dem Schweizer Nachrichtendienst und Südafrika im biologischen oder chemischen Bereich. Die einzige geheime Vereinbarung zwischen der Schweiz und Südafrika besteht aus einem
1436Informationsschutzabkommen, wie es mit vielen anderen Staaten existiert.»199
1437Die Delegation beruft sich auf Anton Ackermann200, den Chefankläger im Prozess gegen Wouter Basson, der die Generäle Dirk Verbeek, Christoffel van der Westhuizen, Witkop Badenhorst und Chris Thirion einvernommen hatte. Sie alle hätten «klar und deutlich» ausgesagt, dass ein Geheimabkommen nicht existierte. Von Thirion führt die Delegation zudem ein Schriftstück an, wonach es nie einen Vertrag gegeben habe: «There was no contract thing or an agreement.»201
1438Wörtlich schreibt die Delegation, keine
1439einzige von ihr angehörte Person habe Kenntnis von einem Abkommen mit Südafrika gehabt. Die Delegation sehe keine Veranlassung, an diesen Aussagen zu zweifeln. Ausdrücklich distanziert sich die Delegation von Ceppis Gespräch mit Thirion: «Mit Ausnahme der Aussage im zitierten Interview202, deren Authentizität von General Thirion ausdrücklich bestritten wurde, besteht nicht der geringste Anhaltspunkt für die Existenz eines Abkommens. Abgesehen davon, hätte der Abschluss einer entsprechenden Vereinbarung keinen Sinn gemacht, da die Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten ohnehin auf mündlicher Absprache beruht und der Abschluss formeller Verträge weder
1440erforderlich ist noch gängiger Praxis entspricht.»
1441Dem Divisionär Regli hält die Delegation vor, er hätte Wouter Basson nicht empfangen dürfen. Anderseits schreibt sie, es gebe keine Hinweise darauf, «an der Rechtschaffenheit Reglis zu zweifeln».
1442Antwort auf Grundfrage
1443Und zur kritischen Frage, ob die Schweiz Bassons tödliches Programm förderte oder nicht, hält der Schlussbericht fest: «Die Delegation hat keinen Hinweis darauf gefunden, dass Divisionär Peter Regli oder Dienststellen des Bundes beim Aufbau
1444des südafrikanischen Biologie- und Chemiewaffenprogramms («Coast»- Projekt) in irgendeiner Weise beteiligt gewesen waren. Auch waren keine Angestellten und keine Dienststellen des Bundes in Handlungen involviert, die zur Verletzung der Menschenrechte führten oder dazu beitrugen.»
1445Dem ist, nach den wahrhaft erschöpfenden Untersuchungen von 1999,2002 und 2003, nichts beizufügen.
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1448Die Akte Dino Bellas!
1449Hunderte von Waffen entdeckt - für Geheimarmee?
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1457Fusionitis
1458Geht Coop an die
1459Sérse?
1460SEITE 8 ; Unterschätzt
1461Wehe, wenn die Schweiz bebt
1462SEITE 20
1463
1464Am 22. August 1999 löst der Sonntagsblick in der Bellasi-Affäre die Kampagne gegen den Nachrichtenchef Regli aus.
1465Pressekonferenz im Bundeshaus: Oswald Sigg, Peter Regli,Adolf Ogi. Regli verteidigt sich gegen Dino Bellasis Anschuldigungen.
1466
1467Nati-Gress heute am BLICK-®
1468Rufen Sie an IM SPORT Betrüger Bellasi
1469Del Ponte klopfte i Ihn weicit
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1476
1477Die Bundesanwältin Carla del Ponte «klopfte» den Betrüger Bellasi «weich»: Der Blick meldet Bellasis Geständnis.
1478
147927. Januar 2003: Divisionär Peter Regli und Herbert Thoenen, sein Anwalt, vor dem Bellasi-Prozess in Bern.
1480
1481 31 .Januar 2003: Der Angeklagte Dino Bellasi auf dem Weg zum Berner Obergericht. Hinten der Gefängniswagen.
1482TAGES-ANZEIGER
1483DIE AKTE REGLI
1484Was der Schweizer Geheimdienstchef wusste
1485Das Titelblatt des Tages-Anzeiger- Magazins vom 27. Oktober 2001 weist auf Jean-Philippe Ceppis Artikel über Peter Regli hin.
1486ACHTER TEIL Russische Katastrophen 22 Der Untergang der Kursk
1487«Wir haben keine Chance, 10 bis 20 Prozent.»TM (Dmitri Kolesnikow, 12.August 2000)
1488«Wir haben keinerlei Hinweise aufVerletzte und Tote.»204 (IgorDygalo, 14.August 2000)
1489«Die Operation zur Evakuierung der Mannschaft hat begonnen,»205 (Igor Sergejew, 15. August 2000)
1490«Bereits am ersten Tag war klar, dass es
1491auf der Kursk keine Überlebenden mehr gab.»1'"' (Ilja Kle- banow, 19- September 2000)
1492Zar Alexander III. pflegte im 19- Jahrhundert zu prahlen, Russland habe zwei starke Freunde in der Welt: die russische Armee und die russische Flotte. Seither sind mit den Kampfbombern und den Atomraketen Freunde hinzugekommen; aber die Marine hat ihr Prestige behauptet. «Wenn die Flotte stark war», clrölmte Präsident Wladimir Putin am 23. Juli 2000, «dann erhob sich Russland und dann war Russland eine Grossmacht.»207
1493Drei Wochen nach Putins Worten sank in
1494der Barentssee das Atom-Unterseeboot Kursk208, der Stolz der russischen Nordflotte. Das Boot riss 117 Seeleute und einen zivilen Ingenieur in den Tod. Die Katastrophe ereignete sich zu Beginn eines Seemanövers, in deren Verlauf die Kursk im scharfen Schuss neue Torpedos erproben sollte. In der Informationsführung verhielten sich die russischen Admiräle, als ob die Sowjetunion noch bestünde. Schon intern drang die Wahrheit nur mühsam durch, und gegen aussen log die Marine, dass sich die Balken bogen. Es schien, als ob noch immer Stalins alte Devise gelte: Wenn sich eine Katastrophe ereignet, dann vertusche sie und modelliere die «Tatsachen» nach der
1495politischen Zweckmässigkeit.
1496
1497
1498Zwei Detonationen
1499Am Samstag, dem 12. August 2000, zeichnete die seismologi- sche Station von Karasjok ganz im Norden von Norwegen zwei Explosionen auf. Die Detonationen stammten aus der Barents- see, in der die russische Nordflotte ihr Manöver abhielt. Die erste Explosion erfolgte um 11 Uhr, 28 Minuten und 27 Sekunden Moskauer Zeit und war schon von beträchtlichem Aus- mass. 2 Minuten und 15 Sekunden später war die zweite, noch gewaltigere Detonation zu spüren; sie hatte die Stärke eines kleinen Erdbebens.209
1500Allerdings rüttelten die heftigen Ausschläge auf dem Diagramm die
1501norwegischen Seismologen erst am Montag auf; über das Wochenende war die Messstation von Karasjok unbesetzt. Schleppend verlief auch der Nachrichtenfluss innerhalb der russischen Hierarchie. Präsident Putin hielt sich am Schwarzen Meer im Badeort Sotschi auf und erhielt die erste Nachricht erst am Sonntag, dem 13.August, morgens um 7 Uhr - fast 20 Stunden nach der Katastrophe.
1502Nur die halbe Wahrheit
1503Es ist Verteidigungsminister Igor Sergejew, der dem Präsidenten die Hiobsbotschaft überbringt. Putin mag Sergejew nicht, er kooperiert lieber mit
1504Anatolij Kwaschin, dem Stabschef der russischen Streitkräfte. Sergejew hatte in der Nacht mit Ad- miral Wladimir Kurojedow darum gerungen, wer den Präsidenten benachrichtigen müsse - Kurojedow, der Oberbefehlshaber der Marine, spielte den Ball Sergejew zu. Sergejew verschwieg Putin die Wahrheit: Zur Sorge bestehe kein Anlass, die Rettungskräfte seien unterwegs, die Bergung werde eingeleitet. Putin erkundigte sich nach dem Zustand der Atomreaktoren, worauf ihn Sergejew beruhigte: Ein radioaktives Leck werde nicht entstehen.
1505Was aber wusste Sergejew? Es ist denkbar, dass auch er die ganze
1506Wahrheit nicht kannte: dass schon Kurojedow ihm gegenüber die Lage beschönigt hatte. Der Kommandant der russischen Flotte wollte die Marine zu alten Ehren zurückführen und strebte selber das Amt des Verteidigungsministers an. Hohe russische Offiziere halten es für möglich, dass Kurojedow eher untertrieb, als er Sergejew ein erstes Mal über den Untergang der Kursk unterrichtete.210
1507Als sicher gilt, dass Kurojedow von Admirai Wjatsches- law Popow, dem Kommandanten der Nordflotte, korrekt informiert worden war. Popow erfasste die Tragweite des Unglücks, als er
1508Kurojedow unterrichtete. Aber von Kurojedow an muss die Information schleppend und verfälscht gelaufen zu sein. Putin jedenfalls erfuhr die bittere, die ganze Wahrheit erst am Mittwoch, dem 16. August - vier Tage nach der Katastrophe.
1509Träge setzt die Rettung ein
1510Was sich am 12.August an Bord der Kursk ereignet hatte, kam nur langsam, bruchstückhaft zu Tage. Zum Verhängnis wurden dem Boot die Torpedo-Versuche in einer vorderen Kammer. Um 11.28 Uhr ereignete sich die erste schwere, aber noch nicht «tödliche» Explosion, welche dann die zweite, die verheerende Detonation auslöste, die das Boot in die
1511Tiefe riss.
1512Die ersten Sektionen der Kursk waren zerstört, die Schotten bis zum vierten Abteil eingedrückt, und in das Schiffsinnere raste das Meerwasser, das den Bug nach unten drückte.
1513In einer Tiefe von 108 Metern schlug die Kursk auf dem Meeresgrund in den Schlamm. Der massige, stählerne Körper vibrierte ein letztes Mal, bevor das Boot waagrecht im Schlick zur Ruhe kam. Fortan lag die Kursk auf 69 Grad 36 Minuten nördlicher Breite und 37 Grad 34 Minuten östlicher Länge in tödlicher Tiefe. 108 Meter unter dem Meeresspiegel ist der Wasserdruck so
1514gross, dass es für die Besatzung ohne fremde Hilfe kein Entrinnen mehr gab.
1515So dreist die russischen Offiziere logen, so träge verliefen ihre Bergungsversuche. Das Rettungsschiff Michail Rud- nizki erreichte den Unfallort erst am 13.August am Vormittag. Es wird 12.17 Uhr, bis die Retter die ersten akustischen Signale in die Tiefe schicken.Aber erst um 16.20 Uhr empfangen sie automatische Signale aus der Notstation der Kursk, die 2200 Meter vom Rettungsschiff entfernt ist. Um 17.48 Uhr wird die Tauchkapsel AS-34 ins Wasser gelassen; doch um 18.32 Uhr muss sie wieder auftauchen, nachdem sie selber einen Unfall erlitten
1516hat.
1517Auch die Retter werden angelogen
1518Von da an scheitern alle Bergungsversuche. Britische und norwegische Retter211 bieten schon am Wochenende ihre Hilfe an; allein es wird Mittwoch, bis Präsident Putin - schlecht informiert, wie er ist - die dargebotene Hand ergreift. Noch immer unterliegen die Kursk und ihre Technologie der Geheimhaltung, und es braucht alarmierende Meldungen, bis Putin, der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte, die Hilfe von aussen zulässt.Aber da ist es schon zu spät.212
1519Und als norwegische Taucher endlich zur Kursk hinabsteigen, erschweren die russischen Offiziere die Rettungsaktion. Auch gegenüber den ausländischen Helfern verschleiern sie die Wahrheit. Der norwegische Vizeadmiral Einar Skorgen klagt: «Die Russen haben uns mit so irreführender Information versehen, dass das Leben der Taucher in Gefahr war.» So hiess es von russischer Seite, am Meeresgrund herrsche eine starke Strömung von drei Knoten, und die Sicht sei schlecht. In Tat und Wahrheit fanden die Taucher gute Bedingungen vor. «Das war reine Desinformation», hält Skorgen fest, «wären die Umstände so miserabel gewesen, dann hätten wir gar nicht
1520angefangen.» Bestätigt wird die harte Aussage im Logbuch der Rettungsoperation, das wörtlich vermerkt: «Minimale Grundströmung, Sicht acht bis zehn Meter.»213
1521«Grüsse an aile»
1522Als falsch erweist sich auch die russische Angabe, das Boot habe eine Schräglage von 60 Grad und stecke mit dem Bug nach unten bei einer Neigung von 25 Grad im Schlamm. Wie die norwegischen Taucher melden, liegt die Kursk flach auf dem Grund. Und unzutreffend sind die Angaben, wonach das Notausstiegsluk beschädigt sei. Skorgen meldet, das Luk sei samt Andockring intakt - eine Aussage, die
1523das Kommando der Nordflotte empört als «absurd» dementiert.
1524Katastrophal verläuft die Information nach aussen. Im Brennpunkt steht dabei das Schicksal der 118 Mann an Bord der Kursk. Die zweite Explosion muss im Bug des Bootes zahlreiche Besatzungsmitglieder getötet haben. Im Heck überlebten aber mindestens 23 Seeleute die Detonation, bis sie erstickten. Vom Kapitänleutnant Dmitri Kolesnikow wurde später ein Brief an seine Frau Olga gefunden, der belegt, dass nicht alle Männer sofort starben.
1525Kolesnikow schrieb gut vier Stunden nach dem Untergang der Kursk mit einem
1526Kugelschreiber auf einem linierten Zettel: «12.08.2000. 15.45 Uhr. Hier ist es zu dunkel um zu schreiben, aber ich versuche es nach Gefühl. Wir haben keine Chance, 10 bis 20 Prozent. Wir hoffen, dass dies irgendwer lesen wird. Hier ist eine Liste der Besatzungsmitglieder der
1527Sektionen, die sich in der neunten Kammer befinden und versuchen werden auszusteigen. Griisse an alle, verzweifelt nicht. Kolesnikow.» Dann folgt die Aufzählung der 23 Seemänner, die im Heck des Schiffes überlebt hatten. Auf der Rückseite des Zettels grüsst Kolesnikow seine Frau, seine Eltern und seine Schwiegermutter.214
1528«Alle in Sicherheit»
1529In Anbetracht der Tatsache, dass ein Teil der Besatzung sofort starb und andere überlebten, bis sie erstickten, blieb die russische Information von der Wahrheit weit entfernt. Erste amtliche Meldungen sprachen nur von Betriebsstörungen, nicht vom Untergang. Es gebe eine Funkverbindung zum Boot und Kontakt mit der Besatzung. «Wir haben keinerlei Hinweise auf Verletzte oder Tote», berichtete Igor Dygalo, der Sprecher der russischen Marine. Die Flotte gebe das havarierte Unterseeboot nicht auf, und die Mannschaft sei nicht in Gefahr.Alle Seeleute befänden sich in Sicherheit.
1530Noch in der Unglückswoche betraute Präsident Putin den Vizepremier Ilja Klebanow mit der Untersuchung der Katastrophe. In diametralem Gegensatz zu all den Meldungen, welche die Flotte vom 12. bis zum 21.August ausgestreut hatte, verkündete Klebanow am 19- September: «Bereits am ersten Tag war klar, dass es auf der Kursk keine Überlebenden mehr gab.» Das stimmte zwar auch nicht ganz - Kolesnikows Notiz beweist das Gegenteil -, aber es kam der Wahrheit etwas näher als das Lügengebilde der Kriegsmarine.
1531Mechanische Klopfzeichen
1532Wiederholt erwähnte die Nordflotte Klopfzeichen aus der Kursk. «Die
1533Mannschaft sendet SOS-Signale», behauptete Admi- ral Kurojedow.Aus den Klopfzeichen wurde eine «hydroakustische Verbindung», die nicht mehr abreisse: «Das bedeutet, dass die Mannschaft lebt.» Später stellt sich heraus, dass es zu keinem Zeitpunkt menschliche Klopfzeichen gab .Alles, was zu hören war, kam vom Notsystem Majak, das mechanische Klopfzeichen aussandte.
1534Widersprüchlich waren auch die Angaben zum Sauerstoffvorrat an Bord der Kursk. Igor Baranow, der Chefkonstrukteur des Bootes, sprach von Anfang an von höchstens fünf Tagen. Damit hätte der Sauerstoff bis zum 17.
1535August gereicht. Admiral Kurojedow dagegen beharrte auf 13 Tagen, womit die unversehrte Besatzung bis zum 25.August überlebt hätte.Wie man heute weiss, hatte Baranow Recht.
1536Amerikanisches «Mörderboot»
1537Am 14. August behauptete die Nordflotte, sie führe der Kursk Treibstoff und Sauerstoff zu. Treibstoff brauchte das Boot als atomar angetriebenes Schiff nicht. Sauerstoff wurde zu keinem Zeitpunkt zur Kursk geleitet. Der einzige Andockversuch wurde abgebrochen.Am 16.August gab Kurojedow bekannt, er lasse das Boot mit Luftkissen an die Oberfläche drücken.Auch das stimmte nicht; von
1538ihrer Grösse und ihrem Gewicht her war die Kursk für ein solches Manöver zu massig und zu schwer. Den Coup der Desinformation jedoch hatte Marschall Serge- jew gelandet, als er am 15.August verkündete: «Die Operation zur Evakuierung der Mannschaft hat begonnen.»
1539Wer aber war verantwortlich für die Katastrophe? Am liebsten hätte die russische Marine die Schuld den Amerikanern in die Schuhe geschoben. Am 12. August überwachten amerikanische Unterseeboote die Manöver der russischen 1. U-Boot- Flottille.Auch die Kursk wurde eng beschattet, und aus der Zeit des Kalten
1540Krieges waren Zusammenstösse zwischen sowjetischen und amerikanischen Unterseebooten noch in Erinnerung.215 Da bot sich nach dem Untergang der Kursk das amerikanische Jagd-U-Boot Memphis als «Mörderboot» an, wie es von der russischen Presse tituliert wurde. Die Memphis, ein Schiff der Los-Angeles- Klasse, hatte die Flottenmanöver in der Barentssee belauscht und lief am 18. August in den norwegischen Militärhafen von Bergen ein. Sie war indessen unbeschädigt, und ihr Besuch war schon zwei Monate vor dem russischen Manöver vereinbart worden und verlief routinemäs- sig. Die Memphis wies keine Schäden auf: Sie
1541konnte die weit stärkere Kursk unmöglich gerammt haben.
1542Gegen die These, die Amerikaner trügen die Schuld, wehrten sich auch die russischen Konstrukteure. Im Namen der Petersburger Rubin-Werke warf Igor Baranow die Frage auf, weshalb bei Zusammenstössen immer das russische Boot sinke. Die Rubin-Schiffe hätten zwei Schalen, die amerikanischen Boote nur eine. Die Kursk sei viel stabiler gebaut als etwa die Memphis: «Wären die Memphis und die Kursk aufeinander geprallt, dann hätte die Memphis, nicht die Kursk untergehen müssen.»
1543Mückenstich
1544Als zweite Schutzbehauptung führte das Flottenkommando in Moskau die These ins Feld, die Kursk sei mit einer Seemine aus dem Zweiten Weltkrieg zusammengestossen. Die Gewässer, in denen das Boot auf Grund lief, waren indessen so gut wie frei von Minen. Selbst wenn es dort noch Minen aus den Jahren vor 1945 gegeben hätte, wäre es nicht sicher, dass eine derart alte Mine die Doppelschale der Kursk durchbrochen hätte.
1545Ehrlicher argumentierten da die örtlichen Kommandanten. Admiral Michail Kusnezow, der Chef der 7. U- Boot-Divisi- on, erinnerte daran, dass die Kursk selbst eine leichte
1546Atomexplosion hätte aushalten müssen, und der Kapitän zur See Alexander Leskow fand den plastischen Vergleich: «Der Zusammenprall der Kursk mit einer Mine, das ist wie ein Mückenstich in einen Elefantenhintern.»
1547Als dritte These geisterte das Gerücht durch die Medien, der russische Schwere Kreuzer Peter der Grosse habe die Kursk versehentlich versenkt. Der Kreuzer habe auf einen simulierten Tropedo-Angriff der Kursk mit einer Raketen- Attacke reagiert, wobei ein Granit-Marschflugkörper das U- Boot getroffen habe. Die Ursache sei entweder ein Fehler im Suchkopf des Cruise Missile oder dann ein Versagen
1548der Freund-Feind-Erkennung gewesen. Allerdings waren die Granit-Flugkörper im Jahr 2000 nur für den Einsatz über Wasser konzipiert, und scharfe Sprengköpfe brachte der Kreuzer Peter der Grosse im Manöver nicht zum Abschuss.
1549Spritze für aufgebrachte Mutter
1550In Tat und Wahrheit waren es weder die Memphis noch der russische Kreuzer noch eine Seemine, welche die Kursk am 12. August ins Verderben rissen, sondern die Explosionen an Bord des U- Bootes selbst. Wie die norwegischen Seismologen berechneten, entsprach die erste Detonation um 11.28 Uhr einem Äquivalent von 150 Kilogramm
1551Sprengstoff, was auf der Richterskala zu einem Ausschlag von 1,5 Punkten führte. Die zweite, die vernichtende Explosion ergab um 11.30 Uhr ein Äquivalent von sieben Tonnen Sprengstoff und erreichte auf der Richterskala 3,5 Punkte. Das waren die Ursachen für die Tragödie in der Barentssee.
1552So schwer sich die russische Marine mit der Wahrheit tat, so schlecht behandelte sie die Angehörigen der Opfer. Am 21 .August, neun Tage nach dem Untergang, gab Admiral Popow in gedrückter Stimmung zu, für die 118 Mann an Bord bestehe keine Hoffnung mehr; er breche die Rettungsaktion ab. Die Eltern, Frauen und Kinder der Seeleute waren
1553inzwischen aus ganz Russland in Murmansk eingetroffen, wo sie mit knappen Informationen abgespeist wurden. Als sich Nadeschda Tylik, die Mutter des Oberleutnants Sergej Tylik, lautstark wehrte, verpasste ihr eine Krankenschwester eine Spritze in den Rücken, die sie zum Schweigen brachte. Das Bild von der aufgebrachten, dann überwältigten Frau ging um die Welt und entlarvte den Zynismus der russischen Führung.
1554Wenn Putin früher reagiert hätte?
1555Am 9- Oktober 2001 wurde die Kursk gehoben, und die Toten erhielten ein soldatisches Begräbnis. Marschall Sergejew verlor seine Stellung als
1556Verteidigungsminister, und Admiral Kuro- jedow musste seine Ambitionen beerdigen. In der Nord- und der U-Boot- Flotte verloren mehrere hohe Offiziere ihr Kommando, und amtlich unbeantwortet blieb die Frage, weshalb die Rettung so versagt hatte. Nach und nach wurde bekannt, dass die alte sowjetische Flotte gutes Rettungsgerät besessen hatte; von 1991 an wurde das Material jedoch vernachlässigt, weil die Marine sparen musste.
1557Gerätselt wurde schliesslich auch über die Kardinalfrage: Hätte Präsident Putin einen Teil der Besatzung retten können, wenn er richtig informiert worden wäre und wenn er die ausländischen
1558Hilfsangebote rechtzeitig angenommen hätte? Die norwegischen und britischen Retter sagen Ja; aber in Anbetracht der Tragödie der Kursk ist es müssig, darüber noch zu spekulieren.
155923 Der GAU von Tschernobyl
1560«Nach Ansicht der Dritten Hauptverwaltung des Gesundheitsministeriums sind besondere Massnahmen ivie die Evakuierung der Bevölkerung nicht erforderlich.»216 (Bericht an das Zentralkomitee der KPdSU, 26. April 1986)
1561«Wir müssen so bald wie möglich eine Mitteilung erlassen, das dürfen ivir nicht aufschieben.»211 (Michail
1562Gorbatschow, 28. April 1986)
1563«Bei dem Unfall starben zwei Menschen.»2TM (Politbüro der KPdSU, 29. April 1986)
1564«Glauben zu wollen, wir könnten es mit Halbwahrheiten bewenden lassen, war völlig abwegig. Feigheit ist unwürdige Politik,»219 (Michail Gorbatschow, 1988)
1565Die Sowjetunion trat in den atomaren Wettlauf am 29. August 1949 ein, als die Rote Armee morgens um 7 Uhr zum ersten Mal eine Nuklearbombe zündete. Diese erste Explosion wurde gebührend bekannt gemacht - die Welt sollte wissen, dass die Vereinigten Staaten das
1566atomare Monopol verloren hatten.
1567Sonst aber hütete die sowjetische Führung ihre Kernwaffen als Staatsgeheimnis. Am 14. September 1954 brachte die Rote Armee über einem Versuchsgelände bei der westsibirischen Stadt Tschalkow (später Orenburg) eine Atombombe zur Explosion. Die Detonation erfolgte während einer Truppenübung unter Leitung von Marschall Georgij Schukow. Vor dem Abwurf waren die Einwohner der Dörfer Jelschanka, Orlowka, Iwanowka und Machowka evakuiert worden; zurück blieben Kühe, Pferde, Kamele und Schafe.
1568Eine Tupolew-4-Maschine warf aus
15699000 Metern Höhe eine Atombombe ab, die zur Zündung auf 350 Meter Bodenabstand tempiert war. Überall auf dem Gelände war Militärgerät verstreut, und nach der Explosion fuhren Soldaten in Panzern durch das Epizentrum. Der monströse Versuch blieb geheim. Erst 1994, nach 40 Jahren, entschädigte die russische Regierung die Opfer in bescheidenem Umfang.220
1570Der Atomunfall von Tscheljabinsk
1571Drei Jahre später, am 29- September 1957, kam es am Ural, in der Nähe von Tscheljabinsk, zu einem schweren Atomunfall. In der Waffenplutoniumfabrik Nr. 817
1572explodierte ein Tank mit einer radioaktiven Lösung. Der Vorfall wurde geheim gehalten. Das Fabrikgelände, eine nahe Kaserne, ein Konzentrationslager und die Dörfer Berdjaniki, Saltykowo und Golikajewo waren ungeschützt der Strahlung ausgesetzt. Rund 20'000 Quadratkilometer, eine Fläche so gross wie die halbe Schweiz, war von Strontium-90 verseucht.
1573Das Politbüro der KPdSU wurde am 7. Oktober über den Unfall unterrichtet, und erst am 19- Oktober traf es Massnahmen: Es ordnete die Evakuierung der betroffenen Dörfer auf den 1. März 1958 an, liess ein paar
1574Schutzhütten bauen und die Strahlendosis messen. Da die örtlichen Behörden den LJn- fall vertuschten, erfuhr die Bevölkerung nicht, wie stark sie verstrahlt wurde. Später verschwanden dann ganze Dörfer und Städte von der Landkarte, und noch heute besteht eine Sperrzone, zu der niemand Zutritt hat.
1575Der grösste anzunehmende Atomunfall ereignete sich in der Nacht zum 26. April 1986 in Tschernobyl, 130 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Um 1.23 Uhr zerstörte eine Wasserstoffexplosion im vierten Block des Kernkraftwerks das Reaktorgehäuse221. Die Brennstäbe
1576schmolzen und setzten eine Strahlung von 50 Millionen Curie frei - 40 Mal mehr als beim Atombombenabwurf auf Hiroshima am 6. August 1945.
1577Tödliche Fehler
1578Am 25. April hatten die Ingenieure eine Störfallübung vorbereitet. Sie wollten ein Leck in der Reaktorkühlung simulieren und den Strom abschalten. Das Szenario sah die Notabschaltung des Reaktorblocks vor. Die Verantwortlichen nahmen an, dass die auslaufenden Generatoren noch genügend Energie abgeben würden, bis die Notstromgruppen aufgeschaltet waren.
1579In der Übung jedoch kam es zu einer Kette von Fehlern. Die Ingenieure versuchten, die Wärmeleistung des «beübten» Reaktors langsam zu drosseln; doch sofort stürzte die Leistung ab. Nun hätten die Probier dringend die Notabschaltung vornehmen müssen. Stattdessen heizten sie die nukleare Reaktion noch an. Um 1.23 Uhr schalteten sie die Kühlpumpen ab, worauf sich die Reaktorleistung innert Augenblicken verhundertfachte und die Kühlmittel verdampften.
1580Späte Evakuation
1581Die Explosion hob den Reaktordeckel ab, und 70 Tonnen atomarer Brennstoff traten schlagartig aus. In heldenhaftem
1582Einsatz löschte die Werkfeuerwehr den Brand. Aber die Feuerwehrmänner harrten viel zu lang im flammenden Inferno aus. Es wurde 5 Uhr, bis der Kommandant zum Rückzug blies. Drei volle Stunden im hoch verseuchten Reaktor waren zu viel. Mehrere Dutzend Männer wurden unrettbar verstrahlt.
1583Im ausgebrannten Reaktor wurde weitere Radioaktivität frei. Wie ein Leichentuch breitete sich die Strahlung über die Region aus. Aber erneut versagte die Information. Viel zu spät ordneten die Behörden die Evakuierung der tödlich gefährdeten Bevölkerung an. Erst am 28 .April, zwei Tage nach der Explosion, verliessen die verstrahlten Einwohner
1584von Tschernobyl und Pripjat ihre Ortschaften.
1585Alarm in Schweden
1586Das Moskauer Energieministerium erfuhr am 26. April vom Atomunfall im Verlauf des Morgens. Am Nachmittag unterrichtete der stellvertretende Energieminister das Zentralkomitee der KPdSU. Er beschönigte die Katastrophe grobfahrlässig: «Nach Ansicht der Dritten Hauptverwaltung des Gesundheitsministeriums sind besondere Massnahmen wie die Evakuierung der Bevölkerung nicht erforderlich.»
1587Im Westen entdeckten schwedische Ingenieure den GAU am frühen Morgen
1588des 28. April. Im Kernkraftwerk von Forsmark schlugen die Geigerzähler gewaltig aus, aber nicht im Reaktor, sondern draussen vor den Hallen. Der Südostwind blies, und alles deutete auf eine Katastrophe in einem der veralteten Reaktoren der Ukraine hin - mehr als 50 Stunden nach dem GAU schlug Schweden Alarm.
1589Karges Bulletin
1590Nun forderte das Ausland Erklärungen von der Sowjetunion, doch noch immer hüllte sich die sowjetische Führung in Schweigen. Um 11 Uhr, Stunden nach dem schwedischen Alarm, trat endlich das Politbüro zusammen.Wladimir Dolgich, ein Kandidat für das Politbüro,
1591verharmloste die Lage erneut. Das Gespräch der Laien verlor sich in einer hilflosen Diskussion über Sandsäcke, Blei und Reaktortemperaturen, bis Michail Gorbatschow, der Generalsekretär der KPdSU, imperativ ver- langte: «Wir müssen so bald wie möglich eine Mitteilung herausgeben, das dürfen wir nicht aufschieben.» Die Politbüromitglieder Jegor Ligatschow und Alexander Jakowlew unterstützten Gorbatschow, worauf sich das Politbüro zu einem kargen, ersten Bulletin durchrang.
1592Aber noch einmal vergingen Stunden, bis die Sowjetführung das Unglück eingestand, das ihre eigene Bevölkerung
1593und die Nachbarländer bedrohte. Spät um 21.08 Uhr verbreiteten das staatliche Radio und das Sowjetfernsehen die knappe Mitteilung, in Tschernobyl habe sich eine «Havarie»222 ereignet. Die notwendigen Massnahmen seien eingeleitet worden. Warnungen erfolgten nicht einmal, als in der Ukraine, in Weissrussland und den baltischen Republiken, in Polen und Skandinavien längst eine erhöhte Radioaktivität gemessen wurde.
1594«Zwei Menschen starben»
1595Am 29. April tagte das Politbüro erneut. Gorbatschow eröffnete das Gespräch mit der Frage: «Reagieren wir nachdrücklich genug - so wie die Staaten
1596um uns herum?» Dolgich spielte die Katastrophe noch einmal hinab, aber Gorbatschow verlangte ein zweites, genaueres und ausführlicheres Bulletin. Das Büro einigte sich auf einen Text, der allerdings wieder zu wünschen übrig liess.Wie der russische Historiker Dimitri Wölkogonow schreibt, war die Mitteilung in Worte gefasst, «mit denen man einen gewöhnlichen Brand in einem Lagerhaus hätte bekanntgeben können».223
1597Der Wörtlaut ist dürr. Der Leser kommt nicht auf die Idee, dass sich in Tschernobyl eine Jahrhunderttragödie abgespielt hatte: «Der Unfall geschah in einem der Bereiche von Block 4 und
1598hatte die Zerstörung des Reaktorgehäuses, die Beschädigung des Reaktors selbst und ein gewisses Austreten von radioaktiven Stoffen zur Folge. Die drei verbleibenden
1599Blöcke wurden abgeschaltet und sind in gutem Zustand. Bei dem Unfall starben zwei Menschen. Sofortmassnahmen zur Behebung der Panne wurden ergriffen. Die Strahlung im Kraftwerk und in seiner Umgebung ist stabilisiert, und die Opfer werden medizinisch versorgt.»
1600Gorbatschow trieb die Information voran, so gut er konnte. Er hatte die Bedeutung erkannt, welche die Informationsführung in der katastrophalen Lage von Tschernobyl für
1601seine Glaubwürdigkeit hatte. Der träge sowjetische Apparat leistete sich aber noch Wochen lang Verharmlosungen und Blockaden.
1602«Zum Verzehr geeignet»
1603Rund um Tschernobyl war der Boden so verseucht, dass die landwirtschaftlichen Produkte nicht mehr geniessbar waren. Das zuständige Staatskomitee teilte indessen am 8. Mai dreist mit: «Bei angemessener Veredelung können die Erzeugnisse finden Verzehr oder für Viehfütter verwendet werden. Im Augenblick bedeutet der hohe Jodgehalt fast der gesamten Milch, dass Frischmilch nicht getrunken werden
1604kann. Die Milch sollte deshalb zu Butter oder zu Käse aufbereitet werden.»
1605Bei der Schlachtung von Hornvieh und Schweinen sei darauf zu achten, dass die Tiere gewaschen und ihre Lymphknoten entfernt würden; dann sei das Fleisch zum Verzehr geeignet.
1606Funktionäre evakuiert
1607Gorbatschow mahnte die Mitglieder des Politbüros zur Ehrlichkeit: «Wir müssen ruhig und ausgewogen informieren, aber ohne Selbstgefälligkeit.» Unmut erweckte die Nachricht, dass aus der Unglücksregion zuerst nur hohe Funktionäre und deren Familien evakuiert worden waren. Langsam drang
1608durch, dass der Zivilschutz auf die Katastrophe nicht vorberei- tet gewesen war. Tschernobyl entlarvte vieles, das Gorbatschow hatte reformieren wollen: die Trägheit des Systems, die Gewohnheit, auf Befehle von oben zu warten, fehlende Vorkehrungen und Kontrollen. «Panik ist ein Luxus, den sich Untergebene leisten können, nicht jedoch das Politbüro und die Regierung», hielt Gorbatschow seinen Kollegen am 5. Mai vor. Aber Panik war genau das, was Tschernobyl in der Staats- und Parteiführung ausgelöst hatte.
1609In der Tradition der Zaren
1610Die Informationsführung der letzten Apriltage stand in der Tradition der
1611Zaren und Sowjetdiktatoren. Im internen Nachrichtenfluss gab es Verzögerungen und Beschönigungen noch und noch. Bis die oberste Führung erfuhr, was sich wirklich ereignet hatte, war es zu spät für wirksame Massnahmen. Nach aussen wurde abgewiegelt, blockiert und - zum Teil - schlicht gelogen. In einer Notiz des Politbüros heisst es, der Feind könnte Fragen stellen, die ihm ermöglichten, die Sowjetunion mit Schmutz zu bewerfen. Der Feind war die Aussenwelt - und als seine Absicht wurde angenommen, er wolle Schmutz werfen.
1612In der Tradition der Zaren, Stalins und von Tschernobyl stand, in
1613beklemmendem Ausmass, 14 Jahre nach dem atomaren GAU das Informationsverhalten in der Katastrophe der Kursk:Wieder fand die Wahrheit den Weg nach oben nur mühsam, und erneut suchten die Verantwortlichen die Öffentlichkeit tagelang hinters Licht zu führen.
1614«Sarggeld»
1615Erschütternd sind auch die Parallelen im Verhalten der oberen Führung nach den Unglücken. Die Tschernobyl-Strahlung verseuchte weite Teile der Ukraine und vor allem auch von Weissrussland. Um das Kernkraftwerk zogen die Behörden in einem Radius von 30 Kilometern die so genannte «Zone», in der kein
1616normales Leben mehr möglich war. Eine konsequente und rasche Evakuierung scheiterte aber an mangelndem Wohnraum. Für die Menschen, die im Kernkraftwerk beschäftigt waren, wurden neue Wohnungen geschaffen, aber noch immer im verseuchten Gebiet. Inzwischen erhalten sie zu ihrem Lohn einen Zuschuss, damit sie nicht verseuchte Lebensmittel kaufen können - eine Hilfe, welche die Betroffenen als «Sarggeld» bezeichnen.223
1617Gorbatschows Selbstkritik
1618Drei Jahre hielt die Sowjetführung das Ausmass des Schadens geheim. 1989 gab sie eine Karte frei, die 200'000
1619Quadratkilometer als verstrahltes Gebiet auswies. Danach lebten zu jenem Zeitpunkt 230'000 Menschen mit einer Cäsium-Belastung von mehr als 15 Curie/km2.
1620Das Tschernobyl-Unglück selbst forderte 1986 mehr Todesopfer als die zwei, die das Politbüro zuerst zugegeben hatte. Amtlich wurde die Zahl später auf 28 korrigiert. Private Quellen sprechen von mehreren hundert Opfern; allein die Zahl der Feuerwehrleute habe das Doppelte der offiziellen 28 betragen.
1621Michail Gorbatschow hielt sich nach der Katastrophe von Tschernobyl noch fünf Jahre an der Macht. 1988 schrieb er zum Verhalten der Sowjetführung in den
1622Unglückstagen: «Glauben zu wollen, wir könnten es mit Halbwahrheiten bewenden lassen, war völlig abwegig.»
1623Denn Feigheit sei unwürdige Politik.
162424 Die Kinder von Beslan
1625«Halten ehrbare Männer Kleinkinder als Geiseht fest? Lassen Sie die Kleinsten gehen, bitte.»
1626«Nein.»
1627«Lassen Sie die Frauen gehen. Sie haben dann noch genug Männer als Geiseln.»
1628«Nein.»
1629«Lassen Sie uns Wasser und Essen zu den Kindern bringen, sonst verdursten sie.»
1630«Die Kinder sind im Hungerstreik.» «Im Hungerstreik? Wie sollen Kinder in einen Hungerstreik treten? Lassen Sie mich zu den Kindern, bitte.»
1631«Nein.»
1632(Leonid Roschal in Verhandlungen mit Ruslan Chutschbarow, 3 September 2004)224
1633Am 24. August 2004 treffen in Moskau um 19.45 Uhr zwei tschetschenische Frauen auf dem Flughafen Domodedowo ein. Unter ihren schwarzen Gewändern
1634tragen sie Sprengstoffgürtel. Die beiden Tschetscheninnen werden kontrolliert und aufgehalten, doch bleiben die tödlichen Ladungen an ihren Körpern unentdeckt.225
1635Die Kontrollen bringen die Frauen in Zeitnot. Sie wollen Flüge nach Sotschi und Wolgograd buchen. Der eine Kurs geht um 21.20 Uhr, der andere fünf Minuten später. Offiziell sind beide Verbindungen ausgebucht.Aber ein Schwarzhändler ver- kauft der ersten Frau ein Ticket nach Sotschi, und auch die zweite erhält noch ein Billett nach Wolgograd, wenn auch mit einer Stunde Verspätung. Um 22.53 Uhr explodieren die Bomben in den beiden Flugzeugen,
1636die abstürzen und insgesamt 90 Passagiere in den Tod reissen.
1637Am 25.August teilt der russische Geheimdienst FSB mit, nichts deute auf Terroranschläge hin; die beiden Maschinen seien per Zufall gleichzeitig verunfallt. Am 28. August gibt die Zeitung Kommersant indessen bekannt, an beiden Wracks seien Spuren von Sprengstoff gefunden worden. So wird die Theorie widerlegt, es habe sich um Abstürze ohne Terroreinwirkung gehandelt.
1638Nur eine Woche nach den Flugzeug- Anschlägen geht in der Innenstadt von Moskau erneut eine Bombe hoch. Eine tschetschenische Suizid-Attentäterin will
1639den Sprengstoff in der Untergrundbahn zünden, gelangt aber nicht bis zu den Zügen. Darauf zieht sie die Ladung am Eingang zu einer Metro- Station ab - zehn Menschen werden getötet, mehr als fünfzig verletzt. Die Behörden informieren korrekt.
1640Überfall auf die Schule Nummer 1
1641Am Mittwoch, dem 1. September, überqueren am frühen Morgen 31 Männer und zwei Frauen die Grenze, die am Nordrand des Kaukasus-Gebirges das islamische Inguschetien vom mehrheitlich christlich-orthodoxen Nordossetien trennt. In einem Militärjeep, einem fünfsitzigen Lada-
16422110 und einem GAS-66- Armeelastwagen dringen sie in die Grenzstadt Beslan ein. Sie führen Sprengladungen, AGS-17-Granatwerfer, Stetsch- kin-Pistolen, Flammenwerfer, Scharfschützengewehre und Maschinenpistolen mit sich.226
1643Das Ziel der islamistischen Gotteskämpfer ist die Schule Nummer 1, an welcher nach den Sommerferien der Unterricht wieder beginnt. Lehrer, Eltern und Kinder begehen den ersten Schultag, den «Tag des Wissens», festlich. Um 9.08 Uhr überfallen die Terroristen die Schule. Sie nehmen weit über 1000 Geiseln und pferchen sie in der Turnhalle zusammen. In den
1644Basketballkörben, an der Sprossenwand und an Lampen montieren die Geiselnehmer mit billigem braunem Klebeband Sprengladungen. Sie verbinden die Bomben mit Drähten und verminen Türen und Fenster.
1645«Emir» Bassajew
1646Chef - oder wie er sich nennt: «Emir» - der «Märtyrerbrigade Rijad al- Salihin»227 ist der tschetschenische Terrorführer Scha- mil Bassajew. In Russland ist die Brigade gefürchtet, seit sie im Oktober 2002 im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost Geiseln nahm.Als ein russisches Sonder- Commando die Geiseln zu befreien suchte, starben 130 Theatergäste - die
1647meisten an einer Überdosis Betäubungsgas.
1648In Beslan hat Bassajew den «Obersten» Ruslan Chutsch- barow als Frontkommandanten eingesetzt. Chutschbarow führt elf Tschetschenen und zwei Tschetscheninnen, neun Inguschen, drei Russen, zwei Araber, zwei Osseten und je einen Tataren, Kabardiner und Guraner mit sich. Bassajew bleibt in Tschetschenien zurück.
1649«Werft eure Telefone weg!»
1650In der Turnhalle postieren die Geiselnehmer Bomben auch auf dem Boden. Alle Kabel laufen in einer
1651«Zentrale» am Ende des Saales zusammen, wo ein schwarz maskierter Terrorist an einem Trittschalter sitzt, mit dem er alle Sprengladungen auf einmal in die Luft jagen kann.
1652Er befiehlt den Geiseln: «Tretet nicht auf die Drähte! Werft eure Taschen und Telefone weg! Wer noch ein Mobiltelefon hat, der wird erschossen!» Darauf werfen die Geiseln den Peinigern ihre Taschen und Telefone zu. Die Terroristen treten die Telefone mit ihren Stiefeln kaputt und drohen den Geiseln mit dem Tod: «Für jedes Handy, das wir jetzt noch finden, werden wir 20 Geiseln erschiessen! Habt ihr verstanden? 20 Geiseln!»
1653Unterdessen umstellen nordossetische und russische Sicherheitskräfte die besetzte Schule. Es ist eine bunte Schar von Truppen, die aufmarschieren. Im Verlauf der ersten drei Septembertage berichten ausländische Fernsehstationen von mehreren Motorschützen- Kompanien der russischen 58. Armee, von Speznas-Verbänden, von den Sondergruppen Alpha und Wimpel des FSB-Geheimdienstes und von Omon- Einhei- ten des Innenministeriums. Zusätzlich bewaffnen sich Eltern und Angehörige von gefangenen Kindern, die mit ossetischen Territorialtruppen eine Art Bürgerwehr bilden.
1654Getrennte Stäbe
1655Die zivilen Behörden stellen einen Krisenstab auf. An der Spitze umfasst der Stab den örtlichen GeheimdienstchefWale- rij Andrejew, den nordossetischen Präsidenten Alexander Dsassochow, den Parlamentssprecher Taimuras Mamsurow und mehrere Duma- Abgeordnete. Wie das deutsche Magazin Spiegel später in einer gründlichen Recherche festhält, weiss niemand so richtig, wer das Sagen hat: «Auch weiss niemand, was konkret zu tun sei.»228
1656Der Krisenstab richtet sich an der Kominternstrasse im Rathaus ein, rund 100 Meter von der Turnhalle entfernt. Getrennt davon beziehen die Chefs der
1657bewaffneten Truppen einen eigenen Kommandoposten, zu dem die zivile Führung keine Verbindung aufbaut. Einzig der Parlamentarier Mamsurow pendelt zwischen dem Krisenstab und dem Militär-KP.
1658Um 11.30 Uhr ruft «Oberst» Chutschbarow die Ärztin Larissa Mamitowa zu sich, die mit ihrem SohnTamerlan zu den Geiseln gehört. Er gibt ihr ein Blatt Papier und einen Kugel-
1659Schreiber und diktiert ihr seine Telefonnummer. Unter dieser Nummer soll ihn die russische Regierung anrufen. Dann liest er der Ärztin seine Forderungen vor: Die beiden
1660Präsidenten von Inguschetien und von Nordossetien sollen in die Schule kommen, zusammen mit Präsident Putins Kaukasus-Berater Aslambek Aslachanow und dem Moskauer Kinderarzt Leonid Roschal, der schon im Nord-Ost-Theater mit den Geiselnehmern verhandelt hatte.
1661Kontakt am Schultor
1662Chutschbarow droht, er werde für jeden verwundeten Geiselnehmer 20 Kinder erschiessen und für jeden getöteten 50. Würde die Schule angegriffen, werde er die Turnhalle mit den Geiseln sprengen. Zudem verlangt der seltsame «Oberst» Wasser aus der inguschischen
1663Hauptstadt Nasran, «reines Wasser», wie er zu Mamitowa sagt.
1664Politische Bedingungen stellt Chutschbarow keine. Er warnt Larissa Mamitowa, sie solle nur die Botschaft überbringen und sonst nichts sagen. Sollte sie zu fliehen versuchen, werde ihr Sohn auf der Stelle erschossen. Mamitowa begibt sich, bewacht von einem Scharfschützen, zum Schultor an der Kominternstrasse, wo sie einem jungen Mann Chutschbarows Forderungen übergibt. Sie flüstert dem Empfänger zu, in der Halle befänden sich über 1000 Geiseln, die Turnhalle sei vermint und dürfe nicht gestürmt werden.
1665Zu tiefe Geiselzahl
1666In einer ersten Verlautbarung berichten die nordossetischen Behörden von 354 Geiseln. Früh wird aber bekannt, dass diese Zahl völlig falsch ist. Am Morgen fanden sich zum ersten Unterrichtstag 890 Schüler ein, zusammen mit 59 Lehrern. Festgehalten werden überdies zahlreiche Eltern, sodass die Geiselzahl deutlich über 1000 liegen muss. In der Komintern-
1667Strasse mutmassen Angehörige der Geiseln, die Behörden hielten die Zahl tief, damit sie ihre Angaben nach einem Sturm auf die Schule nach unten manipulieren könnten. Selbst die Geiselnehmer protestieren, als sie über
1668ihre Radio-Empfänger die falschen Angaben hören. Später wird die Zahl anhand von Klassenbüchern und Familienlisten auf rund 1350 Geiseln angesetzt - 1000 über der Aussage im ersten Bulletin.
1669Durst und Hitze
1670Am Donnerstag, dem 2. September, herrschen in der Turnhalle katastrophale Zustände. Es ist heiss, und Schüler, Eltern und Lehrer drohen zu verdursten. Vergeblich bittet Leonid Roschal die Terroristen, sie sollten den Kindern Wasser zu trinken geben. Roschal sucht die Not der Geiseln in telefonischer Verhandlung zu lindern, aber ohne
1671Erfolg.
1672Die drei anderen von Chutschbarow genannten Unterhändler treten nicht an. Dafür schalten sich zwei prominente Inguschen ein: Michail Guzerijew, der Direktor des Erdölkonzerns Russneft, und Ruslan Auschew, der frühere Präsident von Inguschetien. Guzerijew berichtet von vier politischen Forderungen der Geiselnehmer, die der «Emir» Schamil Bassajew gestellt habe:
1673Erstens müsse Präsident Wladimir Putin den Krieg in Tschetschenien beenden.
1674Zweitens müsse Tschetschenien sofort die Unabhängigkeit erlangen.
1675Drittens müsse die GUS, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten,Tschetschenien als Mitglied aufnehmen.
1676Und viertens müsse eine Blauhelm- Truppe der Vereinten Nationen Tschetscheniens Unabhängigkeit schützen.
1677Guzerijews Aussage wird allerdings von keiner zweiten Quelle bestätigt.Von Bassajew wird nur die Botschaft bekannt: «Im Namen Allahs des Allmächtigen erkläre ich, Abdallah Scha- mil Abu-Idris, Emir der Islamischen Märtyrerbrigade Rijad al- Salahin: Wir werden eure Häuser, Schiffe, Flugzeuge sprengen, wir werden
1678euch in den Strassen eurer gottlosen Städte töten, weil derTod von wollüstigen und widerlichen Ungläubigen die Gnade Allahs findet. Der Weg des Heiligen Krieges ist der Weg der wahren Muslime. Allahu akbar,Allah ist gross!»
1679Konkrete politische Bedingungen stellt aber auch Bas- sajew nicht. Es scheint vielmehr, dass die Märtyrerbrigade keine klar formulierte strategische Ziele verfolgt, sondern einfach den Terror und das Chaos in das überwiegend christliche Nordossetien hineintragen will. Seit Jahrhunderten ist die Republik Nordossetien dem Regime in Moskau treu; jetzt will Bassajew die
1680Nordosseten in den Krieg am Kaukasus zwingen, ohne dass er handfeste Forderungen erhebt, wie sie der russische Rückzug aus Tschetschenien eine wäre.
1681«Wir sprengen»
1682Am 3. September gerät die Situation für die Terroristen und die Truppen rund um die Turnhalle ausser Kontrolle. Seit zwei Tagen liegen im Schulhof mehrere Leichen. Die Geiselnehmer haben eingewilligt, dass die Leichen um 13 Uhr geborgen werden. Als die Bergungsequipe um 13.01 Uhr in den Hof fährt, erfolgt in der Turnhalle eine gewaltige Explosion.
1683Noch einmal ruft Guzerijew die Terroristen an. «Was habt ihr getan?», schreit er ins Telefon. Aber es ist zu spät. Eine zweite schwere Detonation erschüttert die Schule, Gewehrfeuer bricht aus. «Ihr habt uns belogen», antwortet ein Geiselnehmer. «Nein, wir stürmen nicht», ruft GuzerijewAber der Terrorist sagt nur noch: «Das war's.Wir sprengen.»
1684Das Chaos bricht aus. Die beiden Explosionen töten Dutzende Geiseln. Nach der zweiten fliehen Eltern, Kinder und Lehrer durch die eingeschlagenen Fenster ins Freie. Zwischen den Terroristen und den Sicherheitskräften kommt es zu einem Gefecht, in dessen
1685Verlauf viele Kinder getötet werden. Es sind nicht nur die Schüsse der Terroristen, denen die fliehenden Schüler zum Opfer fallen. Sie geraten ins unkontrollierte Kreuzfeuer beider Parteien - selbst die Heimwehren tragen das Ihre zum Blutbad bei.
1686Sogar die russischen Elitetruppen gehen unkoordiniert vor. Für einen geplanten Angriff mit Ablenkungs- und Täuschungsmanövern, für eine Erfolg versprechende Attacke von mehreren Seiten ist es zu spät. Die Sondertruppen erleiden hohe Verluste, die regulären Einheiten knallen wild drauf los. Über der Turnhalle bricht die Decke ein; sie begräbt noch einmal Dutzende von
1687Opfern.
1688Wilde Gerüchte
1689Erst am Abend kehrt in der Schule Nummer 1 gespenstische Ruhe ein. Von den Geiselnehmern hat nur ein einziger überlebt, alle anderen sind tot. 330 Geiseln liessen ihr Leben, darunter 176 Kinder. Noch einmal 600 Gefangene, darunter wieder viele Schüler, sind verletzt, viele zum Teil schwer mit bleibenden Schäden. Der Name von Beslan, des vormals idyllischen Städtchens am Kaukasus-Hauptkamm, wird zum Synonym von Trauer, Chaos, Katastrophe.
1690Sofort kursieren in der Heerschar von
1691Reportern wilde Gerüchte. Die Terroristen hätten die Leichen im Schulhof mit Sprengstoff geladen, der dann während der Bergeaktion hoch gegangen sei. Oder der russische Geheimdienst habe die Explosion inszeniert, um die Turnhalle zu stürmen. Oder die Terroristen hätten am dritten Tag die Nerven verloren und die Schiesserei mutwillig eröffnet.
1692Wie sich später herausstellte, waren die Gerüchte alle falsch. In Tat und Wahrheit hatte sich an der Turnhallendecke eine Bombe gelöst. Die schweren Sprengladungen waren mit dem schäbigen Klebeband nur notdürftig befestigt gewesen.
1693Weshalb die Bombe explodierte, wird abschliessend wohl nur schwer zu ermitteln sein: Löste die Hitze den Klebstreifen? Ging eine Halterung auf? Schloss ein Terrorist aus Versehen einen Kontakt? Oder ging einer der vielen Warnschüsse der Geiselnehmer fehl?
1694Putin wehrt sich
1695Wie dem auch sei - die Spekulationen schiessen üppig ins Kraut. Zur Zielscheibe der Vorwürfe wird Wladimir Putin. Ihm halten die Kritiker vor, er hätte die Kinder durch Nachgeben retten können.Aber insgesamt zielen Putins Gegner zu kurz. So chaotisch die Sicherheitskräfte vorgingen, so schlecht koordiniert der
1696Krisenstab und die Bewaffneten arbeiteten, so schleppend die Information spielte - den Vorwurf, er hätte den Tod der Geiseln auf dem Gewissen, kann Putin entkräften.
1697Im Brennpunkt der Anschuldigungen steht die Behauptung, die Geiselnehmer hätten konkrete politische Forderungen gestellt. Mit Ausnahme Guzerijews, der vier Bedingungen gehört haben will, dementieren alle Beteiligten, dass die Terroristen den russischen Rückzug aus Tschetschenien gefordert hätten.Auch Nur-Paschi Kulajew, der einzige überlebende Geiselnehmer, stellt heftig in Abrede, dass es der Märtyrerbrigade um Tschetscheniens Unabhängigkeit
1698gegangen sei. Das Ziel der Aktion habe gelautet, zwischen Inguschetien und Nordos- setien einen Krieg anzuzetteln.
1699Putin führt überdies an, mit Terroristen werde nicht verhandelt; wer sich mit Geiselnehmern auf politische Verhandlungen einlasse, der gebe sich selber auf.
1700Schlecht verläuft die Information erneut, was die Zahl der Verwundeten und der Toten betrifft. Wieder liegen die amtlichen Angaben viel zu tief. Aslambek Aslachanow, Putins Beauftragter am Ort des Geschehens, lässt verlauten, in den Spitälern von Beslan und der nahen Stadt Wladikawkas lägen 346 Verletzte. In
1701Wirklichkeit waren es rund 600. Damit war endgültig auch die Behauptung vom Mittwoch widerlegt, die Zahl der Geiseln betrage 354. Erst recht schummelte Asla- chanow, als er die Zahl der toten Geiseln mit 150 angab. In Tat und Wahrheit wusste der Krisenstab am 3. September schon am Abend, dass das Chaos von 13 Uhr mehr als 300 Kindern, Eltern und Lehrer das Leben gekostet hatte.
1702Nur zwei Araber
1703Als Propaganda erwies sich sodann das Gerücht, es seien arabische Terroristen gewesen, welche die Schule überfallen hätten. Der russische Geheimdienst
1704identifizierte die toten Geiselnehmer. Von den insgesamt 33 beteiligten Mitgliedern der Märtyrerbrigade waren nur zwei Araber: beide Mitläufer, nicht Hauptakteure. Angeführt wurde die blutige Operation von Tschetschenen.
1705Insgesamt bereitete Beslan der russischen Führung einen empfindlichen Rückschlag. Dem «Emir» Bassajew war es gelungen, Dutzende von Fernsehequipen und Pressereporten in den Kaukasus zu locken. Wieder sprach die Welt von Tschetschenien und dem dort andauernden Krieg zwischen Russland und den Aufständischen. Aber zur politischen und psychologischen Katastrophe geriet das Drama in der
1706Schule Nummer 1 für Präsident Putin nicht, so tragisch es endete.
1707Insofern unterscheidet sich Beslan von Tschernobyl und der Tragödie der Kursk.
1708
1709 30. Juli 2000: Das russische U-Boot Kursk mit seiner Besatzung an einer Flottenparade 25 Kilomter nördlich von Murmansk.
171024.August 2000:Trauerfeier an Bord des Spitalschiffes Svir. Angehörige gedenken der toten Seeleute.
1711
1712 1. September 2004: Auf dem Boden derTurnhalle von Beslan montiert ein Terrorist eine Sprengladung.
1713
1714 3. September 2004: Russische Scharfschützen während des blutigen Gefechts um die Turnhalle von Beslan.
17153. September 2004: Soldaten tragen eine verwundete Frau aus der befreiten Turnhalle.
1716
1717 Ein russischer Soldat birgt einen Säugling, hinter ihm eine Mutter mit ihrem Kind.
1718Mai 1986: Der zerstörte Reaktorblock im Kernkraftwerk von Tschernobyl (nach der Katastrophe vom 26.April 1986).
1719Fazit in zehn Thesen «Worte sind die mächtigste Droge überhaupt, welche die Menschheit benutzt.»2*' (Rudyard Kipling)
1720«Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenivürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.»230 (Deutscher Pressekodex, 17. Mai 2000)
1721«Behördliche Information muss transparent, wahr und verständlich sein.»231 (Annemarie Huber-Hotz, 14. Mai 2001)
1722«Wenn Sie den Leuten nicht die Wahrheit sagen, verlieren Sie ihr Vertrauen. Und mit dem Vertrauen verlieren Sie die Menschen. Und wenn sie die Menschen verlieren, dann verlieren Sie den Krieg.»232 (Nachman Schai, 4. November 1992)
1723Das vorliegende Buch handelt von Information in ausserordentlichen Lagen. In allen Kapiteln bilden Krisen und Kriege den Hintergrund, und in allen Begebenheiten brannten in den Medien und bei den Mächtigen Sicherungen durch. Das Buch mag den Eindruck erwecken,Täuschung,Trug, Desinformation und Psychoterror seien überall an der Tagesordnung.
1724Dem ist selbstverständlich nicht so. Staaten, Armeen und Parteien können und wollen nicht dauernd lügen. Sie können und wollen nicht unablässig täuschen. Irgendwann fliegen faule Manöver auf: «Truth will out», wie es in der angelsächsischen Staatslehre heisst. In der Regel informieren Regierungen, Generalstäbe und politische Parteien korrekt. Lug und Trug als Informationsprinzip können sie sich gar nicht leisten. Aber es kommt vor, dass ihre Informationsführung ausser Rand und Band gerät, dass sie sich im Dickicht der Unwahrheiten verstricken und dass sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren.
1725Wenn im Folgenden versucht wird, die Essenz des Buches in zehn Thesen zusammenzufassen, dann sei angemerkt, dass diese nicht vollständig, nicht abschliessend sein können. Die Information in ausserordentlichen Lagen beruht nicht auf einer kohärenten Denkschule; sie ist volatil, der Aktualität und manchmal auch dem Zeitgeist unterworfen.
1726These 1: Der Wahrheit verpflichtet
1727Die Tagesmedien Presse, Radio und Fernsehen arbeiten unter Konkurrenzdruck. Der Kampf um Quoten und Auflagen kennzeichnet ihr Handwerk. Der Zeitdruck ist gross, und stets aufs Neue jagen Korrespondenten
1728und Redaktoren dem scoop, dem primeur nach, der dem Medium im Wettbewerb wieder einen Vorsprang verschafft - oder zu verschaffen scheint.
1729Dennoch sind die Medien strengen Regeln verpflichtet. «Die Journalistinnen und Journalisten halten sich an die Wahrheit», heisst es im Kodex der Schweizer Presse. «Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse», postuliert ähnlich der deutsche Kodex.
1730Gleiches gilt für das Verhalten von Regierungen und Amtsstellen:
1731«Behördliche Information muss transparent, wahr und verständlich sein», schreibt Annemarie Huber-Hotz, die Bundeskanzlerin233 der Schweiz. Nachman Schai, der israelische Brigadegeneral, der sich während des Golfkrieges 1991 das Vertrauen der Bevölkerung erwarb, verlangt, dass Staaten zur Wahrheit stehen: «In der heutigen Zeit gehen Informationen in kürzester Zeit rund um den Globus. Es ist unmöglich, die Öffentlichkeit zu täuschen. Das funktioniert nicht mehr. Wenn Sie den Leuten nicht die Wahrheit sagen, verlieren sie ihr Vertrauen. Und damit verlieren Sie die Menschen. Und wenn Sie die Menschen verlieren, dann verlieren Sie den Krieg».
1732These 2: Absolute Wahrheit gibt es nicht
1733Nach Lessings Gleichnis von den zwei Kugeln können die Menschen die absolute, die reine Wahrheit nicht besitzen. Nur Eiferer glauben die ganze Wahrheit zu kennen. Was Zeloten und Fundamentalisten bewirken können, zeigen die Kriege des 20. Jahrhunderts; und im neuen Saeculum nimmt der Schrecken, den die Fanatiker verbreiten, an Schärfe noch zu.
1734Aber suchen können aufgeklärte Menschen die Wahrheit mit aller Kraft. Es gibt in der Arbeit der Korrespondenten und Redaktoren, aber auch für die Informationsführung in Krise und Krieg ethische Regeln. Der
1735sorgfältige Umgang mit den Quellen und die Präzision und Angemessenheit des Ausdrucks gehören zum Handwerk. Der sachliche Einsatz von Sprache und Bild, das Verifizieren und Bezeichnen unsicherer Nachrichten und die Pflicht, die Empfänger gerade und verständlich anzusprechen, besitzen Gewicht nicht nur im cou- rant normal.23*
1736These 3: Im Krieg ist die Wahrheit gefährdet
1737Kriege wühlen die Menschen auf wie sonst nur Naturkatastrophen. Wenn ein bewaffneter Konflikt ausbricht, wollen die Leser, die Zuhörer und Zuschauer sofort alles genau wissen, und die
1738meisten nehmen Partei.
1739Mehr Leute kaufen die Zeitung, viele harren vor dem Bildschirm aus, bis sie das letzte Detail gesehen haben. Emotionale Reaktionen zwingen die Medien, über Kriege intensiv zu berichten. Kein Medium kann es sich leisten, einen Krieg zu verpassen.Aber nicht alle Medien sind der Aufgabe gewachsen. In vielen Redaktionen besteht ein empfindliches Defizit, was Kenntnisse in Militärfragen angeht. Es gibt Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Doch manchenorts fehlen Redaktoren, die sich mit Armeefragen gründlich befassen; und die sachbezogene Ausbildung fehlt bei den
1740meisten Medien.
1741Wenn nach Ausbruch der Kampfhandlungen die ersten Nachrichten einlaufen und frühe Bilder den Schrecken des Krieges erahnen lassen, dann haben Agitatoren und PR-Spezia- listen leichtes Spiel. Dann verschmilzt das verbreitete Nichtwissen mit der ebenso verbreiteten Betroffenheit zu einem Journalismus, der für jedes Gerücht, für jede Gräuelmeldung höchst empfänglich ist - und seien die Horrorgeschichten noch so an den Haaren herbeigezogen.
1742These 4: Terror nutzt Medien
1743Breiten Raum finden in den Medien
1744Terroranschläge. Terror ist dramatisch und kann jeden treffen. Terror kommt überraschend, sozusagen aus heiterem Himmel.Terror stellt das Alltagsgeschehen und die gültige Wertordnung in Frage. Der moderne Terror ist so alt wie die Massenpresse.235
1745Der Gelehrte Walter Laqueur bezeichnet die Medien als die besten Freunde der Terroristen. Bekannt ist auch Margaret Thatchers Bemerkung, die Medien lieferten den Terroristen den Sauerstoff, ohne den sie nicht leben könnten. Professor Peter Waldmann spricht von einer symbiotischen Beziehung zwischen Terror und Boulevardpresse.
1746Der Wissenschafter Robert Picard erhebt gegenüber Presse,Radio und Fernsehen fünfVorwürfe: «Erstens liefern die Medien den Terroristen Informationen, die diese missbrauchen. Zweitens werden die Medien vom blossen Beobachter zur Partei, die in das Geschehen eingreift: Medien gefährden
1747Geiseln und üben Druck auf Regierungen aus. Drittens räumen die Medien den Terroristen einen zentralen Platz in ihrer Berichterstattung ein; sie verleihen ihnen Status und Prestige und legitimieren ihre Anliegen. Viertens machen erst die Medien den Terror gross, weil sie ihm zu viel Aufmerksamkeit zollen. Und fünftens werden die Medien zum
1748Werkzeug des Terrors, indem sie Furcht und Schrecken verbreiten.»236
1749These 5: Geheimdienste haben es schwer
1750Schwer tun sich im Umkreis der Medien in aller Regel die Nachrichtendienste. Ihre Arbeit spielt sich im Verborgenen ab. Werden ihre Quellen, Meldewege, Bewertungen und Produkte öffentlich bekannt, erleiden sie Schaden. Nichts fürchten Geheimdienste so sehr wie Pannen und Indiskretionen. Rinnt ein Dienst, wird er von den Partnern geächtet.
1751Reisst der Schleier einmal auf, machen die Regierungen in aller Regel die
1752Dienste für Fehler verantwortlich. Kommt es zu einem Skandal oder fordert eine Aktion Opfer - die Schuld trägt stets der Dienst. Und in den meisten Fällen kann er sich öffentlich nicht wehren: Er ist von seinem Wesen her zur Geheimhaltung verpflichtet. Er kann Meldungen weder bestätigen noch dementieren; denn auch das liefert dem Gegner wieder Anhaltspunkte. Überdies wissen die wenigsten Journalisten, wie ein Nachrichtendienst funktioniert.
1753These 6: Medienopfer sind machtlos
1754Ob sie es wahrhaben wollen oder nicht - die Medien üben Macht aus. Wenn zwei, drei Skandalierer ein Opfer jagen, dann ist ihnen das Opfer meist schutzlos
1755ausgesetzt. «Es ist wie eine Schlammlawine, die auf einen zukommt, die einen selber erstickt und die Familie; und machen kann man dagegen nichts», klagte Lothar Späth, der selber das Opfer einer Skandalierung war. Wenn die Skandalierer die Fährte einmal aufgenommen haben, kann sich das Opfer fast nicht mehr wehren. In den Redaktionen brennen die Sicherungen durch, und der Herdentrieb vieler Journalisten lässt die Kampagne anschwellen. Wenig Schutz bietet dem Opfer das zivile Recht. Gegendarstellungen kommen in aller Regel zu spät. Und selbst wenn das Opfer eine Redaktion dazu bringt, dass diese seine Darstellung veröffentlicht,
1756dann behält die alte römische Weisheit Geltung: Semper aliquid haeret, etwas bleibt immer hängen.
1757These 7: Auf dem linken Auge blind
1758Wie Hans Mathias Kepplinger für Deutschland nachgewiesen hat, gehen Skandalierungen in der Regel von linken Medien aus - und sie treffen ebenso regelhaft meist bürgerliche Anliegen oder bürgerliche Politiker. Eindrücklich ist die Liste der deutschen Politiker, die ins Visier der Skandalierer gerieten: Franz Josef Strauss (CSU), Helmut Kohl (CDU), Kurt Biedenkopf (CDU), Heinrich Liibke (CDU), Lothar Späth (CDU) und Max Streibl (CSU). Die Parteizugehörigkeiten sagen alles.
1759Umgekehrt überstanden Politiker wie Manfred Stolpe (SPD), Joschka Fischer (Grüne Partei) und Johannes Rau (SPD) Ansätze zur Skandalierung unbeschadet.
1760In der Schweiz ist es wohl kein Zufall, dass in den letzten Jahren die prominentesten Opfer von Skandalierungen alle einer bürgerlichen Partei angehörten oder ihr nahe standen: Ihre Posten verloren 1997 Botschafter Carlo Jagmetti, 1999 Di- visionär Peter Regli und 2002 Botschafter Thomas Borer.
1761Auffällige Gemeinsamkeiten verbinden die drei Fälle: Jagmetti, Regli und Borer sind allesamt Männer, die dem Lande
1762aufrichtig gedient hatten.Alle drei wurden später rehabilitiert. In allen drei Fällen stellte sich heraus, dass sie den Medienkampagnen unschuldig zum Opfer gefallen waren. Und von allen dreien war bekannt, wo sie politisch standen, nämlich im bürgerlichen Lager.
1763Umgekehrt werden prominente Mitglieder des linken Lagers in der Regel mit Samthandschuhen angefasst. Als in Basel der Grosse Rat nach einer Spenden-Affäre die sozialdemokratische Ständerätin Anita Fetz nicht mehr in den Bankrat der dortigen Kantonalbank wählte, sprachen mehrere Zeitungen von einer «Hexenjagd»237.
1764Und ebenso wenig dürfte es ein Zufall
1765sein, dass im Brennpunkt der Skandalierungen immer wieder Institutionen standen, die den linksgerichteten Medien ein Dorn im Auge sind: die Banken, die Armee, der Nachrichtendienst. Zweimal suchten die Skandalierer das Verhältnis der Schweiz zu Südafrika hochzuspielen, beide Male mit mässigem Erfolg.Weshalb aber wurden die Wallfahrten nie zum Thema, die rot-grüne Politiker noch 1988/89 in die DDR oder zum rumänischen Diktator Nicolae Ceaucescu unternommen hatten - nur Monate, bevor die Unrechtregimes zusammenkrachten?
1766These 8: Festigkeit ist gefragt
1767Skandalierungen gehorchen eigenen Gesetzen. Sie schwellen an, kulminieren in überhitzter Empörung und klingen wieder ab. Nach dem Abklingen geht die Öffentlichkeit zur Tagesordnung über, und kritische Fragen zur Rolle der Skandalierer werden achselzuckend mit den Argumenten abgetan, Medien seien nun mal Medien und Skandale Skandale. Jedes Volk habe die Medien, die es verdiene, und mit Journalisten prügle man sich nicht. Papier nehme alles an, und morgen komme ja die neue Nummer.
1768Wer so argumentiert, unterschätzt eine Wirkung der Skandalierungen. Immer wieder kommt es vor, dass die Skandalierer Unschuldige abschiessen,
1769ohne dass deren vorgesetzte Stellen die Angegriffenen schützen. Es ereignete sich auch in der Schweiz, dass die politische Führung unter dem Druck von Medienkampagnen in Deckung ging und Männer fallen liess, die den Schutz ihrer Vorgesetzten verdient hätten. Das wahre Problem sind nicht nur die Skandalierungen Unschuldiger; ein erhebliches staatsbürgerliches Problem kann auch in der schwankenden, unentschlossenen Haltung der politischen Führung liegen.
1770Wenn sich die oberste Führung ihr Handeln von Medien aufzwingen lässt, wenn sie Persönlichkeiten, die dem Land gedient hatten, gegen Kampagnen nicht
1771mehr schützt, wenn ihr am Lob der Boulevardpresse mehr liegt als an der Loyalität zu ihren Untergebenen - dann verleiht das den Skandalierern zu viel Macht, und es sendet negative Signale aus, die letztlich auch dem Ansehen der Führung und dem Zusammenhalt in der von ihr geführten Gemeinschaft nachhaltig schaden.
1772Bedenklich kann auch die Rolle der Informationsapparate sein, deren Pflicht es wäre, Amtsträger vor Schaden zu bewahren statt sie ins Messer laufen zu lassen. Im Fall Borer bewertet selbst die parlamentarische Untersuchung das Verhalten des damaligen EDA- Pressechefs238 Ruedi Christen kritisch,
1773und Peter Regli erhebt gegenüber dem seinerzeitigen VBS- Informationchef239 Oswald Sigg schwere Vorwürfe, was dessen Rolle in der Bellasi- und der Südafrika-Affäre betrifft.240
1774These 9: Recht und Ethos
1775Die Medienmacht kann grundsätzlich durch Ethik und Recht eingegrenzt werden. Das bestehende Recht greift in ausser- gewöhnlichen Fällen zu kurz. Den Opfern von Skandalierungen fehlt derzeit das Recht zur Berufung. Erwogen wird generell ein schärferes Recht, das über die Gegendarstellung hinausgeht und die Kausalhaftung auch der Medien verstärkt. Im Gespräch ist eine Produktehaftung, die mit spürbaren
1776Genug- tuungs- und Schadenersatzforderungen verbunden wäre. Ins Auge gefasst wird ebenso ein verbesserter Schutz der Privatsphäre der Individuen.
1777Anderseits gehört die Medienfreiheit zu den Grundpfeilern der Demokratie. Diese Staatsform braucht freie Medien. Richtig verstanden erfüllen Presse, Radio und Fernsehen vier Aufgaben: die Informations-, die Wahrheits-, die Wächter- und die Forumsfunktion.241 Erfüllen sie diese Funktionen gelassen, spielt das System von Freiheit und Kontrollen, funktioniert der Wettbewerb und nehmen Verleger und Redaktionen ihre Verantwortung wahr, dann können
1778Missstände auch dank Berufsethos und fairer Grundhaltung vermieden werden.
1779These 10: Der Bürger ist mündig
1780Larry Heinzerling, der erfahrene Chef bei Associated Press, sieht heute in den Manipulationen der Mächtigen und den Fehlern der Medien eine Gefährdung der Demokratie .Würden Lug und Trug, Täuschung und Desinformation zur Regel, dann bekäme er Recht.
1781Der beste Schutz für die Demokratie ist der mündige Bürger. Wo die Leser, Zuhörer und Zuschauer den Medien und den Mächtigen kritisch gegenübertreten, da laufen die Manipulatoren ins Leere.
1782Noch einmal: Es ist unbestritten, dass Regierungen und Armeen, Korrespondenten und Redaktoren in der Mehrheit sachlich und aktuell, korrekt und wahrhaftig informieren. Wo sie es nicht tun, wo die Sicherungen durchbrennen, wo Menschen zu Unrecht an den Pranger gestellt und Wahrheiten verdreht werden, da ist der aufgeklärte Bürger gefordert. Ihm wird zugetraut, dass er Lug und Trug erkennt.
1783Wenn das vorliegende Buch dazu einen kleinen Beitrag leistet, dann erfüllt es seinen Zweck.
1784 Glossar Aman
1785Agaf Modein. Militärische(r) Nachrichten(dienst). Geheimdienst der israelischen Armee.
1786BKA
1787Bundeskriminalamt. Deutsche kriminalpolizeiliche Bundesbehörde. BND
1788Bundesnachrichtendienst. Deutscher Ausland-Nachrichtendienst. CIA
1789Central Intelligence Agency. Amerikanischer Ausland-Geheimdienst.
1790Beschafft Nachrichten, führt verdeckte Operationen durch.
1791CJOC
1792Combined Joint Operations Center. Operationszentrale für Land-, See- und Luftstreitkräfte aus mehreren Nationen.
1793Coast
1794Codewort für ein geheimes südafrikanisches B- und C-Waffen-Pro- gramm zur Zeit der Apartheid.
1795Commando Solo
1796Amerikanischer Codename für die EC- 130E-Flugzeuge, die als
1797Sendeplattformen für Radio undTelevision dienen.
1798DAP
1799Dienst für Analyse und Prävention (Schweiz). Der DAP erfüllt die Funktion des Inlandnachrichtendienstes und dient dem präventiven Staatsschutz. Analyse- und Lage-Instrument des Bundes im inneren Bereich.
1800DGSE
1801Direction Générale de la Sécurité Extérieure. Generaldirektion für äussere Sicherheit. Französischer Ausland- Nachrichtendienst.
1802DIA
1803Defense Intelligence Agency. Nachrichtendienst der amerikanischen Streitkräfte.
1804DIS
1805Defence Intelligence Staff. Führt und koordiniert im britischen Verteidigungsministerium die operativen Nachrichtendienste.
1806DPSD
1807Direction de la Protection et de la Sécurité de la Défense. Direktion für Schutz und Sicherheit der Verteidigung. Französischer militärischer Ab
1808Wehrdienst.
1809DRM
1810Direction du Renseignement Militaire. Direktion für militärischen Nachrichtendienst. Französischer strategisch-operativer Geheimdienst.
1811DST
1812Direction de la Sécurité du Territoire. Direktion der Landessicherheit. Französischer polizeilicher Inland- Geheimdienst.
1813Embedding
1814Das «Einbetten» von
1815Kriegsberichterstattern bei den amerikanischen und britischen Kampfverbänden.
1816Enduring Freedom
1817Codename für die amerikanische Afghanistan-Operation im Jahr 2001.
1818FBI
1819Fédéral Bureau of Investigations. Amerikanische Bundes-Polizeiorga- nisation. Zuständig für das Inland.
1820GCHQ
1821Government Communications Headquarters. Zentrale britische
1822Behörde für Kryptologie und Überwachung derTelekommunikation. Die ursprüngliche Bezeichnung lautete Government Code and Cy- pher School (GCCS).
1823INR
1824Bureau of Intelligence and Research. Nachrichtendienst des amerikanischen Aussenministeriums.
1825Iraqi Freedom
1826Amerikanischer Codename für den Irak- Feldzug im Jahr 2003. JIC
1827Joint Intelligence Committee. Britische Einrichtung, welche die britischen
1828Nachrichtendienste koordiniert.
1829JOC
1830Joint Operations Center. In den amerikanischen und britischen Streitkräften Operationszentrale für Land-, See- und Luftverbände.
1831LFB
1832Lage- und Früherkennungsbiiro (Schweiz). Wird vom Nachrichten- Koordinator geführt, verfolgt in erster Priorität sicherheitspolitische Aspekte in den Bereichen Aussenpolitik, Sicherheitspolitik, Staatsschutz und Polizei sowie Flüchtlings- und Ausländerwesen.
1833LWND
1834Luftwaffen-Nachrichtendienst (Schweiz). Der LWND stellt die Informationen sicher, die für den Einsatz der Fliegertruppe nötig sind.
1835MI5
1836Military Intelligence Nr. 5. Britischer Inland-Nachrichtendienst, jetzt Security Service (SS).
1837MI6
1838Military Intelligence Nr. 6. Britischer Ausland-Nachrichtendienst, jetzt Secret Intelligence Service (SIS).
1839MSSSD
1840Militärischer Nachrichtendienst (Schweiz). Der MND ist im Gegensatz zum Strategischen Nachrichtendienst (SND) auf operativer und taktischer Stufe tätig. Sein Fachgebiet sind Informationen, die im engeren Interessenfeld der Armee bedeutsam sind.
1841Mossad]
1842Ha Mossad le Modein veleTafkidim Mejuchadim. Zentrales Institut für Nachrichten und Spezialaktivitäten. Israelischer Ausland-Geheim- dienst.
1843NSA
1844National Security Agency. Amerikanische Geheimdienstbehörde, zuständig für Kryptographie. Zentrale Abhör- und Entschlüsselungsagentur.
1845OSI
1846Office of Strategie Influence. Im Jahr 2002 in Washington eingerichtete Amtsstelle zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Nach Bericht in der New York Times aufgelöst.
1847OSP
1848Office of Special Plans. Im Jahr 2002 eingerichteter spezieller Nachrichtendienst im amerikanischen Verteidigungsministerium.
1849PNAC
1850Project for the New American Century.Amerikanischer konservativer ThinkTank.
1851POG
1852Psychological Operations Group. Die amerikanischen Streitkräfte verfügen über drei Psychological Operations Groups, je in Brigadestärke: die 4,h POG (Airborne), die 2nd POG und die 7,h POG.
1853Schabak
1854Scherut Ha Bitachon Ha Klali. Allgemeiner Sicherheitsdienst.
1855Israelischer Inland-Geheimdienst. Oft auch Schin Bet genannt.
1856SND
1857Strategischer Nachrichtendienst (Schweiz). Der SND ist verantwortlich für die Auslandaufklärung. Er beschafft für den Bundesrat und die Armeeführung Informationen, die für die Sicherheit des Landes von Bedeutung sind.
1858Telic
1859Britischer Codename für den Irak- Feldzug im Jahr 2003. TOC
1860Tactical Operations Center. In den amerikanischen und britischen
1861Streitkräften Taktische Operationszentrale.
1862Unilateral
1863Amerikanisch-britische Bezeichnung für freie, nicht eingebettete Berichterstatter.